Redner(in): Angela Merkel
Datum: 09. September 2015

Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/09/2015-09-10-rede-deutscher-bundestag.html


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Unsere Wirtschaft ist stark, unser Arbeitsmarkt robust. In vielen Branchen werden Fachkräfte sogar regelrecht gesucht. Das heißt, man kann sagen, Deutschland ist in diesen Monaten in guter Verfassung.

Ein entscheidender Grund bei Weitem nicht der einzige, warum Deutschland stark ist, liegt in der soliden Finanz- und Haushaltspolitik dieser Bundesregierung.

Wir sind den Weg der wachstumsorientierten Konsolidierung gegangen, und er hat sich bewährt. Das gibt uns den nötigen Rückhalt und macht uns voll handlungsfähig. Wir haben im vergangenen Jahr mit dem Haushalt für 2015 einen historischen Wendepunkt erreicht: keine neuen Schulden. Und das gilt auch weiter für die mittelfristige Finanzplanung.

Das heißt, Deutschlands Finanzen stehen auf einem soliden Fundament. Das ist wiederum einer der Gründe dafür, dass sich auch die wirtschaftspolitische Halbzeitbilanz der Bundesregierung mehr als sehen lassen kann. Die Wirtschaft wächst deutlich. Wir haben eine Rekordbeschäftigung. Die Zahl der Erwerbstätigen ist im Juli auf knapp 43Millionen Personen gestiegen. Das waren 160000 mehr als im Vorjahr. Was ich besonders bemerkenswert und wichtig finde: Der Anstieg geht auf mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zurück. Das ist ja genau unser Ziel.

Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 1991 nicht mehr. Die bundesweite Arbeitslosenquote lag im August bei 6, 4Prozent und damit 0, 3Prozentpunkte unter dem Vorjahresniveau. Wir haben mit einer Quote von 7, 7Prozent immer noch zu hoch, aber immerhin die niedrigste Erwerbslosigkeit unter den Jugendlichen in der Europäischen Union.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben mehr Geld in der Tasche. Seit Amtsantritt dieser Bundesregierung sind die Löhne in jedem Quartal stärker gestiegen als die Inflation. Die deutschen Exporte erreichen einen neuen Höchststand. Das alles geschieht in einem Umfeld, das ja bei Weitem nicht nur als stabil bezeichnet werden kann. Die Weltwirtschaftslage ist nicht völlig ohne Risiken. Die Schwellenländer gehen durch eine schwierige Phase. Aber wir als Bundesregierung rechnen mit einem Wirtschaftswachstum von 1, 8Prozent in diesem und auch im nächsten Jahr.

Solide Finanzen das zeigt sich in diesen Tagen machen es möglich, dass wir auf plötzlich auftretende neue Herausforderungen reagieren können, wie jetzt im Haushaltsplan für 2016. Es sind sechs Milliarden Euro Mehrausgaben vorgesehen, davon drei Milliarden Euro für den Bund und drei Milliarden Euro für die Unterstützung von Ländern und Kommunen.

Nachhaltige Haushaltspolitik das hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt eröffnet eben auch Spielräume, Möglichkeiten für zukunftsorientierte Investitionen. Wir haben wichtige Impulse gesetzt: in der Infrastruktur, bei Forschung und Entwicklung, in der Energie- und Klimapolitik und im digitalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Vor allem die Verkehrsinvestitionen sind deutlich erhöht worden. Wir geben in dieser Legislaturperiode fünf Milliarden Euro zusätzlich für Verkehrsinfrastruktur aus. An einigen Stellen sind die Planungen noch gar nicht so weit fortgeschritten, dass das Geld auch ausgegeben werden kann. Aber es gibt Bundesländer, die Reserven haben.

Hinzu kommen weitere 4, 35Milliarden Euro aus dem Investitionspaket 2016 bis 2018. Wir haben 2009 die Breitbandstrategie der Bundesregierung gestartet, und sie zahlt sich aus: Fast 70Prozent der Haushalte haben heute Bandbreiten von mindestens 50Megabit pro Sekunde Anfang 2010 waren es nur 39Prozent, und bis 2018 wird es eine flächendeckende Breitbandversorgung geben, auch im ländlichen Raum.

