Redner(in): Monika Grütters
Datum: 01. September 2015

Untertitel: "´Die Regimentstochter´ ist ein Kunstwerk, das die verborgenen Spuren deutscher Vergangenheit im Alltäglichen sichtbar macht und gleichzeitig vom Wunsch erzählt, diese Spuren zu tilgen" erklärte Monika Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/09/2015-09-01-gruetters-die-regimentstochter-tacita-dean-bonn.html


´Die Regimentstochter´ ist ein Kunstwerk, das die verborgenen Spuren deutscher Vergangenheit im Alltäglichen sichtbar macht und gleichzeitig vom Wunsch erzählt, diese Spuren zu tilgen " erklärte Monika Grütters in ihrer Rede.

Eine junge Frau, die als Waisenkind von französischen Soldaten großgezogen wurde, verliebt sich mitten im Krieg Napoleons gegen Österreich ausgerechnet in einen Tiroler Bauern, der ihretwegen in die feindliche Armee eintritt; seine Angebetete aber bekommt er erst, nachdem standesgemäße Verkupplungsversuche gescheitert sind: Das ist, knapp zusammen gefasst, die Geschichte der "Regimentstochter", die Liebhaber der italienischen Oper als Meisterwerk des Belcanto schätzen - bekannt für hintersinnige Komik, eingängige Musik und eine der schwersten Arien für Tenöre mit neun hohen C ‘ s. Die Regimentstochter ", die wir Ihnen heute präsentieren, erzählt von einem weiten Weg, der die Leichtigkeit dieser Liebesgeschichte mit der Last deutscher Geschichte verbindet; von einem Weg, der die fröhliche Militärseligkeit einer komischen Oper mit der militärischen Gewalt in Zeiten des" totalen Krieges "verknüpft; von einem Weg, der über die Berliner Bühnen der NS-Zeit durch die Hände eines namenlosen Programmheftsammlers über einen Flohmarkt am Berliner Moritzplatz ins Licht bundesdeutscher Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert führt. Die Regimentstochter" ist ein Kunstwerk, das die verborgenen Spuren deutscher Vergangenheit im Alltäglichen sichtbar macht und gleichzeitig vom Wunsch erzählt, diese Spuren zu tilgen. Die Auseinandersetzung mit solchen Ambivalenzen deutscher Erinnerungskultur füllt Museen und Bücherregale - der britischen Künstlerin Tacita Dean aber reichen dazu 36 Programmhefte Berliner Opern- und Theaterhäuser aus der NS-Zeit, darunter das Programm für die titelgebende Oper "Die Regimentstochter". Diese Hefte, ein Zufallsfund am Flohmarkt, tragen Löcher auf der Titelseite, wo einst das Hakenkreuz prangte. Irgendjemand hat es heraus geschnitten. Die Leerstellen, die den Blick auf die - zumindest scheinbar - nicht nationalsozialistisch kontaminierten Seiten frei geben, vereinen sich im Arrangement Tacita Deans zu einer beklemmenden Collage des Verschweigens, Verdrängens, Vergessens.

Fragen, die sich unmittelbar aufdrängen, bleiben unbeantwortet. Wer hat diese Hefte gesammelt? -Naheliegend ist die Vermutung, dass ein Opernliebhaber sie aufbewahrt hat, aus Liebe zur Musik, zum Theater, zur Oper, als persönliche Erinnerung an besondere Abende. Doch wann wurden die Hakenkreuze entfernt - während der NS-Zeit, als Akt des Widerstandes, oder danach? Vor oder nach 1945, im Westen oder im Osten Berlins? Und warum? Aus Opportunismus und vorauseilendem Gehorsam den neuen Machthabern gegenüber? Aus dem Bedürfnis heraus, die eigene Verstrickung in deutsche Schuld, das sich einrichten im Terrorregime zu leugnen? Aus der Erkenntnis heraus, dass es - um es in den bekannten und prägnanten Worten Adornos zu sagen - kein richtiges Leben im falschen gibt? Ja, vielleicht sogar aus tief empfundener Scham und echter Trauer? Die Regimentstochter "schweigt dazu, doch es ist ein beredtes Schweigen, in dem Grundtöne falsch verstandener Vergangenheitsbewältigung anklingen. Tacita Dean selbst hat es in einem Interview so formuliert:" Ich glaube an die Wichtigkeit von gefundenen Objekten und an den unbeabsichtigten Akt. Wer immer die Ausschnitte fertigte, agierte sehr praktisch in einer bestimmten Situation; die Zeit aber verlieh den Taten Bedeutung, ebenso wie die Tatsache, dass die Wohnungsauflösung einer Person in meinen Händen zu etwas Symbolischem werden konnte ( … ) . Man denkt sofort an die Darstellung von Geschichte, an die Notwendigkeit zu verschleiern oder zu filtern, um damit weiterleben zu können."

