Redner(in): Monika Grütters
Datum: 27. Juni 2014

Untertitel: Bei der Festveranstaltung zum 50jährigen Bestehen des Verlages Klaus Wagenbach würdigt Kulturstaatsministerin Monika Grütters den Verleger für sein publizistisches Engagement und betont die Rolle von Schriftstellern als Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft. In ihrer Rede bekennt sie sich erneut zur Beibehaltung der Buchpreisbindung.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2014/06/2014-06-28-gruetters-wagenbach.html


Bei der Festveranstaltung zum 50jährigen Bestehen des Verlages Klaus Wagenbach würdigt Kulturstaatsministerin Monika Grütters den Verleger für sein publizistisches Engagement und betont die Rolle von Schriftstellern als Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft. In ihrer Rede bekennt sie sich erneut zur Beibehaltung der Buchpreisbindung.

Anrede,

Es kommt gewiss nicht alle Tage vor, dass ausgerechnet eine CDU-Politikerin die Festrede zum Jubiläum eines Verlags hält, der von der FAZ einst mit dem Etikett "verlegerische Speerspitze der Linken" versehen wurde und zu dessen Gründer - seines Zeichens meist angeklagter Verleger Deutschlands - speziell die Innenpolitiker ein, nun ja: sagen wir, ambivalentes Verhältnis haben.

Ich habe Ihre freundliche Einladung jedenfalls mit großer Freude angenommen, liebe Frau Dr. Schüssler, lieber Herr Dr. Wagenbach, und das nicht nur, weil ich als Literaturwissenschaftlerin, leidenschaftliche Literaturliebhaberin und damit selbstverständlich auch "wilde Leserin" eine ansehnliche Reihe von Wagenbach-Büchern sowohl sehr dekorativ im Regal stehen als auch mit Genuss gelesen habe. Von der Liebe zur Literatur, die uns alle hier verbindet, einmal abgesehen, ist es mir auch als Kulturpolitikerin ein Bedürfnis, Ihnen herzlich zum 50jährigen Verlagsjubiläum zu gratulieren.

Denn das, was Wagenbach in den letzten fünf Jahrzehnten so markant und unverkennbar gemacht hat, ist etwas, was man der Literatur, ja der Kunst insgesamt nur wünschen kann, nämlich kompromissloses Handeln nach den eigenen Überzeugungen und eine sorgsam gehütete, oft geradezu verwegen scheinende Unabhängigkeit. Nicht umsonst ist der Wagenbach-Verlag das einzige Unternehmen, das ich kenne, das man zum Jubiläum explizit und zuallererst dazu beglückwünschen muss, nicht pleite gegangen zu sein! Überzeugungstäter im Wandel der Zeiten "haben Sie Ihre Verlagsgeschichte auf der Website passend dazu überschrieben. Wenn man - wie die von Klaus Wagenbach gelegentlich geschmähten" Bürostuhlgermanisten "es üblicherweise tun - den" roten Faden " in dieser Geschichte freilegen wollte, müsste man nicht lange suchen. Rot ist bei Wagenbach ja eine ganze Menge, angefangen von der politischen Gesinnung über das Leinen der erfolgreichen SALTO-Reihe bis hin zu den Socken des Gründers.

Den "roten Faden" in der Verlagsgeschichte muss man sich insbesondere für die Anfangsjahre noch ziemlich filigran vorstellen. Es war ein "seidener Faden", an dem die Existenz des Verlags hing, eben weil Klaus Wagenbach sich den Luxus leistete, Überzeugungstäter zu sein. Andere Gründer gründen ein Unternehmen, weil sie eine Geschäftsidee haben. Klaus Wagenbach gründete seinen Verlag, weil ihm klar wurde, dass er mit seinen politischen Meinungen in keinem anderen Verlag unterkommen würde. Andere Gründer bauen auf solides Startkapital. Klaus Wagenbach baute auf ein väterliches Wiesen-grundstück, besser gesagt: auf den Verkauf des selbigen, als er 1964 beim Bezirksamt Berlin-Wilmersdorf ein "stehendes Gewerbe" anmeldete.