Meine Damen und Herren, wir haben nicht nur an Bundesinvestitionen gedacht. Wir wissen, dass die Kommunen die wichtigste Ebene für öffentliche Investitionen sind. Die Kommunen haben auch Steuermehreinnahmen, aber die Finanzlage der Kommunen insgesamt ist unterschiedlich. Deshalb unterstützen wir die Kommunen so sehr, wie das nie zuvor geschehen ist. Aber wir haben noch einen besonderen Schwerpunkt gesetzt: Der Bund wird gerade die finanzschwachen Kommunen mit einem Sonderfonds für Zukunftsinvestitionen unterstützen. Für die Jahre 2015 bis 2018 sind dafür, zusätzlich zu den normalen und für alle Kommunen geltenden finanziellen Hilfen, 3, 5Milliarden Euro vorgesehen. Ich glaube, das ist ein absolut richtiger Akzent.

Eines der zentralen Vorhaben dieser Bundesregierung ist und bleibt die Energiewende. Wir haben mit dem Kabinettsbeschluss vom 1. Juli dieses Jahres wichtige Weichen gestellt, damit die Energiewende erfolgreich umgesetzt werden kann. Wir haben den Strommarkt zu einem Strommarkt 2.0 weiterentwickelt. Wir haben klare Entscheidungen getroffen und damit auch für Berechenbarkeit der Investitionen bezüglich des Netzausbaus gesorgt. Wir haben mehr finanzielle Mittel für den Klimaschutz bereitgestellt und die entsprechenden Weichen gestellt, um unsere Klimaziele zu erreichen. Und wir haben im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Kernenergie noch einmal deutlich gemacht, dass die Sicherheit während der Restbetriebslaufzeit und beim Abbau von Kernkraftwerken unbedingt zu gewährleisten ist. Das gilt auch für die Entsorgung radioaktiver Abfälle. Die Bundesregierung geht dabei vom Grundsatz aus, dass die Kosten von den Verursachern zu tragen sind.

Unbeschadet aller uns in diesen Tagen beschäftigenden Herausforderungen dürfen wir nicht vergessen, dass wir einen qualitativen Wandel unseres Arbeitslebens, unseres gesellschaftlichen Lebens durchlaufen, und zwar durch die Digitalisierung. Und die Bundesregierung antwortet darauf. Wir wissen, dass das Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen betrifft. Mit dem Regierungsprogramm "Digitale Agenda 20142017" wird die Bundesregierung den digitalen Wandel aktiv mitgestalten. Wir werden auf der Kabinettsklausur am Dienstag der kommenden Woche die Digitalisierung als Schwerpunkt haben und über Themen wie Industrie 4.0, automatisiertes Fahren, Cybersicherheit und E-Health sprechen wie über viele andere Themen.

Nur wenn wir wirklich verstehen, was durch die Digitalisierung passiert, wird es auf Dauer gelingen, hochprofitable Wertschöpfungsketten in Deutschland zu halten. Unser Plus in diesen Tagen ist, dass der Anteil der industriellen Produktion in Deutschland im internationalen Maßstab nach wie vor vergleichsweise hoch ist. Aber in Zukunft werden sich die Wertschöpfungsketten ändern. Die Frage der Datenverarbeitung wird eine wesentliche Rolle spielen. Wenn wir diesen Prozess der Wertschöpfung aus Daten nicht zeitnah mitgestalten, wenn wir nicht die richtigen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dann laufen wir Gefahr, mit unserer industriellen Produktion zu einer verlängerten Werkbank zu werden, und das muss verhindert werden. Ich glaube, das können wir schaffen. Auf der europäischen Ebene werden mit der Datenschutzgrundverordnung, die jetzt beraten wird, wichtige Weichen gestellt. Im Übrigen brauchen wir eine europäische Strategie für die Digitalisierung. Glücklicherweise gibt es auch diesbezüglich erste Fortschritte.

