Redner(in): Monika Grütters
Datum: 18. Juni 2015
Untertitel: "Kultur macht Einheit, das dürfen wir wohl heute in aller Bescheidenheit behaupten, auch wenn die Baustelle 'Deutsche Einheit' wohl noch eine Weile Baustelle bleiben wird", sagte die Staatsministerin. In ihrer Rede beleuchtete sie die kulturpolitischen Herausforderungen durch die Wiedervereinigung Deutschlands.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/06/2015-06-18-kulturpolitischer-bundeskongress.html
Kultur macht Einheit, das dürfen wir wohl heute in aller Bescheidenheit behaupten, auch wenn die Baustelle ' Deutsche Einheit ' wohl noch eine Weile Baustelle bleiben wird ", sagte die Staatsministerin. In ihrer Rede beleuchtete sie die kulturpolitischen Herausforderungen durch die Wiedervereinigung Deutschlands.
Jürgen Habermas, der heute seinen 86. Geburtstag feiert, hat der Kultur, den Künstlern und Kreativen, in einer seiner Reden einmal einen "avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen" bescheinigt. In bescheidener Anlehnung an diese treffende Formulierung darf ich Ihnen, den kulturpolitischen Mitstreiterinnen und Mitstreitern in der Kulturpolitischen Gesellschaft, ebenfalls einen "avantgardistischen" Spürsinn - die Deutsche Einheit begehen wir ja erst am 3. Oktober - , auf jeden Fall einen ausgeprägten Spürsinn für politische Relevanzen unterstellen.
Mit Ihrem Tagungsthema "Kultur. Macht. Einheit? Kulturpolitik als Transformationspolitik" widmen Sie sich insbesondere der Rolle der Kultur bei gesellschaftlichen Veränderungsprozessen und dem neuen Selbstverständnis des vereinten Deutschlands als Partner Europas und in der Welt - angesichts der aktuellen Krisen und kriegerischen Auseinandersetzungen politisch hoch relevante Themen, die spannende Diskussionen im Rahmen der verschiedenen Panels und Foren erwarten lassen. Darüber hinaus wirft Ihr Thema aber auch die grundsätzliche, kulturpolitisch relevante Frage auf, wie es um die Macht der Kultur im Sinne ihrer gesellschaftlichen Bedeutung eigentlich bestellt ist.
Die Entwicklungen, die hier zu verzeichnen sind, werfen - bei aller Freude über die blühenden Kulturlandschaften, die in den letzten 25 Jahren gerade im Osten Deutschlands neu bzw. wieder entstanden sind - nicht nur ein helles Licht, sondern auch den einen oder anderen Schatten auf die gesamtdeutsche Kulturwirklichkeit.
Zum einen hat die gesellschaftliche Bedeutung der Kultur ganz klar zugenommen. Deutschland ist Einwanderungsland - und damit ethnisch heterogener, pluralistischer, schlicht: bunter geworden in den vergangen 25 Jahren. Darin liegt eine Fülle von Herausforderungen und Chancen gerade für unsere kulturellen Einrichtungen, sich als gemeinsame Ankerpunkte in der Vielfalt und als Leuchttürme in der Unübersichtlichkeit zu profilieren. Die neue kulturelle Vielfalt hat auch die Einwanderungsgesellschaft verändert - ein Forum wird sich heute Mittag ganz speziell diesem Thema widmen.
Diesem Bedeutungszuwachs für die Kultur ganz allgemein allerdings steht in den Ländern - dort also, wo die Kulturhoheit liegt - vielfach eher ein realer Bedeutungsverlust gegenüber, der sich zum einen in degressiven Haushalten, in Kürzungen in den Kulturetats äußert, und zum anderen in teilweise - ja, anders kann man es wohl nicht sagen - lieblosen, jedenfalls problematischen Ressortzuschnitten. Unter diesen Strukturschwächen leiden vor allem die Kommunen, die mit 44,4 Prozent den Löwenanteil der Kulturförderung finanzieren und die durch steigenden Ausgabendruck in verschiedenen Bereichen ohnehin schon gebeutelt sind.
Der Bund hat die Kommunen deshalb ausdrücklich bei ihren Pflichtausgaben entlastet, beispielsweise durch Übernahme der Kosten bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in der vergangenen Legislatur und jüngst mit der Errichtung des sogenannten Kommunalinvestitionsförderungsfonds. Mit diesen Entlastungen in Milliardenhöhe haben wir auch Freiraum für freiwillige Leistungen geschaffen - zum Beispiel für Investitionen in die Kultur. Einige Kommunen haben das verstanden; sie nutzen diese neuen Freiräume.