Was immer im einzelnen die Motive waren, die den Besitzer oder die Besitzerin der Programmhefte zur Schere hat greifen lassen: Aus den Leerstellen spricht der Wunsch abzuschließen mit einer Zeit, an die man nicht erinnert werden möchte - ein Grundmotiv deutscher Nachkriegsgeschichte, das einer schonungslos ehrlichen Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus lange im Weg stand.

Vielleicht haben einige von Ihnen den großartigen Film "Im Labyrinth des Schweigens" über die Vorgeschichte der Frankfurter Auschwitzprozesse gesehen, der im November in die deutschen Kinos kam. Er spielt 1958, in der Zeit des Wirtschaftswunders, in der nach den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre zusammen mit Petticoats und Schlagermusik bescheidener Wohlstand aufkam - eine Zeit, in der Auschwitz, so ungeheuerlich das aus heutiger Sicht klingt, den meisten Deutschen noch kein Begriff war, schon gar nicht der Inbegriff barbarischer Menschheitsverbrechen und deutscher Schuld. Es geht darin um einen jungen Staatsanwalt, dem ein sonderbarer Vorfall zu Ohren kommt: Ein Mann will einen ehemaligen KZ-Aufseher wieder erkannt haben, der ihn in Auschwitz fast zu Tode gequält hat. Der aufstrebende Jung-Staatsanwalt nimmt die Ermittlungen auf - gegen den Willen seines direkten Vorgesetzten und trotz der Mauern des Schweigens und Leugnens, auf die er stößt, wohin auch immer er sich wendet. Einzig der jüdische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer - gespielt von einem großartigen Gert Voss in seiner letzten Rolle - unterstützt ihn.

Der Film ist aus zwei Gründen beklemmend und emotional aufwühlend: Zum einen, weil man als Zuschauer von Anfang an weiß, was der Staatsanwalt mühsam und mit wachsendem Entsetzen herausfinden muss: dass es Tausende von Tätern und über eine Million Opfer gibt - aber niemanden, der davon etwas gewusst haben will, und kaum jemanden, der darüber etwas erfahren will. Emotional aufwühlend ist der Film zum anderen deshalb, weil man versteht, welche zwischenmenschlichen Verwüstungen die Erkenntnis der Schuld geliebter Menschen hinterlässt. Dem Staatsanwalt, der seinen im Krieg gefallenen Vater als Helden verehrte, bleibt die Einsicht nicht erspart, dass auch sein Vater Nationalsozialist war und sich schuldig gemacht hat.

Man will kein Mitleid empfinden in diesem Moment, wissend um die Ungeheuerlichkeit der Nazi-Verbrechen, und doch kommen einem die Tränen, als für den jungen Juristen mit dem Bild vom Vater eine ganze Welt zerbricht. Die allgegenwärtigen, nur unter Schmerzen frei zu legenden Verstrickungen in Schuld werden hier genauso spürbar wie die moralische Pflicht, diesen Schmerz auszuhalten.