Wir arbeiten genauso beharrlich daran, die europäische Staatsschuldenkrise zu überwinden. Wir haben in diesem Sommer ein umfassendes Programm auf den Weg gebracht, das Griechenland eine Chance bietet, in der klassischen Herangehensweise Solidarität und Eigenverantwortung wieder zu Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung zu kommen. Wenn wir auf den Euroraum insgesamt blicken, können wir sagen: Es gibt eine wirtschaftliche Erholung, die Wirtschaftslage ist besser als noch vor einem Jahr, und insbesondere reformstarke Euroländer wie Spanien und Irland wachsen überdurchschnittlich. Spanien wächst jetzt so schnell, wie es vor der Krise gewachsen ist. Man kann hier nur sagen, dass sich der Reformweg gelohnt hat.

Ermutigend ist, dass die sogenannte Staatsschuldenquote 2015 erstmals abnehmen wird, im Euroraum auf 94Prozent des BIP, im gesamten EU-Raum auf 88Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn wir uns die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts anschauen, müssen wir ehrlich sagen: Auch Deutschland hat noch eine Wegstrecke vor sich. Länder wie Polen, Schweden und Dänemark haben wesentlich weniger Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt als wir. Also müssen auch wir uns weiter anstrengen.

Ich halte es zur Schaffung von Wachstumsvoraussetzungen für absolut wichtig, dass wir die Freihandelsabkommen intensiv weiterverhandeln. Wir sehen die Chancen dieser Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada. Ich will darauf hinweisen, dass wir Punkt für Punkt das ist hier nicht der Rahmen dafür all das, was darüber erzählt wird, entkräften. Es handelt sich um ein Freihandelsabkommen zwischen zwei Wirtschaftsräumen der Welt mit den höchsten Standards, sowohl was Verbraucherschutz als auch was Umweltschutz anbelangt. Wenn diese Regionen es schaffen, ein faires gemeinsames Abkommen zu schließen, wird dies Wirkung haben auf alle anderen Handelsabkommen weltweit, die sich heute fast gar nicht um Verbraucherschutzstandards, um soziale Standards oder um Umweltschutzstandards kümmern. Das könnte ein Freihandelsabkommen der Zukunft sein, weil es darin nicht einfach nur um Zölle geht, sondern um sehr viel mehr. Damit können wir Maßstäbe setzen.

Auch wenn wir viel über Infrastrukturprojekte sprechen, über die Energiewende, über die Digitalisierung und über die Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise, so steht doch im Zentrum unserer Politik immer auch die Frage: Was bedeutet das für die Menschen? Der einzelne Mensch in seiner Lebenssituation in unserem Land zählt für uns. Deshalb möchte ich heute ein Thema herausgreifen, bei dem die Große Koalition exemplarisch gezeigt hat, dass sie sich gerade auch um die Sorgen und Nöte der Menschen kümmert. Es geht um die Pflege alter oder kranker Menschen, die das gilt für fast jede Familie die Angehörigen vor gewaltige Herausforderungen stellt. Wir haben mit dem Pflegestärkungsgesetz, das zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft trat, einen ersten Schritt gemacht. Damals haben wir unter anderem deutliche Verbesserungen im Bereich der ambulanten Pflege beschlossen.

Jetzt unternehmen wir einen zweiten Schritt, und das ist ein revolutionärer Schritt. Viele werden sich erinnern, wie lange wir über den neuen Pflegebegriff diskutiert haben.

Richtig. Es war eine lange, ausführliche Diskussion einen Teil der Verzögerungen nehme ich auf meine Kappe, weil uns wichtig war, dass wir sicherstellen, dass der neue Pflegebegriff körperliche, geistige und psychische Einschränkungen gleichermaßen berücksichtigt.