Andere Gründer haben einen Business-Plan. Klaus Wagenbach hatte andere Pläne. Verlegerei sei die Antwort auf die Aufgabe "Wie führe ich erfolgreich ein konkursreifes Unternehmen", schrieb er in einem Fragebogen seiner Bank, woraufhin diese ihm prompt den Geldhahn zudrehte. Andere Gründer verschwenden ihre Kraft nicht für Kämpfe gegen die Staatsgewalt, allenfalls vielleicht noch für Scharmützel mit dem Finanzamt. Klaus Wagenbach kam manchmal kaum dazu, sich um seinen Verlag zu kümmern, weil er damit beschäftigt war, Genossen aus dem Untergrund in den Verlagsräumen zu beherbergen, Hausdurchsuchungen und Gerichtsprozesse zu überstehen und sich mit Otto Schilys Hilfe immer wieder unter dem Damoklesschwert des Verlagsverbots herauszuwinden. Kurz und gut: Andere Gründer wollen Geld verdienen. Klaus Wagenbach wollte die Gesellschaft verändern. Er wollte Politik machen - und zwar mit Literatur.

An dieser Stelle lohnt es sich, den roten Faden kurz zu verlieren und sich das gesellschaftliche und politische Klima der Wagenbachschen Anfangsjahre zu vergegenwärtigen. Die Verlagsgründung fiel in das Jahr, in dem Heinrich Böll im Rahmen der Frankfurter Poetikvorlesungen über die traumatische Erfahrung sprach, dass in der Bundesrepublik "Schuld, Reue, Buße, Einsicht … nicht zu gesellschaftlichen Kategorien … , erst recht nicht zu politischen" wurden. Viele Intellektuelle sahen es als ihre heilige Pflicht, gegen die kollektiven Verdrängungsprozesse und den restaurativen Geist der jungen Bundesrepublik anzuschreiben. Anknüpfend an Simone Weils Diktum "Das Volk braucht Poesie wie Brot" formulierte die spätere Wagenbach-Autorin Ingeborg Bachmann als erste- Dozentin der Frankfurter Poetikvorlesungen 1959/60 den selbst gesteckten Anspruch: Poesie wie Brot? Dieses Brot müsste zwischen den Zähnen knirschen und den Hunger wieder erwecken, ehe es ihn stillt. Und diese Poesie wird scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf der Menschen rühren zu können."

Andere gingen einen Schritt weiter: Sie forderten eine direkt politisch engagierte Literatur. Unvergessen die zornige "Rede über das Selbstverständliche" des Büchner-Preis-Trägers und SPD-Wahlkämpfers Günter Grass im Jahr 1965 - auch er, wie Bachmann, Wagenbach-Autor der ersten Stunde. Grass geißelte die politische Zurückhaltung der Intellektuellen im Wahlkampf und schaffte damit, was nur wenigen gelingt, nämlich sich rechts und links gleichermaßen Feinde zu machen.

In dieser Kampfzone also, in der Poesie und Politik, Kunst und Macht einander so feindselig gegenüberstanden wie Ost und West im Kalten Krieg, bezog Klaus Wagenbach Stellung, und es verwundert nicht, dass das ursprüngliche Projekt "Ost-West-Verlag" ziemlich schnell zwischen die Fronten geriet. Wolf Biermanns Lyrikband "Drahtharfe" bescherte dem Jung-Verleger neben einer Lizenzsperre auch ein Einreise- und Durchreiseverbot in der DDR und damit das zweifelhafte Privileg, Berlin bis 1972 nur auf dem Luftweg verlassen zu dürfen - was Wagenbach allerdings nicht davon abhielt, seinen literarisch-politischen Auftrag weiter zu verfolgen. Ich zitiere aus einem Interview: "Da wird einem ein ordentliches, leicht gelangweiltes, ziemlich unsinnliches, eher puritanisches Volk mit gestörter nationaler Identität sozusagen in den Schoß gelegt, und man erhält als Intellektueller den Widerpart zugesprochen - das ist ja fast eine Gnade!"

Dieser Gnade also verdanken wir den "unabhängigen Verlag für wilde Leser", dessen 50. Geburtstag wir heute feiern. Fünf Jahrzehnte eines alles andere als geruhsamen Lebens haben den Jubilar gezeichnet - im besten Sinne. Er hat sein Gesicht verändert, er hat an Statur gewonnen, er hat seine Rolle gefunden, und in den unterschiedlichen Facetten seiner Identität spiegeln sich die Erfahrungen eines bewegten Lebens.