70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und 76 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs - heute auf den Tag genau jährt sich der deutsche Überfall auf Polen zum 76. Mal - gehören die offene Auseinandersetzung mit den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten und das breite gesellschaftliche Bewusstsein für die Verantwortung, die daraus erwächst, zu den hart erkämpften, moralischen Errungenschaften unseres Landes. Doch bis heute begleitet uns die Versuchung, Vergangenes zu verdrängen. Einer ( Bertelsmann- ) Studie zufolge, die Anfang dieses Jahres erschien, wollen 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung "hinter sich lassen". 58 Prozent möchten definitiv einen "Schlussstrich" ziehen. Diese Zahlen seien, so der Autor der Studie, seit 20 Jahren stabil. Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz ", hat Bundespräsident Gauck in seiner Rede zum 70. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung im Deutschen Bundestag gesagt. Dass der dunkle Teil unserer Identität durch Verschweigen und Verdrängen nicht verschwindet, ja dass er selbst dort wieder sichtbar wird, wo man ihn zu tilgen trachtet, auch das zeigt Tacita Deans" Regimentstochter ".

Es freut mich sehr, dass dieses Werk nun einen Platz in genau der Sammlung bekommt, in die es angesichts seiner zeitgeschichtlichen Bedeutung meines Erachtens unbedingt gehört - einen Platz in dem Museum, das wie kein zweites in Deutschland die deutsche Geschichte ab 1945 in all ihren Facetten illustriert und sich dabei auch den Auswirkungen des Nationalsozialismus auf das politische und kulturelle Leben im Nachkriegsdeutschland widmet.

Tacita Dean hat sich schon mit früheren Arbeiten den Ruf einer "Erinnerungskünstlerin" erworben - schade, dass sie heute nicht hier sein kann! Sie ist - um sie Ihnen kurz vorzustellen - 1965 im britischen Canterbury geboren, feierte als Multimedia-Künstlerin international Erfolge, so etwa in einer Einzelausstellung im New Yorker Guggenheim Museum, bei der Biennale in Venedig, oder der documenta, und kam im Jahr 2000 als Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramm des DAAD nach Berlin, wo sie für lange Jahre eine Wahlheimat fand. So ist Tacita Dean - die Sie, lieber Herr Meschede, damals als Leiter des Programms nach Deutschland geholt haben - auch ein prominentes Beispiel dafür, was Berlin diesem renommierten Stipendienprogramm des DAAD verdankt: In Zeiten der deutschen Teilung war es die Nabelschnur des eingemauerten West-Berlin zur freien Welt, und bis heute belebt es Berlins internationale Kunstszene.

Eine lebendige Kunstszene können wir uns nicht nur für Berlin, sondern für unser Land insgesamt nur wünschen, meine Damen und Herren. Deutschland musste sich Demokratie und Freiheit in einem von der nationalsozialistischen Barbarei auch geistig und kulturell verwüsteten Land mühsam wieder erarbeiten und hat die Freiheit der Kunst aus gutem Grund in den Verfassungsrang erhoben. Die Kunstfreiheit - das ist die Lehre, die wir aus zwei Diktaturen gezogen haben - ist so wie die Meinungsfreiheit konstitutiv für eine Demokratie. Kreative und Intellektuelle sind das Korrektiv einer Gesellschaft. Mit ihren Fragen, ihren Zweifeln, ihren Provokationen beleben sie den demokratischen Diskurs und sind so imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und damit auch vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu bewahren. Sie verhindern, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Die Freiheit der Kunst zu schützen, ist deshalb heute oberster Grundsatz, vornehmste Pflicht unserer Kulturpolitik.

Pablo Picasso hat einmal gesagt: "Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt." Wenn Kunst, so wie "Die Regimentstochter", verdrängte Wahrheiten sichtbar macht, sollten möglichst viele Menschen die Chance haben, sie im zeithistorischen Kontext zu erleben. Ich wünsche diesem Werk hier im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aufmerksame Besucherinnen und Besucher, die sich auf die Fragen einlassen, die es stellt, und die die Wahrheiten hören, von denen es erzählt.