Wir hatten ja schon einen ersten Schritt im Hinblick auf Demenzerkrankungen gemacht. Aber genauso wichtig war mir und uns, dass niemand durch den neuen Pflegebegriff in eine Situation kommt, in der er sich schlechter stellt und nicht versteht, warum wir eine Pflegebedürftigkeit gegen eine andere ausspielen. Das haben wir sorgsam geprüft, und jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, der mit Sicherheit für alle, die der Pflege bedürfen, eine Verbesserung mit sich bringt. Wir haben dafür auch eine Beitragserhöhung von 0, 2Prozent beschlossen. Aber ich glaube, das ist gut investiertes Geld für Menschen in einer schwierigen Lebenslage und ihre Familien. Deshalb halte ich das für einen ganz wichtigen Schritt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stelle überhaupt nicht in Abrede, dass noch viel zu tun ist in Deutschland. Aber wenn wir sehen, was um uns herum in der Welt passiert, dann möchte ich heute hier auch einmal sagen: Es ist ein Privileg, und es ist ein Glück, in guten demokratischen Verhältnissen zu leben und über einen Haushaltsentwurf wie diesen zu sprechen. Ich sage das auch mit Blick auf 25Jahre deutsche Einheit, meine Damen und Herren.

Das ist wirklich nicht überall auf der Welt so. Denken wir zum Beispiel nur an die Lage vor unserer eigenen Haustür, nämlich in der Ukraine, die uns unverändert Sorgen macht. Die Achtung des Rechts ist unabdingbare Voraussetzung für ein friedliches und partnerschaftliches Zusammenleben. Durch die Annexion der Krim und den von Russland unterstützten Separatismus in der Ostukraine hat Russland diese Ordnung fundamental verletzt.

Wir haben uns in den letzten Monaten immer und immer wieder dafür eingesetzt, dass die Krise in der Ukraine auf diplomatischem Weg gelöst werden kann. Das Ziel dabei ist, dass die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt werden kann. Das Maßnahmenpaket von Minsk wurde im Februar beschlossen. Es ist nach wie vor Richtschnur auf diesem Weg. Wir haben seit Anfang September nach vielen Rückschlägen einen immer noch fragilen, aber etwas verbesserten Waffenstillstand. Aber wir wissen, wir sind längst nicht am Ziel.

Ich darf Ihnen sagen, dass die Bundesregierung, der Bundesaußenminister und auch ich, gemeinsam immer und immer wieder auch im Normandie-Format zusammen mit dem französischen Außenminister und dem französischen Präsidenten darüber wachen werden und Anstrengungen unternehmen werden, um diesen Prozess voranzubringen, der jetzt auch in eine entscheidende politische Phase gekommen ist, was Verfassungsänderungen anbelangt, was die Frage von Lokalwahlen anbelangt. Wir sind da längst nicht über den Berg. Aber wir werden in unseren Bemühungen nicht nachlassen, weil wir nur diesen diplomatischen Weg sehen, meine Damen und Herren, und den zu gehen müssen wir immer und immer wieder versuchen.

Ich möchte mich in diesem Zusammenhang auch bei der OSZE bedanken. Die Beobachter der OSZE leisten hier eine herausragende Arbeit. Manch einer hatte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit schon ein bisschen sozusagen in die Reihe der auslaufenden Organisationen gestellt. Ich kann nur sagen: Wenn wir sie nicht hätten, wären wir in diesem Prozess mit der Ukraine längst nicht an dem Punkt. Deshalb ist es auch gut, dass Deutschland im nächsten Jahr den Vorsitz übernimmt. Wir arbeiten heute schon mit der Schweiz und Serbien in der Troika zusammen und werden das nächstes Jahr fortsetzen.

Meine Damen und Herren, trotz dieses tiefgreifenden Konflikts mit Russland gibt es in diesem Jahr in der internationalen Politik auch manches, das positiv überrascht und das Mut macht, zum Beispiel die Einigung der E3, also unter Beteiligung Russlands und Chinas, mit dem Iran auf einen gemeinsamen umfassenden Aktionsplan im Zusammenhang mit dem Nuklearprogramm. Dieser Aktionsplan beruht nicht auf Vertrauen oder der Vermutung, wie der Iran in zehn oder 15Jahren aussehen könnte, sondern auf sehr detaillierter Kontrolle, um den Weg Irans zu einer Nuklearwaffe zu stoppen.