In den 70er Jahren, der Phase der Adoleszenz sozusagen, war Wagenbach der Verlag der Studentenproteste und der außerparlamentarischen Opposition und als solcher mittendrin in den Schlachten, die zu dieser Zeit geschlagen wurden - keine Konfrontation scheuend und immer bereit, Öl ins Feuer zu gießen. Mit den Jahren des Erwachsenwerdens stellte sich allmählich eine gewissermaßen mediterrane Gelassenheit ein: Wagenbach wurde zu dem deutschen Verlag für italienische Kultur mit der größten Liste italienisch-sprachiger Autoren und den meisten italienischen Büchern über Italien im Programm. Ob diese Entwicklung eine unmittelbare Folge oder aber vielmehr auslösende Ursache dafür war, dass Klaus Wagenbach seine Vorstellungen vom Sozialismus konkretisierte, vermag ich nicht zu beurteilen. Jedenfalls ist überliefert, dass Klaus Wagenbach unter Genossen mit einer recht eigenwilligen politischen Positionierung für Irritationen sorgte, die für den real existierenden Sozialismus ausdrücklich nicht nur zwei oder drei Käsesorten wie in der DDR vorsah, sondern 200 oder 300 wie in Italien. So viel zum Thema "Hedonismus, Geschichtsbewusstsein und Anarchie".

Wer sich trotzdem lieber kritische linke Theorie wie Pier Paolo Pasolinis "Freibeuterschriften" ins Regal stellen wollte als Sinnenfreudiges wie Alice Vollenweiders Streifzug durch "Italiens Provinzen und ihre Küche", war bei Wagenbach aber weiterhin gut aufgehoben und ist es bis heute. Das Literaturprogramm ist dabei in den letzten Jahren internationaler geworden, geprägt vor allem von kulturellen Grenzgängern. Erfreulich und spannend finde ich auch, dass die Politik mit einer eigenen Reihe neu belebt wurde, mit streitbaren Autoren, die sich politisch einmischen in wichtige Debatten.

Wild und verwegen ist das Unternehmen Wagenbach mit seinem auf Klasse statt Masse ausgerichteten Programm all die Jahre geblieben. Wagenbach ist zu einem Verlag für literarische, kunstgeschichtliche und intellektuelle Liebhabereien unterschiedlichster Art geworden, was kein Wunder ist, weil hier seit 50 Jahren Liebhaber am Werk sind, und das sieht und spürt man. Dass der Verlag heute gut da steht, während andere die Entwicklungen des Buchmarktes beklagen, hat insofern mit ganz konservativen Tugenden zu tun: mit Sorgfalt, mit Gewissenhaftigkeit und nicht zuletzt mit der ebenso traditionsbewussten wie weitsichtigen Leitung durch Susanne Schüssler, die das Unternehmen Wagenbach 2002 von ihrem Mann übernommen hat.

Ich persönlich schätze Wagenbach ganz besonders als Verlag der Kunst- und Kulturgeschichte. Allein die Neuübersetzung der Viten, der Lebensbeschrei-bungen von Renaissance-Künstlern von Giorgio Vasari, - eine Reihe, die in diesem Jubiläumsjahr mit dem 45. Band ihren krönenden Abschluss findet - verdiente eine eigene Laudatio als Meilenstein der Kunstgeschichte! Bevor ich aber nun endgültig der Versuchung erliege, meiner Begeisterung freien Lauf zu lassen und mich am Ende als CDU-Politikerin noch verdächtig mache, weil ich einen linken Verlag nach Strich und Faden lobe, greife ich im doppelten Wortsinn den roten Faden wieder auf: den roten Faden dieser Rede und den roten Faden der Verlagsgeschichte.

Der rote Faden ist keine Wagenbach-Erfindung, auch wenn das gut ins Bild passen würde. Es war niemand Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe, der die Metapher des roten Fadens in seinem Roman "Die Wahlverwandtschaften" vor rund 200 Jahren in unserem Vokabular hinterlassen hat. Wir hören von einer besonderen Einrichtung bei der englischen Marine. Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, dass ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen ( … ) ."

Auch der Wagenbach-Verlag hat einen solchen roten Faden, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen. Es ist die Unabhängigkeit, die Sie, Herr Dr. Wagenbach, dem Verlag eingeimpft haben, und die Sie, liebe Frau Dr. Schüssler und liebe Frau Wagenbach, mit unternehmerischem Sachverstand und verlegerischem Herzblut verteidigen: vor ökonomischen Abhängigkeiten, vor falschen Kompromissen aus vermeintlichen Sachzwängen heraus und nicht zuletzt vor der Versuchung,"dem Publikumsgeschmack dienerisch nachzulaufen", wie Kafkas Verleger Kurt Wolff das formuliert hat -man hört förmlich das verächtliche Schnauben- .

