Redner(in): Monika Grütters
Datum: 11. Juni 2015

Untertitel: "Sie haben sich nicht nur Kultstatus, sondern Kulturgutstatus erarbeitet", betonte Monika Grütters in ihrer Rede in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/06/2015-06-16-gruetters-macgregor.html


Sie haben sich nicht nur Kultstatus, sondern Kulturgutstatus erarbeitet ", betonte Monika Grütters in ihrer Rede in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin.

Uns Deutschen eilt bis heute ein Ruf voraus, den Heinrich Heine einmal so beschrieben hat: "Die Deutschen", konstatierte er,"haben die merkwürdige Angewohnheit, dass sie bei allem, was sie tun, sich auch etwas denken." Deshalb sind wir berühmt-berüchtigt als notorische Nörgler, grüblerische Geister und hin und wieder auch belehrende Bescheidwisser. Es kann jedenfalls recht anstrengend sein, Zeit mit uns zu verbringen.

Wer sich da als Nicht-Deutscher aufmacht, 600 Jahre deutsche Geschichte zu durchstreifen und seinen Landsleuten anhand von 200 Objekten der Kulturgeschichte die deutsche Seele nahe zu bringen, muss schon mehr als Deutschland-Versteher sein - er muss ein wahrer Deutschland-Liebhaber sein!

Als ich im Oktober vergangenen Jahres im British Museum in London gemeinsam mit Ihnen, lieber Neil MacGregor, Ihre Ausstellung "Germany: Memories of a Nation" eröffnet habe, hat mich nicht nur die Vielfalt der Exponate beeindruckt, die sich zu einem facettenreichen Bild der Kulturnation Deutschland zusammenfügen. Sehr berührt hat mich vor allem die Haltung, die aus diesem Bild spricht: der Blick eines Freundes, der ein Auge hat für die vielen Facetten deutscher Identität - und das im vergangenen Jahr, das durch die Häufung herausragender Gedenktage zu Recht von den Erinnerungen an das unfassbare Leid geprägt war, das Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg über Europa gebracht hat!

Mit Ihrer hoch gelobten Ausstellung haben Sie einmal mehr gezeigt, wozu Museen als "geistige Ankerpunkte einer Gesellschaft" ( Klaus-Dieter Lehmann ) imstande sind. Sie sind eben nicht nur Orte des Sammelns und Bewahrens, sie sind nicht einfach Archiv unserer Erinnerungen und Speicher unseres kulturellen Gedächtnisses. Nein, sie prägen unser Selbstverständnis, unseren Blick auf die Gegenwart, unsere Beziehung zu anderen Nationen und Kulturen. Die Ausstellung "Germany - Memories of a Nation" im British Museum, das gleichnamige Buch und die begleitende BBC-Serie haben Facetten deutscher Identität ins Licht der Öffentlichkeit geholt, die im dunklen Schatten unserer nationalsozialistischen Vergangenheit beinahe unsichtbar geworden waren.

Sie, lieber Neil MacGregor, haben auf diese Weise dazu beigetragen, dass nicht nur Briten, sondern auch Deutsche differenzierter über Deutschlands Herkunft und Zukunft, über Deutschlands Rolle in einem geeinten Europa nachdenken. Es ist mir eine große Freude und Ehre, Sie dafür heute als Preisträger des Deutschen Nationalpreises würdigen zu dürfen!

Was läge näher, als dies in genau der Form zu tun, mit der Sie als Direktor der National Gallery und des British Museums in London immer wieder für Aufsehen im besten Sinne gesorgt haben? Was läge näher, als Gegenstände, Erinnerungsträger über Sie erzählen zu lassen und dabei auf die - wie Sie es häufig sagen - "merkwürdige Kraft" der Objekte zu vertrauen, das "Charisma der Dinge" zum Leuchten zu bringen, so wie Sie es unter anderem in der Ausstellung "Germany: Memories of a Nation" getan haben? Um es in bescheidener Anlehnung an Ihr faszinierendes Buch "Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten" zu formulieren: Was läge näher, als die Geschichte Neil MacGregors in - sagen wir: - fünf Objekten zu erzählen?