Ich möchte an dieser Stelle unserem Außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier ganz herzlich danken. Er hat wirklich Stunden und Aberstunden und Tage in Genf verbracht. Danke für Ihr Mittun.

Positives sehen wir auch bei den Vereinten Nationen; denn die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben sich in New York auf eine 2030-Agenda für eine nachhaltige Entwicklung verständigt. Übernächste Woche sollen die Texte von den Staats- und Regierungschefs offiziell verabschiedet werden. Erstmals haben wir einen universell gültigen Aktionsplan mit 17konkreten Zielen. Armutsreduzierung wird mit dem Ziel weltweiter nachhaltiger Entwicklung verbunden. Das ist ein Fortschritt.

Ich glaube, gerade diese Verabschiedung der 2030-Agenda gibt auch einen Impuls zu einer anderen wichtigen internationalen Tagung in diesem Jahr, nämlich der Klimakonferenz in Paris. Hier arbeiten Deutschland und Frankreich sehr eng zusammen. Wir wollen alles tun, damit die französischen Gastgeber eine erfolgreiche Konferenz durchführen können. Nach Kopenhagen brauchen wir diesen Erfolg. Auf der Welt geschieht vieles, was uns optimistisch stimmt.

Aber die wenigen internationalen Lichtblicke können nun wirklich nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Jahr 2015 für so viele Länder und vor allen Dingen für so viele Menschen bislang ein furchtbares Jahr ist. Nur wenige Flugstunden von Europa entfernt gibt es Krieg, Terror, Tod und Verzweiflung. Nie nach dem Zweiten Weltkrieg hat es so viele Flüchtlinge weltweit gegeben wie im Augenblick. In Syrien hat der Krieg inzwischen 250000Menschenleben gekostet. Innerhalb des Landes sind über sieben Millionen Menschen auf der Flucht. Vier Millionen Syrer haben in den Nachbarländern, in Jordanien, im Libanon, in der Türkei, Zuflucht gefunden.

Die Terrororganisation "Islamischer Staat" kontrolliert weite Gebiete im Osten Syriens und im Nordwesten des Iraks. Deutschland hat hier Verantwortung übernommen. Ich erinnere an unseren Beschluss, den Peschmerga im Norden des Iraks zu helfen. Das war ein völlig neuer Schritt in unserem Herangehen, weil wir nicht die Augen verschließen konnten vor der Verfolgung der Jesiden, vor der Verfolgung anderer, auch vor der Verfolgung von Muslimen. Wir haben uns entschlossen, zu helfen, und diese Hilfe wird auch anerkannt. 3000irakisch-kurdische Sicherheitskräfte wurden ausgebildet. Sicherlich werden wir in Zukunft auch weiter über Möglichkeiten der Ausbildung sprechen.

Der Kampf gegen den "Islamischen Staat" ist eine der großen Herausforderungen. Es ist noch nicht sicher, dass er erfolgreich sein wird, aber wir müssen daran arbeiten. Der Kampf gegen den "Islamischen Staat" bringt uns auch immer wieder in Erinnerung, dass Kämpfer dort aus unseren Ländern kommen, aus den Ländern Deutschland, Großbritannien, Frankreich, aus europäischen Ländern. Das heißt, wir können nicht sagen: "Das ist da irgendwo ein Problem", sondern es beschäftigt auch uns. Das ist ein Element davon, dass wir insgesamt nachdrücklich spüren, dass diese Konflikte in Syrien, im Irak nicht irgendwo stattfinden, sondern letztlich vor den Toren Europas. Diese verheerenden Konflikte sind nicht etwas, das man nur im Fernsehen sieht, sondern ihre Folgen erreichen uns.

Eine dieser Folgen ist, dass voraussichtlich bis zu 800000Menschen einen Antrag auf Status als Bürgerkriegsflüchtling oder auf politisches Asyl stellen werden. Das wäre die höchste in Deutschland jemals registrierte Zahl. So weit die Zahlen. Doch dahinter stehen ja Schicksale. Wir alle verfolgen, welche Tragödien sich abspielen, ob es Fotos von toten Kindern sind, die auf entsetzliche Art und Weise umgekommen sind, oder ob es das entsetzliche Leid und der Tod der Menschen in dem Lkw waren. Sie stehen exemplarisch für viele, viele Schicksale.