Dieser rote Faden ist fest eingewebt ins Verlagsprogramm, das mit intellektuell anspruchsvollen, liebevoll editierten und sorgfältig lektorierten Büchern geistige Ankerpunkte in unserer schnelllebigen Welt setzt. Er stützt Entscheidungsstrukturen, die man bei Wagenbach "Diktatur des Lektorats" nennt: Lektoratsentscheidungen werden einstimmig und ohne Mitspracherecht von Vertrieb und Marketing getroffen. Er rahmt die Herzklausel, die da lautet: Wenn ein Lektor ein Buch unbedingt machen will, kann er gegen die Bedenken der anderen sagen "Wir machen das". Er durchzieht das robuste Gewebe einer Unternehmenskultur der intellektuellen Unbestechlichkeit, und ganz offensichtlich leuchtet der rote Faden auch markant und unverkennbar im äußeren Erscheinungsbild, neudeutsch Image genannt. Jedenfalls hat eine Tageszeitung dem Verlag kürzlich bescheinigt,"( … ) eher einen Tod in Freiheit zu sterben als eine Unterwerfung in Ketten hinzunehmen". ( Tagesspiegel 9. 3. 2014 ) .

Dieser rote Faden der Unabhängigkeit begründet das große Renommee eines kleinen Verlages, der sich in besonderer Weise um das Kulturgut "Buch" verdient gemacht hat. Wagenbach hat damit literarisch wie auch politisch Maßstäbe gesetzt. Nicht nur, weil Wagenbach immer wieder provoziert hat; nicht nur, weil im Verlagsprogramm immer Platz war für eine "Ausweitung der Kampfzone". Sondern auch, weil die Bücher des Wagenbach-Verlags seit vielen Jahren zeigen, was in Freiheit gedeihen kann und wie sehr die Früchte dieser Unabhängigkeit den demokratischen Diskurs bereichern.

Was Wagenbach für sich mit Stolz und Sturheit hoch gehalten hat, muss auch politisch verteidigt werden! Literatur darf und soll Zumutung sein. Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir Politiker alles daran setzen, ihre Freiheiten und ihre ästhetische Vielfalt zu sichern, zum Beispiel, indem wir durch die Verteidigung der Buchpreisbindung dafür sorgen, dass Bücher auch künftig anders behandelt werden als bloße Handelsobjekte und sich nicht dem Geschmack der Masse unterwerfen müssen wie x-beliebige Konsumgüter.

Unsere Kulturförderung hat mit unserer bitteren jüngeren Geschichte zu tun, mit der Lehre aus zwei deutschen Diktaturen, die da lautet: Kritik und Freiheit der Kunst sind konstitutiv für die Demokratie. Kreative und Intellektuelle sind das Korrektiv einer Gesellschaft. Wir brauchen die verrückten Verleger wie Wagenbach, die mutigen Dichter, die unbequemen Schriftsteller! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Fantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Es sind die Kreativen, die Verwegenen, die Vordenker, die Geistesgrößen einer Gesellschaft, die diese vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu schützen imstande sind. Jean Paul, ein Autor, der mir persönlich viel bedeutet und über den ich meine Magisterarbeit geschrieben habe, hat das lange vor den totalitären Schrecken des 20. Jahrhunderts erkannt. In seinen "Politischen Fastenpredigten" heißt es: "Eine Demokratie ohne ein paar hundert Widersprechkünstler ist undenkbar."

Das alles mag heute Common sense sein - in den Anfangsjahren des Verlages war es das keineswegs. So haben die vergangenen 50 Jahren nicht nur das Gesicht des Verlags Klaus Wagenbach verändert, sondern auch Deutschland und sein Verhältnis zur Kunst und zur Literatur. Heute sitzt die Kultur mit am Kabinettstisch, Verleger werden sogar Minister, wie mein erster Vorgänger im Amt, Michael Naumann. Diese Entwicklungen sind Ausdruck eines öffentlichen Bewusstseins für die existentielle Bedeutung der Freiheit von Kunst und Kultur, das "der unabhängige Verlag für wilde Leser" mit geprägt hat.

Was für eine Geschichte! Ich denke, wir alle können heute stolz und dankbar sein, dass ein Verlag wie Wagenbach sich in unserem Land behaupten konnte!

Herzlichen Glückwunsch zu erfolgreichen 50 Jahren!