Redner(in): Monika Grütters
Datum: 26. April 2015

Untertitel: "In unserem Wunsch, die Erinnerung wach zu halten, vertrauen wir aber nicht nur auf die Kraft der Gedenkorte, sondern vor allem auf Euch und Eure Generation, liebe Schülerinnen und Schüler." sagte Monika Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/04/2015-04-26-gruetters-gedenkakt-flossenbuerg.html


In unserem Wunsch, die Erinnerung wach zu halten, vertrauen wir aber nicht nur auf die Kraft der Gedenkorte, sondern vor allem auf Euch und Eure Generation, liebe Schülerinnen und Schüler." sagte Monika Grütters in ihrer Rede.

Wenn ein Überlebender seine Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager mit uns teilt, ist es, als würde die Welt für einen Moment kälter und dunkler. Es sind Worte, die uns verstummen lassen - im Schmerz, in der Fassungslosigkeit, vielleicht auch in der Angst, mit unseren Worten offene Wunden zu berühren, vielleicht auch in der Verzweiflung, dass unsere Worte keine Brücken bauen können über den Abgrund, der uns vom Leid der Opfer trennt.

Ganz unschuldige Worte können diesen Abgrund sichtbar machen. So reden wir heute von der "Befreiung" des Konzentrationslagers Flossenbürg vor 70 Jahren - ein Wort, das den Sachverhalt trifft, ein Wort, in dem aber auch Freude und Hoffnung keimen. Wird es damit Ihren persönlichen Erinnerungen gerecht, verehrter Jack Terry? Sie haben den 23. April 1945 als den traurigsten Tag in Ihrem Leben empfunden. Denn, so haben Sie es in einem Interview formuliert: "Das erste Mal konnte ich darüber nachdenken, wer ich war und was ich verloren hatte. Es war das erste Mal, dass ich nicht darüber nachdenken musste, wo ich das nächste Stück Brot her bekomme."

Es ist vielleicht unmöglich, Worte des Gedenkens zu finden, die solchen persönlichen Empfindungen gerecht werden: Worte für das Leid der Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt, gedemütigt und ermordet wurden; Worte für das Leid der Überlebenden, denen die Nationalsozialisten alles genommen haben bis auf ihre nackte Existenz; Worte für das Leid der Menschen, die ihrer Heimat, ihrer Zukunftsträume, ihrer Lebensfreude, ihrer Würde beraubt wurden - hier in Flossenbürg, in seinen Außenlagern und in all den anderen Konzentrationslagern.

Und dennoch dürfen wir nicht schweigen, dennoch dürfen wir niemals aufgeben in unserem Bemühen, dem Leid gerecht zu werden! Wir sind dankbar, dass Sie, verehrter Jack Terry, und viele andere Holocaust-Überlebende uns dabei seit vielen Jahren helfen. Ohne Ihre Erinnerungen wüssten wir nur um die schrecklichen Zahlen: 100.000 Frauen und Männer waren zwischen 1938 und 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg und seinen Außenlagern inhaftiert. 30.000 wurden ermordet oder starben an Hunger, Krankheit, Auszehrung und an der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft im nahe gelegenen Steinbruch. Als vor 70 Jahren amerikanische Soldaten hier eintrafen, fanden sie noch 1.500 Menschen in elendem Zustand. Tausende andere hatten von Flossenbürg aus einen der berüchtigten Todesmärsche antreten müssen.

Sie, verehrter Jack Terry, und andere Überlebende haben die Kraft gefunden, uns Teil haben zu lassen an den Lebensgeschichten hinter diesen Zahlen. Wie schwer mag Ihnen das gefallen sein! Für Ihr Engagement sind wir zutiefst dankbar - dankbar, weil es das Mindeste ist, was wir für die Überlebenden tun können: sie mit ihren Erinnerungen nicht allein zu lassen und hinter der Bilanz des millionenfachen Mordes den einzelnen Menschen sichtbar zu machen.

Doch je weniger Holocaust-Überlebende es gibt, die uns ihre Geschichte erzählen können, desto schwieriger wird die Annäherung an das Unfassbare, und desto wichtiger werden die authentischen Gedenkorte, um deren Erhalt sich Bund und Länder in Deutschland gemeinsam kümmern.