Deshalb sind wir in der Verantwortung. Diese Verantwortung nehmen wir wahr. Sie fordert uns. Bund, Länder und Kommunen wollen das in guter Zusammenarbeit schaffen und arbeiten daran. Heute findet ein weiteres Bund-Länder-Treffen statt. Wir haben bereits im Juni gesagt: Das ist eine nationale Aufgabe. Am 24. September werden wir dann eine Sonder-MPK mit der Bundesregierung durchführen, auf der wir hoffentlich die notwendigen Beschlüsse fassen.

Die Koalition hat im Koalitionsausschuss am Sonntag gemeinsame Positionen erarbeitet, wie wir die richtige Antwort auf die augenblickliche Asyl- und Flüchtlingssituation geben. Es ist klar: Wir werden nicht einfach weitermachen können wie bisher, sondern wir werden Regelungen überdenken müssen, wir werden Regelungen zeitweise außer Kraft setzen müssen, wir müssen Abläufe verbessern, wir müssen Entscheidungen schneller fällen. Wir brauchen uns auch nicht gegenseitig die Schuld zuzuschieben, wer dies und jenes noch nicht gemacht hat, sondern wir müssen jetzt einfach anpacken und alle konkreten Hindernisse aus dem Weg räumen, um den Menschen, die zu uns kommen, zu helfen und ein friedliches Zusammenleben in unserem Land zu gewährleisten.

So wie wir schnell auf die Finanz- und Wirtschaftskrise reagiert haben, werden wir auch schnell das ist mit den Fraktionen besprochen auf die Herausforderungen in diesem Zusammenhang reagieren. Wir wollen noch im Oktober dieses Jahres das Paket beschließen, das die notwendigen Rahmenbedingungen schafft. Ich will hier nicht die einzelnen Maßnahmen referieren; die kennen Sie. Wichtig ist, dass wir in dieser Situation über ein paar grundsätzliche Gedanken sprechen.

Erstens. Diejenigen, die als Asylsuchende zu uns kommen oder als Kriegsflüchtlinge anerkannt werden, brauchen unsere Hilfe, damit sie sich schnell integrieren können. Sie brauchen Hilfe, um schnell Deutsch zu lernen. Sie sollen schnell eine Arbeit finden. Viele von ihnen werden Neubürger unseres Landes werden. Wir sollten aus den Erfahrungen der 60er-Jahre, als wir Gastarbeiter zu uns gerufen haben, lernen und von Anfang an der Integration allerhöchste Priorität einräumen.

Wenn wir es gut machen, dann birgt das mehr Chancen als Risiken.

Zweitens. Diejenigen, die nicht vor politischer Verfolgung oder Krieg flüchten, sondern aus wirtschaftlicher Not zu uns kommen, werden nicht in Deutschland bleiben können.

So schwer ihr persönliches Leben auch sein mag, so gehört dies dennoch zur Wahrheit, und wir sprechen sie auch aus. Wir werden die Anerkennungs- und Registrierungsverfahren und auch die Rückführungen deutlich schneller und konsequenter durchführen müssen als bislang.

Drittens. Ein Land, das viele, die neu zu uns kommen, willkommen heißt, das auch viele willkommen heißt, die aus ganz anderen Kulturkreisen kommen, muss auch deutlich machen, welche Regeln bei uns gelten. Auch das gehört zu einer offenen Gesellschaft. Wir dürfen nicht wegsehen, wenn sich Milieus verfestigen, die Integration ablehnen, oder wenn sich Parallelgesellschaften herausbilden. Hier darf es keine Toleranz geben; auch das müssen wir von Anfang an sagen.