Ich habe mich auf die Suche gemacht, meine Damen und Herren, und das erste erzählende Objekt, das ich gefunden habe, ist der Stein von Rosette, der Neil MacGregor schon als Kind bei seinen ersten Besuchen im British Museum fasziniert hat. In der "Geschichte der Welt in 100 Objekten" ist er die Nr. 33. Der Stein von Rosette gehört zu den bedeutendsten archäologischen Funden der Geschichte, entdeckt 1799 in der alten ägyptischen Hafenstadt Rosette. Auf den ersten Blick kein spektakulärer Fund: Ein koffergroßes Bruchstück, auf dem drei verschiedene Schriften - Altägyptisch, Altgriechisch und Hieroglyphen - zu erkennen sind. Der Text ist ein im Bürokratensprech gehaltenes Dekret ägyptischer Priester - doch die Zeilen des griechischen Textes erläutern, der Beschluss sei in drei Schriften aufgeschrieben worden. Eben dieser Hinweis öffnete die Tür zu Welt des Alten Ägypten: Denn damit war klar, dass der Stein helfen kann, die Hieroglyphensprache zu entziffern - ein Unterfangen, an dem die Europäer jahrhundertelang gescheitert waren.

So wie der Stein von Rosette die bis dato nicht entzifferbaren Hieroglyphen entschlüsselte und zum Sprechen brachte, lieber Neil MacGregor, so bringt Ihre Arbeit heute Dinge zum Sprechen, deren Bedeutung vielen Menschen sonst verschlossen bliebe. Und so wie Sie sich als kleiner Schuljunge in den Bann des Steins von Rosette gezogen fühlten, so fesselt uns heute die Magie der Objekte, die Sie als Übersetzer und Vermittler zwischen den Kulturen für uns erfahrbar machen.

Das zweite Objekt, das ich erzählen lassen will, meine Damen und Herren, ist ein imposantes Gemälde von Salvador Dalí aus dem Jahr 1951, zu sehen in der Kelvingrove Art Gallery in Neil MacGregors Geburtsstadt Glasgow."Der Christus des Johannes vom Kreuz" ( so der Titel ) , hat die leidenschaftliche Liebe zur Kunst des jungen Neil MacGregor geweckt und war später Teil seiner Ausstellung "Über das Jesusbild in der Kunst" in der Londoner Nationalgalerie.

Im unteren Bildausschnitt ist eine Meeresbucht in friedlicher Abendstimmung zu sehen. Über dieser Idylle schwebt vor bedrohlich dunklem Hintergrund, zwei Drittel der Bildfläche beanspruchend, der gekreuzigte Jesus - ein Bild, das in seiner Ambivalenz unter die Haut geht. Es offenbart eine weitere Facette der Neil MacGregorschen Meisterschaft: sein Interesse an den existentiellen Themen des Menschseins, an der Auseinandersetzung mit den großen Fragen menschlicher Existenz - ein Herzensbedürfnis, das über das wissenschaftliche Interesse weit hinausgeht.

Diese ( sicher auch in Ihrem christlichen Glauben wurzelnde ) Leidenschaft, lieber Neil MacGregor, ist Teil Ihres Erfolgs."Sankt Neil" werden Sie von Ihren Landsleuten liebevoll genannt, denn ganz offensichtlich schaffen Sie es, den Funken überspringen zu lassen. Jedenfalls haben Sie den Stätten Ihres Wirkens - insbesondere dem British Museum und der National Gallery - einen geradezu Schwindel erregenden Zuwachs an Besuchern beschert.

Ein drittes Objekt, das uns Vieles über Neil MacGregor erzählen kann, meine Damen und Herren, finden wir in Deutschland, genauer: im Güstrower Dom. Ernst Barlachs "Der Schwebende", eine Bronze-Engel mit den Gesichtszügen von Käthe Kollwitz, entstand 1927 zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs, wurde 1937 als entartete Kunst von den Nationalsozialisten eingeschmolzen und überlebte das Dritte Reich in zwei späteren Abgüssen: einer in Ost- und einer in Westdeutschland.

