Redner(in): Monika Grütters
Datum: 20. Oktober 2014

Untertitel: In Ihrer Rede betonte Monika Grütters, dass das Gedenken und die systematische Aufarbeitung der Vergangenheit heute ein maßgeblicher Teil der Kulturpolitik und des nationalen Selbstverständnisses sei. Weiter erinnerte sie daran, dass gerade Großbritannien entscheidend dazu beigetragen hat, dass das politisch und wirtschaftlich zerstörte und auch geistig und moralisch verwüstete Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Beine kam.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2014/10/2014-10-20-gruetters-british-museum.html


In Ihrer Rede betonte Monika Grütters, dass das Gedenken und die systematische Aufarbeitung der Vergangenheit heute ein maßgeblicher Teil der Kulturpolitik und des nationalen Selbstverständnisses sei. Weiter erinnerte sie daran, dass gerade Großbritannien entscheidend dazu beigetragen hat, dass das politisch und wirtschaftlich zerstörte und auch geistig und moralisch verwüstete Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Beine kam.

Anrede,

Es ist vielleicht nicht immer schmeichelhaft, aber sehr reizvoll, sich selbst aus den Augen eines anderen zu sehen. Der fremde Blick kann Facetten der eigenen Identität zum Leuchten bringen, die bisher im Dunkel lagen. Emotional berührend ist die Spiegelung im Auge des anderen, wenn man darin den warmherzigen, von echtem Interesse geprägten Blick eines Freundes spürt.

So ging es mir eben bei unserem Rundgang durch die Ausstellung "Germany: Memories of a Nation", lieber Neil. Beeindruckt hat mich nicht nur die Vielfalt der Exponate, die sich wie sorgfältig aufeinander abgestimmte Puzzleteile zu einem so großen und detailreichen Deutschlandbild zusammenfügen. Beeindruckend ist für mich als Deutsche auch die Haltung, die aus diesem Bild spricht: der Anspruch, ein differenziertes und faires Bild deutscher Geschichte zu zeichnen in einem Jahr, das zu Recht vom Gedenken an das unfassbare Leid geprägt ist, das Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg über Europa gebracht hat. Dafür danke ich Dir, lieber Neil, aber auch Ihnen, verehrter Sir Richard Lambert, verehrtes Kuratorenteam um Barrie Cook, verehrte Sponsoren, und allen anderen, die sich im British Museum den "Memories of a Nation" gewidmet haben.

Es ist mir eine Ehre, die Ausstellung heute als Vertreterin der Bundesregierung mit Ihnen gemeinsam eröffnen und Sie auch im Namen von Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel herzlich begrüßen zu dürfen!

Eine der pointierteste Beschreibungen des Unterschieds zwischen Deutschland und anderen Nationen stammt aus dem Gedichtzyklus "Deutschland - ein Wintermärchen" von unserem großen Dichter Heinrich Heine. Er schrieb im Jahr 1844: Franzosen und Russen gehört das Land,

Das Meer gehört den Briten,

Wir aber besitzen im Luftreich des Traums

Die Herrschaft unbestritten.

Hier üben wir die Hegemonie,

Hier sind wir unzerstückelt;

Die andern Völker haben sich

Auf platter Erde entwickelt."

Es waren Künstler und Geistesgrößen, die mit so viel Neid auf erfolgreiche und selbstbewusste Völker wie England und Frankreich in ihrer nicht nur territorialen Geschlossenheit schauten. Im "Luftreich des Traumes" dagegen stand die Wiege des deutschen Nationalstaats. Heinrich Heine spielt damit auf den deutschen Idealismus an, in dem die Einheit der deutschen Nation im Geiste - in der Philosophie und in der Kultur - beschworen wird.

Eben weil Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Nationen zu dieser Zeit noch in Kleinstaaten zersplittert war, spielte die Kultur als "geistiges Band" eine so große Rolle. Und es waren Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle, die große gesellschaftliche Umbrüche geistig vorbereiteten - teilweise unter Einsatz ihres Lebens. So war Deutschland zuerst eine Kulturnation, bevor es eine politische Nation wurde.

Es gehört zu den großen Verdiensten Ihrer Ausstellung, dass sie historische Eigenheiten anschaulich macht, daneben aber auch all die anderen Facetten deutscher Identität nicht zu kurz kommen lässt, darunter die lange vorherrschende Untertanenmentalität, die die beispiellosen Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten möglich gemacht hat.

Das ist ja gerade das Unbegreifliche: Das intellektuelle und kulturelle Erbe großer Geister und schöpferischer Genies wie Goethe und Schiller, Heinrich Heine, Kant und Kafka, Bach und Beethoven konnte die Mehrheit der Deutschen nicht davor bewahren, zu "Hitlers willigen Vollstreckern" zu werden. In diesem verstörenden Nebeneinander von menschlicher Größe und unmenschlicher Verrohung tritt das Dunkel der Jahre 1933 bis 1945 umso deutlicher zutage.