Viertens. Wir werden nicht zulassen, dass unsere Grundwerte und unsere Menschlichkeit von Fremdenfeinden verraten werden. Abstoßend und beschämend ist es, wenn Flüchtlingsheime angegriffen werden, wenn Menschen angepöbelt werden, wenn Menschen angegriffen werden und wenn dumpfe Hassbotschaften wo auch immer verbreitet werden. Wir werden mit der ganzen Härte des Rechtsstaates dagegen vorgehen auch im Internet, was der Justizminister jetzt ja tut.

Fünftens. Die Bewältigung der aktuellen Flüchtlingskrise gelingt nicht allein auf nationaler Ebene. Sie ist eine Herausforderung für die Europäische Union, für jeden Mitgliedstaat in der Europäischen Union, und das nicht nur in praktischer Hinsicht, weil wir vielleicht sagen: Wir haben sehr viele Flüchtlinge und andere wenige. Nein! Wenn Europa in der Flüchtlingsfrage versagen würde, dann ginge ein entscheidender Gründungsimpuls eines geeinten Europas verloren, nämlich die enge Verbindung mit den universellen Menschenrechten, die Europa von Anfang an bestimmt hat und die auch weiter gelten muss. Dafür werden wir gemeinsam kämpfen, meine Damen und Herren.

Deshalb müssen wir in Europa zu tragfähigen und solidarischen Lösungen kommen. Die Westbalkankonferenz in Wien vor wenigen Tagen war ein guter Beitrag.

Tragödien, wie die erstickten Flüchtlinge, die in einem Lkw in Österreich gefunden wurden, dürfen sich nicht wiederholen. Wir müssen die Situation auf dem Mittelmeer, aber auch die zwischen der Türkei und Griechenland viel besser unter Kontrolle bekommen. Wir müssen effektiv gegen Schlepperbanden vorgehen. Hierfür gibt es jetzt den Einstieg in die zweite Phase der entsprechenden Operationen auf dem Mittelmeer.

Die deutschen Schiffe haben sich an der Rettung von Flüchtlingen beteiligt, und ich möchte den Soldatinnen und Soldaten der Marine, die bereits mehr als 7200Flüchtlinge aus Seenot gerettet haben, ausdrücklich einen herzlichen Dank sagen.

Wir müssen viel enger mit den Transit- und Herkunftsstaaten zusammenarbeiten. Auch sie müssen sichtbar Verantwortung übernehmen. Wir werden im November einen Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs mit den Vertretern der Afrikanischen Union auf Malta haben und darüber reden. Die Europäische Kommission wird das vorbereiten. Daneben werden wir auch das Gespräch mit der Türkei intensivieren müssen. Denken wir nur einmal an die Route, die von der Türkei in Richtung Ungarn und dann nach Österreich und Deutschland führt.

Ich habe gestern mit dem türkischen Ministerpräsidenten telefoniert. Wir werden die Gespräche fortsetzen. Donald Tusk ist heute als Ratspräsident in der Türkei, um Gespräche mit dem Präsidenten Erdogan und mit dem Ministerpräsidenten zu führen. Hierbei wird es auf der einen Seite darum gehen, zu sagen: "Ja, die Türkei hat in den letzten Jahren sehr viel Verantwortung übernommen, und vielleicht haben wir das auch für selbstverständlich genommen und einfach gedacht, das werde schon so weitergehen", auf der anderen Seite müssen wir aber auch eine vernünftige Kooperation mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage finden. Denn es kann nicht sein die Türkei und Griechenland sind NATO-Mitgliedstaaten, dass Schlepper sozusagen das bestimmende Element in einer Region sind, in der diese beiden Länder ihre Grenze haben. Das muss verändert werden.

Wir brauchen innerhalb Europas natürlich Solidarität. Zur Stunde hält Jean-Claude Juncker seine Rede zur Lage der Union. Er wird Vorschläge für einen ersten Schritt der fairen Verteilung unterbreiten. Insgesamt brauchen wir aber eine verbindliche Einigung über eine verbindliche Verteilung von Flüchtlingen nach fairen Kriterien zwischen allen Mitgliedstaaten, also eine andere Verteilung als jetzt noch. Es wäre ja schon ein wichtiger Schritt, wenn wir das erreichen würden, was Jean-Claude Juncker heute vorschlägt, zum Beispiel eine erste Diskussion auf dem Rat der Innen- und Justizminister am nächsten Montag.