Für mich war es ein Gänsehaut-Moment, den Barlach-Engel als Schlusspunkt der Ausstellung "Germany: Memories of a Nation" zu sehen. Ich hätte ihn dort nicht erwartet, und doch gehört er genau dorthin mit seiner Geschichte, die das ganze präzedenzlose Leid des 20. Jahrhunderts spiegelt. Er erzählt von den Toten des Krieges, von den Schrecken einer barbarischen Diktatur, von der deutschen Teilung. Aber: In London - in Großbritannien, das nach dem Zweiten Weltkrieg mitgeholfen hat, Frieden und Demokratie nach Deutschland zurück zu bringen - wurde er vergangenes Jahr zum Botschafter der Versöhnung.

Was für eine große Geste als Schlusspunkt und Höhepunkt Ihrer Ausstellung "Germany: Memories of a Nation", lieber Neil MacGregor, Barlachs "Schwebenden Engel" auf diese Weise zum Hoffnungsträger zu machen.

Es ist diese Ihre Hoffnung, dass aus Verstehen Verständnis und aus Verständnis Verständigung entsteht, die Sie - mehr noch als Ihre Weltläufigkeit - zu einem großen Europäer macht!

Das vierte Objekt, das ich für meine kleine Erzählung in fünf Objekten ausgewählt habe, meine Damen und Herren, ist die weit geöffnete Eingangspforte des British Museums. In London ist der Eintritt in die staatlichen Museen frei - ein Recht der Bürgerinnen und Bürger auf Zugang zum kulturellen Erbe, das Neil MacGregor als Beitrag zur Aufklärung und Emanzipation immer wieder leidenschaftlich verteidigt hat."Der Zweck eines Museums besteht darin, es den Bürgern zu ermöglichen, bessere Bürger zu werden", so hat er es kürzlich formuliert.

Mit seinen überwältigen Ausstellungserfolgen hat Neil MacGregor immer wieder gezeigt, was gerade in der heutigen Zeit die Stärke eines Museums sein kann: dass es prinzipiell offen ist für jeden. Wo Menschen unterschiedlichster Herkunft "Heimat" suchen, können Museen für das Miteinander und das Zusammenwachsen eine herausragende Rolle spielen. Denn Objekte, die ( so kunstvoll wie Neil MacGregor es immer wieder vorgemacht hat ) zum Sprechen gebracht werden, erzählen Geschichten, die jeder verstehen kann - anders als Texte, die allein schon bedingt durch das Gebundensein an Sprache ein bestimmtes Bildungsniveau, eine bestimmte Sozialisation voraussetzen.

So haben Sie mit Ihrer Arbeit immer wieder Diaspora-Erfahrungen aufgehoben, lieber Neil MacGregor: Damit meine ich die Erfahrung, unter anders denkenden und anders sozialisierten Menschen zu leben - Erfahrungen, die kennzeichnend sind für pluralistische Gesellschaften, gerade in unseren multikulturellen Städten und Ballungsräumen. Mit Ihrer Arbeit zeigen Sie uns, dass uns bei allen Unterschieden - viel mehr verbindet als uns trennt, dass die Unterschiede viel kleiner sind als die Gemeinsamkeiten. Eben dadurch stiftet Ihrer Museumsarbeit Identität.

Von den vielen weiteren Gegenständen, mit denen sich sogar eine "Geschichte Neil MacGregors in 100 Objekten" mühelos bestücken ließe, meine Damen und Herren, habe ich als fünftes Objekt, oder vielmehr Objektgruppe etwas ausgewählt, was Neil MacGregor beim Blick in den Spiegel in nächster Zeit öfter zu Gesicht bekommen wird, nämlich das klassisch deutsche Großbaustellen-Outfit aus orangem Bauarbeiterhelm, neonfarbiger Reflektorenweste und stahlkappen-verstärktem Schuhwerk.

Ich weiß nicht, in welcher Bauverordnung das geregelt ist, aber Sie kennen uns ja gut genug, lieber Neil MacGregor, um zum wissen, dass im Land der Mülltrenner und Ordnungsliebhaber für große Visionen nicht immer zuallererst der rote Teppich, sondern eine Litanei an Sicherheitsvorschriften ausgerollt wird. Es freut mich sehr, dass ich Sie trotzdem für die größte Kulturbaustelle der Republik gewinnen konnte!