Und der Bund selbst, mit seinen 13,4 Prozent Anteil an der staatlichen Kulturförderung? - 16 Jahre liegt die BKM-Gründung mittlerweile zurück. In diesen 16 Jahren ist der Kulturhaushalt stetig gewachsen ( vor allem in den vergangenen sieben Jahren! ) - von 1,06 Milliarden Euro 1999 auf heute rund 1,34 Milliarden Euro. Das sind rund 30 Prozent. Gleichzeitig hat sich das Aufgabenspektrum stetig erweitert. Der Bund ist verantwortlich für geeignete Rahmenbedingungen für Künstler und Kreative, er fördert Kultureinrichtungen und Projekte von nationaler Bedeutung, er verantwortet die kulturelle Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt Berlin, er vertritt Deutschland in internationalen Gremien wie dem EU-Kulturministerrat, und er unterstützt im Sinne des kooperativen Kulturföderalismus das Engagement der Länder und Kommunen, in dem er durch ergänzende Finanzierung viele Projekte möglich macht.
So sieht der Status quo 25 Jahre nach der Wiedervereinigung aus, und in diesem Spannungsfeld zwischen grundsätzlichem Bedeutungszuwachs für unsere Gesellschaft und realem - zumindest partiell zu beobachtenden - Bedeutungsverlust in den hoheitlich zuständigen Ländern bewegt sich die Kulturpolitik des Bundes.
Sie hat in den vergangen Jahren maßgeblich und sichtbar dazu beigetragen, dass zusammen wachsen konnte, was zusammen gehört. Das einigende Band zwischen Ost und West war ja auch in den Jahren der Teilung noch am ehesten die gemeinsame Kultur. Kant, Goethe, Brecht - sie wurden in beiden Teilen Deutschlands gelesen. Beethoven, Schumann, Eisler - sie wurden in beiden Teilen Deutschlands gespielt und gehört.
Seit der Realisierung des Einigungsvertrags können wir gemeinsam den kulturellen Resonanzraum unseres Landes erweitern. Das ist und bleibt in meinen Augen die größte Herausforderung, denn es geht schon seit langem nicht mehr nur um "Substanzerhalt", sondern um die Ausgestaltung der Deutschen Einheit unter den Bedingungen einer kulturell und ethnisch heterogenen, pluralistischen Gesellschaft.
Artikel 35 des Einigungsvertrags erlaubte uns, zur Erhaltung und Entwicklung national relevanter Kulturstätten Bundesmittel in die Hand zu nehmen. Die Idee dabei: Die neuen Bundesländer sollten im schwierigen Übergang vom Zentralismus der DDR zur für sie neuen Kulturhoheit der Länder Luft zum Atmen haben. Zu diesem Zweck haben wir unsere kulturpolitischen Förderprogramme aufgelegt und je nach Verlauf immer wieder angepasst.
Kultur-Milliarden sind seit der Wiedervereinigung in den Osten Deutschlands geflossen, Kulturinstitutionen von internationaler Strahlkraft in Dresden, Weimar, Stralsund wurden nicht zuletzt damit wieder aufgebaut und haben so zu alter kultureller Strahlkraft zurück gefunden - eine Leistung, auf die wir, man kann es nicht oft genug sagen, in ganz Deutschland stolz sein dürfen! Ein schönes Beispiel für "Kultur macht Einheit" - und zwar ganz ohne Fragezeichen!
Wesentlich schwieriger als die Sicherung unseres gemeinsamen kulturellen Erbes war das Zusammenwachsen zweier Gesellschaften. Hier prallten nach 40 Jahren unterschiedlicher Sozialisation Welten aufeinander.
Davon erzählt, Sie erinnern sich bestimmt, der Film Good Bye Lenin - eine wunderbare Tragikkomödie über den irrwitzigen Versuch eines jungen Mannes, für seine stramm sozialistische, im Sommer 1990 aus dem Koma erwachte Mutter die Lebenswelt der DDR aufrecht zu erhalten."Eine kleine Familie, bei der die Historie wie ein unangemeldeter Gast hereinplatzt" - so hat der Drehbuchautor Bernd Lichtenberg die Protagonisten seines großen Filmerfolgs beschrieben. Er erzählt von kleinen und großen Täuschungsmanövern: von holländischen Essiggurken, die in Spreewaldgurkengläser umgefüllt werden, von 79 Quadratmetern Plattenbau, auf denen der Geist der DDR wiederbelebt wird, von fingierten Nachrichtenbeiträgen der Sendung "Die aktuelle Kamera", in denen Coca Cola kurzerhand zur sozialistischen Erfindung erklärt wird - und die gesamtdeutsche Wirklichkeit auf der Straße zur Folge einer Massenflucht von Bürgern der Bundesrepublik in die DDR.