Wir können nicht nur sagen: "Wir verteilen eine bestimmte Zahl von Flüchtlingen", sondern wir müssen auch überlegen, wie wir mit den Flüchtlingen, die bei uns ankommen, umgehen. Man kann hier keine Höchstgrenze setzen und sagen, dass man sich darüber hinaus nicht darum kümmert,

sodass dies die Sache von zwei, drei oder vier Ländern ist, sondern es muss hier eine europäische Verantwortung geben. Nur so werden sich alle Mitgliedstaaten auch um die Behebung von Fluchtursachen und internationalen Konflikten kümmern. Auch das ist eine Gemeinschaftsaufgabe.

Sechstens. Die geopolitische Situation, ob es der Bürgerkrieg in Syrien ist, ob es der islamistische Terror im Nordirak ist, ob es die politischen Systeme in Eritrea oder Somalia sind, wird sich nicht über Nacht ändern. Selten haben wir in diesem Haus gespürt, wie eng die Innenpolitik, die Entwicklungspolitik und die Außenpolitik zusammenhängen. In Europa wird oft gesagt, es gebe keinen Unterschied mehr, ob die europäische Politik ein wenig mehr Innen- oder mehr Außenpolitik ist. Die Globalisierung bringt uns in eine Situation, in der wir plötzlich merken: Wenn wir auch über die europäischen Grenzen hinaus außen- und entwicklungspolitisch etwas nicht tun, dann kann das innenpolitisch gravierende Folgen haben. Das davon bin ich zutiefst überzeugt wird die Realität des 21. Jahrhunderts sein. Das ist der Anfang und nicht das Ende einer Entwicklung, und wir müssen lernen, darauf zu reagieren. Daran arbeiten wir.

Siebtens. Wir erleben immer wieder, dass es in Europa Herausforderungen gibt, bei denen es ganz besonders auf uns ankommt, auf Deutschland, auf Deutschlands Kraft und auf Deutschlands Stärke. Sehr oft haben wir diese Herausforderungen zusammen mit Frankreich bewältigt. Auch jetzt haben wieder der französische Präsident und ich, nach Vorarbeit der Innenminister, Vorschläge an die Kommission gemacht, wie wir die Flüchtlingssituation besser meistern können. Aber wir erleben auch Situationen wie jetzt am Wochenende, als wir zum Beispiel gemeinsam mit Österreich eine Entscheidung gefällt haben. Und wir haben diese Entscheidung aus humanitären Gründen gefällt.

Wir wissen: Auch in der Euro-Krise haben wir nicht immer alle zusammengestanden, sondern da stand Deutschland manchmal ganz schön alleine da, so jedenfalls meine Erinnerung. Aber was wir immer wieder erlebt haben das sollte uns Mut machen, ist, dass es genau diese Bereitschaft und diese Kraft Deutschlands sein kann, die schließlich den Weg für eine europäische Lösung freimacht.

Nicht, wenn wir uns verweigern, wird es wahrscheinlich, dass wir eine europäische Lösung finden. Vielmehr wird es dann, wenn wir mutig sind und manchmal vorangehen, wahrscheinlicher, dass wir eine europäische Lösung finden.

Das ist aller Anstrengungen wert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, so groß die Herausforderung auch ist diese Herausforderung ist lang andauernd, und sie ist groß; ich mache mir da überhaupt keine Illusionen, so sehr bin ich überzeugt, dass Deutschland sie bewältigen kann. Mehr noch: Ich bin überzeugt, dass wir es nicht nur können, sondern dass wir, wenn wir es gut machen, wenn wir es mutig angehen, wenn wir nicht verzagt sind, sondern Ideen suchen, wenn wir kreativ sind, letztlich nur gewinnen können. Das sollte uns leiten bei der Bewältigung dieser Herausforderung.

Herzlichen Dank.