Redner(in): Monika Grütters
Datum: 26. Januar 2015

Untertitel: "Dieser Preis ist eine Verpflichtung, die Botschaften Margot Friedlanders weiter zu tragen. Steht auf gegen Antisemitismus und Judenhass, wo immer Ihr ihn erlebt! Zieht Euch niemals zurück auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf Eure Stimme, auf Euer Handeln nicht ankommt!", sagte Kulturstaatsministerin Grütters.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/01/2015-01-26-gruetters-friedlander_preis.html


Dieser Preis ist eine Verpflichtung, die Botschaften Margot Friedlanders weiter zu tragen. Steht auf gegen Antisemitismus und Judenhass, wo immer Ihr ihn erlebt! Zieht Euch niemals zurück auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf Eure Stimme, auf Euer Handeln nicht ankommt! ", sagte Kulturstaatsministerin Grütters.

Kulturstaatsministerin Grütters bei der Verleihung des Margot-Friedlander-Preises in Berlin

Foto: Adrian Jankowski

Anrede,

16, 17 - das dürfte ungefähr Euer Alter sein, wenn mich der erste Eindruck nicht täuscht. Mit 16, 17 Jahren - ich erinnere mich selbst noch gut! - ist man voller großer Pläne und Zukunftsträume: Das Leben mit all seinen Möglichkeiten liegt vor Euch, und als Schülerinnen und Schüler der Staatlichen Ballettschule Berlin und Schule für Artistik habt Ihr alle eine besondere künstlerische Begabung, aus der Ihr etwas machen wollt und könnt. Dazu habt Ihr ein Umfeld, das Euch - so weit das möglich ist - auf Eurem Weg unterstützt: Eure Eltern, Eure Lehrerinnen und Lehrer, aber auch ein Land, das Euch Chancen und Perspektiven bietet.

Als Margot Friedlander ungefähr in Eurem Alter war, bestimmten nicht Zukunftsträume, sondern Zukunftsängste ihr Leben.

Wir schreiben das Jahr 1938:

das Jahr der Reichspogromnacht am 9. November, in der in vielen deutschen Städten die Synagogen brannten, Tausende jüdische Geschäfte geplündert und Juden öffentlich gedemütigt wurden;

das Jahr, in dem die "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben" in Kraft trat, die Juden den Betrieb von Geschäften und Handwerksbetrieben und den Verkauf von Waren aller Art verbot;

das Jahr, in dem Juden systematisch ihr Besitz entzogen wurde: Ersparnisse, Grundeigentum, Wertpapiere, Schmuck;

das Jahr, in dem Juden der Besuch von Bibliotheken, Kinos, Theatern, Museen und Schwimmbädern untersagt wurde;

das Jahr, in dem jüdischen Schülerinnen und Schüler der Besuch "deutscher" Schulen verboten wurde - und jüdischen Erwachsenen das Autofahren;

das Jahr, in dem auf immer mehr Parkbänken die Aufschrift "Nur für Arier" und an den Türen von immer mehr Restaurants und Geschäften der Satz "Juden unerwünscht" zu lesen war.

An ein selbstbestimmtes Leben, das Euch ganz normal und selbstverständlich erscheint, liebe Schülerinnen und Schüler, ist für jüdische Jugendliche 1938 nicht zu denken. Viele jüdische Familien versuchen auszuwandern - Margot Friedlanders Familie gelingt es nicht. 1942 wird ihr Vater in einem Vernichtungslager ermordet. Als 1943 auch ihr Bruder verhaftet wird, will ihre Mutter ihn nicht alleine gehen lassen und hinterlässt ihrer Tochter folgende Zeilen: "Ich habe mich entschlossen, mit Ralph zu gehen, wohin immer das auch sein mag. Versuche, dein Leben zu machen."

Margot Friedlander taucht unter, lebt in Verstecken bei verschiedenen Helfern, bis sie 1944 entdeckt und ins KZ Theresienstadt deportiert wird. Sie überlebt. Ihre Mutter und ihr Bruder gehören zu den rund eine Million Juden, die in Auschwitz ermordet wurden.

Trotz des unvorstellbaren Leids, das Deutsche ihr und ihren liebsten Menschen zugefügt haben, ist Margot Friedlander in hohem Alter wieder in ihre einstige Heimat zurückgekehrt. Seit vielen Jahren ist sie unermüdlich in Deutschland unterwegs, um ihre Erfahrungen mit Jugendlichen wie Euch zu teilen und dazu beizutragen, dass auch Eure Generation die schrecklichen Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns und die grauenhaften Auswüchse eines totalitären Staates niemals vergisst. Mit Ihrer Kraft, Ihrer Größe und Ihrer Herzenswärme beeindruckt sie ihre Zuhörerinnen und Zuhörer und schafft es, uns das Engagement für Demokratie - im wahrsten Sinne des Wortes - ans Herz zu legen.

Ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, könnt stolz sein auf einen Preis, der ihren Namen trägt! Dieser Preis ist vor allem eine Anerkennung für Euren eigenen Beitrag zu einer lebendigen Erinnerungskultur. Er ist aber gleichzeitig auch eine Verpflichtung, die Botschaften Margot Friedlanders weiter zu tragen und Verantwortung zu übernehmen für eine Gesellschaft, in der Ausgrenzung und Diskriminierung keinen Platz haben. Die Schwarzkopf-Stiftung verstärkt mit der Auslobung dieses Preises ihr Engagement gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Stellvertretend für alle, die daran Anteil haben, danke ich Ihnen, lieber Herr Schmitz, aber auch Ihnen, Herr Plett, für die finanzielle Unterstützung durch Ernst & Young.

Morgen, meine Damen und Herren, jährt sich Befreiung von Auschwitz zum 70. Mal - ein Tag des stillen Gedenkens an die Millionen von Menschen, die in deutschem Namen gedemütigt, verfolgt und ermordet wurden: europäische Juden, Sinti und Roma, zu "Untermenschen" degradierte Menschen slawischer Abstammung, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, kranke und behinderte Menschen, deren Leben man für "lebensunwert" erklärte, Homosexuelle, aber auch politisch Andersdenkende sowie Frauen und Männer, die den Mut hatten, Widerstand gegen den nationalsozialistischen Terror zu leisten oder andere zu schützen. Umso schockierender ist eine aktuelle Studie, der zufolge 58 Prozent der Befragten einen Schlussstrich unter die Geschichte der Judenverfolgung ziehen wollen. Bei den 40- bis 49jährigen ist es jeder Zweite; bei den über 60-jährigen sind es 61 Prozent. Anders in Israel: Dort wollen nur 22 Prozent mit der Vergangenheit abschließen.

Die offene und schonungslose Auseinandersetzung mit den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten und das breite gesellschaftliche Bewusstsein für die Verantwortung, die daraus erwächst, gehören zu den hart erkämpften, moralischen Errungenschaften unseres Landes. Doch je weniger Holocaust-Überlebende wie Margot Friedlander es gibt, die uns ihre Geschichte erzählen können, desto schwieriger wird die Annäherung an die Vergangenheit. Weil Zeitzeugen die Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns und die grauenhaften Auswüchse eines totalitären Staates eindringlicher als jedes Geschichtsbuch, jedes Museum und jeder Gedenkort vermitteln, müssen wir Sorge tragen, dass ihre Stimmen nicht verstummen.

Dabei vertrauen wir auch auf Euch und Eure Generation, liebe Schülerinnen und Schüler. Setzt Euch mit unserer Vergangenheit auseinander, wo immer Ihr die Gelegenheit dazu habt! Besucht unsere Gedenkorte, unsere Museen - Ihr werdet vielfach auf Zeitzeugenberichte stoßen, zum Beispiel in der Dauerausstellung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, die in einem Videoarchiv eine Vielzahl berührender Interviews mit Überlebenden zusammen getragen hat.

Informiert Euch nicht nur über die historischen Fakten, sondern auch über die Lebenswege und Schicksale einzelner Menschen! Vor allem aber: Steht auf gegen Antisemitismus und Judenhass, wo immer Ihr ihn erlebt! Zieht Euch niemals zurück auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf Eure Stimme, auf Euer Handeln nicht ankommt!

Das Gegenteil ist der Fall! Auf jeden einzelnen von Euch kommt es an. Vergesst niemals: Millionen von Menschen haben zugelassen, dass ihre jüdischen Freunde, Nachbarn und Bekannten erst beschimpft und gedemütigt, dann Schritt für Schritt ihrer Rechte beraubt und aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt wurden, bis man sie schließlich in den Tod schickte. Das Schweigen der Mehrheit machte die Vernichtungsfeldzüge der Nationalsozialisten möglich - das beherzte Engagement einiger weniger dagegen hat Leben gerettet."Sie haben alles riskiert, um ein Bett oder ihr Essen mit mir zu teilen", hat Margot Friedlander einmal über die Menschen gesagt, die ihr Zuflucht geboten haben. Diese Menschen waren es, die in einem moralisch verwüsteten Land Inseln der Menschlichkeit bewahrt haben.

All diese Erinnerungen bleiben, auch wenn die Zeitzeugen, denen wir sie verdanken, irgendwann nicht mehr unter uns sind. Euer Projekt future2app, liebe Schülerinnen und Schüler, trägt dazu auf originelle und zeitgemäße Weise bei. Mir gefällt an Eurer Idee besonders, dass sie neue Wege eröffnet, um die junge Generation zu erreichen. Wir werden gleich mehr darüber erfahren. Ich freue mich jedenfalls sehr, dass der Margot-Friedlander-Preis Euch und viele andere Wettbewerbsteilnehmer dazu inspiriert hat, über unsere Geschichte im Dritten Reich nachzudenken und eigene Lehren aus unserer nationalsozialistischen Vergangenheit zu ziehen.

Dafür will ich Euch noch die Worte des Friedensnobelpreisträgers und Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel mit auf den Weg geben, der einmal gesagt hat: "Wir, die wir zuhören, können zu Zeugen werden." In diesem Sinne: Hört gut zu, tragt die Geschichten von Menschen wie Margot Friedlander im Herzen und leiht ihnen Eure Stimme, damit die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten als immerwährende Warnung vor Rassismus und Antisemitismus lebendig bleibt.