Doch ein Vierteljahrhundert, nachdem die Historie wie ein unangemeldeter Gast in die Filmfamilie Kerner und in unzählige, real existierende DDR-Familien platzte, ist etwas gelungen, was damals vielen undenkbar schien: Der unangemeldete Gast ist mittlerweile nicht nur weitestgehend akzeptiert. Man hat ihn sogar ins Herz geschlossen! Und das, obwohl er Ruhe und Ordnung gestört und nebenbei auch noch höchste Ansprüche gestellt hat!
Dieser historisch einmalige Wandel des gesamten gesellschaftlichen Gefüges in Ostdeutschland und die damit verbundenen Veränderungen auch in der alten Bundesrepublik offenbaren, was "Wiedervereinigung" in kultureller Hinsicht bedeutet. Die Bilder jubelnder Menschen am 9. November 1989, die Fotos der Spitzenpolitiker, die im Sommer 1990 die für die Einheit notwendigen Verträge unterzeichneten - sie sind ja nur Momentaufnahmen in Monaten der Euphorie am Anfang eines langen Weges, den wir heute "Wiedervereinigung" nennen. Wie die Einheit in den Alltag einzog und wie die äußerst robuste und vielfach beklagte "Mauer in den Köpfen" allmählich anfing, porös zu werden und zu zerbröseln, das ist ein Wandel, der die Kraft, die Macht der Kultur offenbart. Eine Erinnerungskultur, die zur Verständigung über unterschiedliche Erfahrungen, Wahrnehmungen und Perspektiven einlädt, hat dazu beigetragen.
Geschichte vergeht ja nicht einfach - die Art und Weise, wie wir sie erzählend vergegenwärtigen, prägt unsere Sicht auf die Gegenwart und damit auch unser Bild von uns selbst und unsere Zukunft. Deshalb kommt der Erinnerungskultur innerhalb der Kulturpolitik eine Sonderrolle zu, und zwar insofern, als die Politik sich hier nicht allein auf die Verantwortung nur für die Rahmenbedingungen zurückziehen darf, sondern den Gegenstand selbst prägt. Nationales Erinnern und Gedenken lassen sich nicht amtlich verordnen, sind aber auch nicht rein bürgerschaftlich zu bewältigen. Sie sind immer auch eine öffentliche Angelegenheit - und das heißt in staatlicher Gesamtverantwortung. Wir formulieren den Anspruch, auch moralisch angemessen mit der eigenen Geschichte umzugehen und nicht zuletzt dadurch ein Fundament für die Gegenwart und Zukunft zu legen.
Dabei kann man die Reife einer Demokratie auch daran erkennen, wie weit sie die Entwicklung von Geschichtsbildern dem öffentlichen Diskurs anvertraut. Unter anderem aus diesen Überlegungen heraus hat der Deutsche Bundestag vor 16 Jahren die Bundesstiftung Aufarbeitung ins Leben gerufen und mit der Aufgabe betraut, deutschlandweit die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und der deutschen und europäischen Teilung zu fördern. Außerdem ermöglichen wir mit dem 1991 verabschiedeten ( und seither achtmal novellierten ) Stasiunterlagengesetz ( StUG ) den Zugang zu Stasi-Unterlagen und damit Einblick in die zermürbenden Schikanen der SED-Diktatur. Die auf dieser gesetzlichen Grundlage entstandene Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR hat bis heute mehrere Millionen Anträge von Privatpersonen auf Einsicht in ihre Stasi-Unterlagen bearbeitet - jeder Antrag eine individuelle "Entscheidung gegen das Vergessen", wie Marianne Birthler es einmal formuliert hat.
Kultur macht Einheit, das dürfen wir wohl heute in aller Bescheidenheit behaupten, auch wenn die Baustelle "Deutsche Einheit" wohl noch eine Weile Baustelle bleiben wird - so wie auch die größte Kulturbaustelle der Republik, die fast symbolisch für das im Aufbau befindliche, neue Selbstverständnis des wiedervereinten Deutschlands steht: das Humboldt-Forum.