Aber: Wir haben in Deutschland aus unserer Geschichte gelernt. Aus zwei Diktaturen - der Nazi-und der DDR-Zeit - haben wir eine Lehre gezogen:

In Artikel 5 unseres Grundgesetzes, mit einem hohen, prominenten Verfassungsrang also heißt es: "Kultur und Wissenschaft sind frei.".

Wir wissen, dass wir die Künstler, die Kreativen, die Vor- und Querdenker als kritisches Korrektiv unserer Gesellschaft brauchen, als Stachel im Fleisch der Demokratie. Sie sind es, die Grenzen ausloten, die provozieren, die hinterfragen und die damit verhindern, dass intellektuelle Trägheit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Die Freiheit und Vielfalt der Kunst und Kultur zu sichern und so jedem neuerlichen Totalitarismus vorzubeugen, das ist deshalb oberster Grundsatz unserer Kulturpolitik.

Wie auch immer man das Verhältnis von Licht und Dunkel im Deutschlandbild der Ausstellung "Germany: Memories of a Nation" bewerten mag, meine Damen und Herren - es wird sicherlich für lebhafte Debatten sorgen, und das kann man einer solchen Ausstellung auch nur wünschen. Denn sie trägt damit zu einer europäischen Erinnerungskultur im besten, im demokratischen Sinne bei.

Heute sieht sich Deutschland als Partner in Europa und der Welt. Unser Bekenntnis zu einem vereinten Europa verbinden wir mit der großen Hoffnung, dass auch und gerade Großbritannien in Europa weiterhin eine starke Stimme sein möge. Wir brauchen Großbritannien nicht nur als politische Kraft, meine Damen und Herren! Wir brauchen Ihr Land mit seiner langen Tradition der Demokratie und der Freiheit auch, um den Kulturraum Europa mit Leben zu erfüllen. Gerade wir Deutschen werben dafür, denn Großbritannien hat entscheidend dazu beigetragen, dass das politisch und wirtschaftlich zerstörte und auch geistig und moralisch verwüstete Deutschland nach dem 2. Weltkrieg wieder auf die Beine kam. Das werden wir Ihnen niemals vergessen!

Wie gegenwärtig dieses Geschenk Großbritanniens immer noch ist, illustriert ein bemerkenswerter Bucherfolg: Gerade jetzt steht in Deutschland ein Zeitdokument auf den Bestsellerlisten, das die britische Sicht auf die Deutschen aus der Perspektive der Besatzer vor genau 70 Jahren offenbart."Instructions for British Servicemen in Germany 1944", heißt das schmale Büchlein, das vom britischen Außenministerium rund fünf Monate nach der Landung der Westalliierten in der Normandie gedruckt wurde, um den Soldaten im feindlichen deutschen Gebiet Orientierung zu geben und sie auf ihre Aufgaben vorzubereiten.

Darin finden sich teils kuriose Beobachtungen, etwa diese: "Sie sehen aus wie wir, nur dass es den drahtigen Typus seltener gibt, sondern eher große, fleischige, hellhaarige Männer und Frauen ( … ) ." Die Deutschen wüssten nicht, wie man Tee zubereitet, verstünden aber durchaus etwas von Kaffee, heißt es außerdem, und auf Befremden stößt die deutsche Sentimentalität: "Selbst kinderlose alte Ehepaare bestehen auf ihrem eigenen Weihnachtsbaum."

Vor allem aber, und das macht die Lektüre so berührend, wirbt diese Schrift selbst im Angesicht der Gräuel, die Deutschland zu verantworten hat, für demokratische Zivilisiertheit, für Fairness und Humanität, ich zitiere "It is good for the Germans ( … ) to see that soldiers of the British democracy are self-controlled and self-respecting, that in dealing with a conquered nation they can be firm, fair and decent. The Germans will have to become fair and decent themselves, if we are to live with them in peace later on."

Das Gedenken und die systematische Aufarbeitung unserer Vergangenheit sind heute ein maßgeblicher Teil unserer Kulturpolitik und unseres nationalen Selbstverständnisses. In einem erweiterten Kulturbegriff liegt auch eine ethische Komponente. Denn Kultur ist nicht nur ein Standortfaktor, sondern Ausdruck von Humanität.

Wir haben Freiheit und Demokratie in Deutschland schätzen und lieben gelernt, meine Damen und Herren. Großbritannien hat alles in seiner Möglichkeit stehende getan, uns dabei zu helfen. Dadurch sind unsere Nationen sich wieder nahe gekommen. So können und dürfen wir uns heute darüber freuen, dass diese großartige Ausstellung des British Museums den ganzen Facettenreichtum deutscher Geschichte und Kultur beleuchtet und aus der Perspektive eines Freundes auf Deutschland schaut. Was für ein Glück!