Wissen Sie noch, wann ich Ihnen zum ersten Mal von meinem Herzensanliegen, dem Humboldt-Forum, erzählt habe? Das war bei einem Besuch in London und muss ungefähr neun Jahre her sein."Please let us make this nobel project happen!", haben Sie damals gesagt. Was für eine Freude, dass wir es nun gemeinsam Wirklichkeit werden lassen können!

Im künftigen Humboldt-Forum soll erfahrbar werden, wofür der Name "Humboldt" steht: für die Tradition der Aufklärung, für die Idee der selbstbewussten, weltoffenen Annäherung der Völker, für das Ideal eines friedlichen Dialogs. Alexander und Wilhelm von Humboldt verdankten ihre umfassende Bildung einer schier unerschöpflichen Neugier auf die Welt - dem Wunsch, sie im wahrsten Sinne des Wortes zu "be-greifen".

Diese Neugier auf das Andere, das Fremde, das Neuartige, meine Damen und Herren, teilt Neil MacGregor mit den geistigen Vätern des Humboldt-Forums; sie soll im Humboldt-Forum Gestalt annehmen. Neuartige Kultur- und Kunsterfahrungen sollen den Blick schärfen für unterschiedliche, gleichberechtigte Weltkulturen; sie sollen einladen zu Diskussionen über Europa und die Welt und über die großen Themen menschlicher Existenz, die uns über kulturelle Grenzen hinweg verbinden.

Das Humboldt-Forum lädt in Berlin seine Gäste ein, Weltbürger zu sein. Dass diese Ideen keine Luftschlösser bleiben, sondern ab 2019 das wieder aufgebaute Berliner Schloss mit Leben erfüllen - dafür wird die dreiköpfige Gründungsintendanz unter Leitung von Neil Mac Gregor sorgen. Einen besseren Geburtshelfer für das derzeit wichtigste Kulturprojekt Deutschlands hätten wir uns kaum wünschen können!

Sein Abschied, das weiß ich, ist nicht nur für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am British Museum, sondern auch für die Kulturmetropole London und für ganz Großbritannien ein herber Verlust. Dass wir gleichzeitig mit Sir Simon Rattle einen weiteren britischen Kulturexport mit Weltruf wieder zurück nach London ziehen lassen, und dass Sie, lieber Neil, in diesem Jahr Gastredner der "Queen ' s Lecture" sind, zu der sich zum 50. Jubiläum auch die Queen persönlich hat angekündigt, das mag Ihre Landsleute ein klein wenig trösten.

Doch wie im Januar im Guardian zu lesen war, ließ man nichts unversucht, um Sie zu halten und zog mit feiner Ironie gar in Erwägung, Sie zum nationalen Kulturerbe zu erklären und unter Kulturgutschutz zu stellen, ich zitiere: "( … ) it is time for a human exportstop. MacGregor may not himself be of precisely outstanding aesthetic importance. ( … )"

Aber, so heißt es weiter: "No learned committee could deny that he is so closely intertwined with our national life that his departure would be a misfortune. His presence ( … ) [is] of outstanding significance for the nation ' s knowledge and appreciation of the world ' s material culture and history."

Kurz: Sie haben sich nicht nur Kultstatus, sondern Kulturgutstatus erarbeitet, und das können wahrlich nur wenige von sich behaupten!

Als Türöffner fremder Welten, als leidenschaftlicher Vermittler großer Themen menschlicher Existenz, als beherzter Botschafter der Versöhnung, als engagierter Streiter für kulturelle Bildung und als würdiger Repräsentant der Humboldtschen Ideale werden Sie, da bin ich sicher, auch hierzulande "zur Bestimmung unserer nationalen Identität in einem geeinten Europa" beitragen, wie es im Gründungsaufruf der Deutschen Nationalstiftung so schön heißt! Dafür sind wir Ihnen dankbar!

Herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Nationalpreis - und die besten Wünsche zu Ihrem 69. Geburtstag! Mögen Freude, Glück, Erfolg und Leidenschaft, vor allem aber Kraft und Gesundheit, Ihre Arbeit weiterhin begleiten!