Deutschland hat die historische Chance, den zentralen Platz der Republik zu Beginn des 21. Jahrhunderts neu zu definieren - und wir nutzen sie in einer Weise, die einer Kulturnation würdig ist. Wir bauen kein Parkhaus, kein Hotel, kein Einkaufszentrum, sondern wir geben der Kunst und der Kultur Raum. Dass wir im Herzen der deutschen Hauptstadt nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern dass die Welt in Berlin ein Zuhause findet, dass Deutschland sich statt in reiner Selbstbezüglichkeit mit einem großartigen Blick nach außen als Partner in der Welt empfiehlt - das sagt viel aus über das Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Vor allem die außereuropäischen Künste sollen sich hier selbstbewusst darstellen, und zwar im direkten Dialog mit unserer eigenen Kunstgeschichte, gegenüber auf der Museumsinsel. Dabei soll es vor allem um die großen Menschheitsthemen gehen: Anfang und Ende des Lebens, die Bedeutung der Religion, Gott, Identität, Migration. Hier erfahren wir, was uns als Menschen ausmacht und was uns - bei allen Unterschieden, die gerade in kosmopolitischen Städten wie Berlin offensichtlich sind - als Menschen über alle Kultur hinweg gemeinsam ist und eint.
Das Humboldt-Forum ist mit einer einzigartigen Idee verbunden. Es geht dabei nicht um ein besseres Völkerkundemuseum oder um die pragmatische Unterbringung unserer Kunstschätze. Es geht um neuartige Kultur- und Kunsterfahrung und um das Wissen über unterschiedliche, gleichberechtigte Weltkulturen und neue Kompetenzen im Weltverständnis. Der Name "Humboldt-Forum" steht für die Tradition der Aufklärung, für die selbstbewusste, weltoffene Annäherung der Völker und für das Ideal eines friedlichen Dialogs. Für diese Ideen müssen wir gemeinsam werben! Sie sind von grundlegender Bedeutung für unsere Gegenwart und unsere Zukunft - ganz im Sinne einer Kulturpolitik als Transformationspolitik.
Das Humboldt-Forum, meine Damen und Herren, wird damit ganz maßgeblich unser kulturelles Selbstverständnis prägen. Berlin ist der Ort, von dem aus Barbarei und Tyrannei über Europa gekommen sind. Berlin ist der Ort der jahrzehntelangen Spaltung der Welt in Freiheit und Unfreiheit. Berlin ist der Ort der Erinnerung an ihre glückliche Überwindung vor 25 Jahren. Künftig wird Berlin noch mehr als bisher der Ort sein, der Brücken zwischen den Kulturen baut. Darauf bin ich stolz, und zwar nicht so sehr als Politikerin, die die langen Jahren kontroverser Meinungsbildung erlebt und unermüdlich für das Humboldt-Forum geworben hat, sondern vielmehr noch als Bürgerin dieses weltoffenen Deutschlands, das sich im Berliner Schloss, im Humboldt-Forum im Dialog mit anderen Kulturen präsentieren wird.
Kultur ist in diesem Sinne Ausdruck unserer Identität und Modus unseres Zusammenlebens, meine Damen und Herren. Welche Herausforderungen, welche Verantwortlichkeiten sich daraus für den Bund ergeben, habe ich Ihnen anhand verschiedener Beispiele - der Bewahrung unseres kulturellen Erbes, der Erinnerungskultur und der kulturellen Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt Berlin - erläutert. Was bleibt zu tun? ", fragt Ihr letztes Panel heute um 15.30 Uhr. Ich formuliere es in den Worten eines großen deutschen Philosophen:" Schon oft ist gesagt worden, der gegenwärtige Plan ist der beste; bei ihm muss es von nun an auf immer bleiben … und gleichwohl sind seitdem immer neue Plane, unter welchen der neueste oft nur die Wiederherstellung eines alten war, auf die Bahn gebracht worden, und es wird auch an mehr letzten Entwürfen fernerhin nicht fehlen."
Wäre Immanuel Kant, aus dessen Schrift "Vom Ende aller Dinge" diese Sätze stammen, ein Berliner gewesen, er hätte vielleicht noch hinzugefügt: "Und das ist auch gut so." Kultur lässt sich zwar nicht planen, doch ohne Pläne, ohne Visionen, ohne Träume fängt man keine großen Dinge an. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine inspirierende Tagung, die auch dafür Raum lässt!