Wir wollen die ehemaligen Konzentrationslager deshalb als Lernorte erhalten. Wir wollen, dass künftige Generationen sich Konzentrationslager nicht als unwirkliche Hölle vorstellen, die mit dem Leben, das sie kennen, nichts zu tun hat. Wir wollen - was ja als Warnung noch viel eindringlicher ist! - , dass man die Konzentrationslager kennen lernt als Orte des Alltags, die sie eben auch waren: Orte, an denen Menschen, die zu unvorstellbarer Grausamkeit fähig waren, Mozart hörten, Briefe an ihre Familie schrieben und ihren Interessen nachgingen.

Das neue Bildungszentrum der Gedenkstätte Flossenbürg, das wir gerade symbolisch eröffnet haben, umfasst unter anderem das ehemalige SS-Casino des Konzentrationslagers. Hier wurde gegessen, getrunken und gefeiert, hier pflegten Menschen, denen draußen im Lager ein Menschenleben nichts wert war, Freundschaft und Kameradschaft. Die Gedenkstätte Flossenbürg, die für ihre innovativen Formen der Auseinandersetzung mit unsere Vergangenheit bekannt ist, hat aus diesem Ort ein Seminarhaus gemacht, das dazu einlädt, Eindrücke zu teilen und zu diskutieren statt in Fassungslosigkeit zu schweigen. Mein Haus hat den Umbau mit fast fünf Millionen Euro gefördert, weil es der Bundesregierung wichtig ist, dass die Erinnerung an das Geschehene lebendig bleibt - auch wenn keine Zeitzeugen mehr unter uns sind.

In unserem Wunsch, die Erinnerung wach zu halten, vertrauen wir aber nicht nur auf die Kraft der Gedenkorte, sondern vor allem auf Euch und Eure Generation, liebe Schülerinnen und Schüler. Setzt Euch mit unserer Vergangenheit auseinander, wo immer Ihr die Gelegenheit dazu habt! Vor allem aber: Steht auf gegen Ausgrenzung, wo immer Ihr sie erlebt! Nehmt es nicht gleichgültig hin, wenn antisemitische oder rassistische Parolen verbreitet werden, sei es auf unseren Straße, sei es im Internet, sei es als Schmierereien auf Häuserwänden oder - wie jüngst erst wieder hier in der Nähe - auf Hinweisschildern zu KZ-Gedenkstätten. Zieht Euch niemals zurück auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf Eure Stimme, auf Euer Handeln nicht ankommt!

Das Gegenteil ist richtig: Auf jeden einzelnen von Euch kommt es an! Vergesst nicht: Millionen Deutsche haben zugelassen, dass Freunde, Nachbarn, Bekannte erst beschimpft und gedemütigt, dann Schritt für Schritt ihrer Rechte beraubt und aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt wurden, bis man sie schließlich in den Tod schickte. Das Schweigen der Mehrheit war das Öl im Getriebe der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie - das beherzte Engagement einiger weniger dagegen hat Leben gerettet und in einem geistig und moralisch verwüsteten Land Inseln der Menschlichkeit bewahrt.

Einer der wenigen, die Widerstand geleistet haben, ist der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer. Er hat sich den Nationalsozialisten aus seinem christlichen Glauben heraus widersetzt."Nicht die Welt aus den Angeln zu heben, sondern am gegebenen Ort das sachlich im Blick auf die Wirklichkeit Notwendige zu tun und dieses wirklich zu tun, kann die Aufgabe sein", hat er einmal gesagt. Das Notwendige tun: Für Dietrich Bonhoeffer hieß das, aus dem sicheren Exil in New York zurück zu kehren nach Deutschland, um zu helfen, die Diktatur der Nationalsozialisten zu stürzen. Am 9. April 1945 wurde er wegen Hochverrats hingerichtet - so kurz vor der Befreiung des Lagers, so kurz vor dem Ende des Zweitens Weltkriegs, dass es weh tut, seine Entscheidung als eine notwendige zu akzeptieren.

Und doch sind wir dankbar für die Erinnerung an Menschen wie ihn - denn dies und nur dies ist Erinnerung, die uns im Gedenken an die Befreiung der Konzentrationslager die Hoffnung auf ein "Nie wieder!" lässt.