Redner(in): Monika Grütters
Datum: 30. September 2015
Untertitel: "25 Jahre Freiheit und Weltoffenheit haben eine literarische Vielfalt entstehen lassen, in der sich die von 1945 bis 1989 erzwungene Teilung in "ostdeutsche" und "westdeutsche" Literatur längst aufgelöst hat. Am Wochenende feiern wir den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung - ein schöner Anlass, mit Autorinnen und Autoren aus allen Bundesländern auf Deutschlandreise zu gehen."
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/09/2015-09-30-gruetters-16-stimmen-16-laender.html
25 Jahre Freiheit und Weltoffenheit haben eine literarische Vielfalt entstehen lassen, in der sich die von 1945 bis 1989 erzwungene Teilung in "ostdeutsche" und "westdeutsche" Literatur längst aufgelöst hat. Am Wochenende feiern wir den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung - ein schöner Anlass, mit Autorinnen und Autoren aus allen Bundesländern auf Deutschlandreise zu gehen."
Anrede,
damals, nach der Wiedervereinigung, als es noch "Ossis" und "Wessis" gab und man im Schatten der vielbeklagten Mauer in den Köpfen seine Vorurteile kultivierte, damals war auch das Verhältnis von Künstlerinnen und Künstlern aus Ost und West nicht ganz unkompliziert. In ihrem hinreißenden Roman "Dichterliebe" schildert Petra Morsbach das Aufeinandertreffen des abgehalfterten, einstigen DDR-Dichterstars Henry mit der von ihm als "Westschnepfe" bezeichneten Nachwuchsautorin Sidonie in einem ostfriesischen Künstlerstipendiatendorf: Diese Sidonie hat tatsächlich erst ein einziges Buch geschrieben. Über die erste Seite bin ich nicht hinaus gekommen, so lapidar und ungelenk ist der Stil, und nun sitzt diese Dilettantin ganz selbstverständlich auf meiner Plastesitzgruppe und fühlt sich als Künstlerin. Ja, ich weiß, es ist nicht meine Sitzgruppe, ( … ) trotzdem ist der Ort geographisch gesehen meine Rasenterrasse, und es belästigt mich, dass sich dauernd irgendwelche Künstlerdarsteller dort niederlassen, um das Künstlerleben zu genießen."
Die Zeiten, in denen an Plastesitzgruppen Ost-West-Konflikte ausgetragen und Reviere abgesteckt wurden, sind glücklicherweise vorbei, meine Damen und Herren. 25 Jahre Freiheit und Weltoffenheit haben eine literarische Vielfalt entstehen lassen, in der sich die von 1945 bis 1989 erzwungene Teilung in "ostdeutsche" und "westdeutsche" Literatur längst aufgelöst hat. Am Wochenende feiern wir den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung - ein schöner Anlass, mit Autorinnen und Autoren aus allen Bundesländern auf Deutschlandreise zu gehen. Dazu laden wir Sie an vier Leseorten hier im Bundeskanzleramt herzlich ein! Folgen Sie dazu bitte einfach den Wegweisern, die Sie am Eingang in Form verschiedenfarbiger Lose erhalten haben.
Wir alle werden, so viel kann ich schon einmal verraten, mit den 16 Stimmen aus 16 Bundesländern eine literarische Deutschlandvermessung erleben, die Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede in Perspektive, Sprache und Erinnerung sichtbar macht - die kulturelle Vielfalt, die Vielstimmigkeit des wiedervereinten Deutschlands. Die 16 Stimmen fügen sich nicht zu einem harmonischen Chor. Nein, sie bleiben für sich und bringen so vielleicht auch Missklänge und Dissonanzen zu Gehör - ein Klangbild künstlerischer und geistiger Freiheit, Zeugnis lebendiger Demokratie und damit Ausdruck jener Werte, für die Hundertausende Menschen im Herbst 1989 in Berlin, Leipzig und anderen Städten der DDR mutig ihre Stimme erhoben haben.
Ich danke den Autorinnen und Autoren Marica Bodrozic, Nora Bossong, Alexander Kluge, Kathrin Schmidt, Nora Gomringer, Kerstin Preiwuß, Thomas Lehr, Tilman Rammstedt, Jan Brandt, Ulla Hahn, Angelika Klüssendorf, Clemens Meyer, Anna Katharina Hahn, Jan Koneffke, Johannes Kühn und Elisabeth Plessen, die heute Abend mit ihren Texten zu diesem vielstimmigen Klangbild des wiedervereinten Deutschlands beitragen! Ganz besonders herzlich begrüße ich auch die vielen Gäste unter uns, die im Jahr 1990 geboren sind und die den vergangenen 25 Jahren ein Gesicht geben. Sie haben sich eine Einladungskarte für den heutigen Abend "erlost". Herzlich willkommen.
Wie lebenswert das Deutschland des Jahres 2015 ist, meine Damen und Herren, kann uns wohl kaum etwas eindringlicher vor Augen führen als die Bilder, die wir in den letzten Wochen im Fernsehen und auf den Titelseiten der Zeitungen gesehen haben und die vielfach denen vom Spätsommer und vom Herbst 1989 ähneln, als Ostdeutsche zu Hundertausenden nach Westdeutschland kamen. Auch heute wieder ist es die Freiheit, die Deutschland - diesmal das wiedervereinte Deutschland - zu einem Sehnsuchtsort macht: zu einem Sehnsuchtsort für Menschen auf der Flucht vor islamistischem Fanatismus, vor Krieg und Verfolgung.
Im Jubiläumsjahr der Wiedervereinigung sind es 800.000 Menschen, die ihre Heimat zurück gelassen haben und mit nichts als ihrer Hoffnung auf Frieden und Freiheit bei uns ankommen - 800.000 Menschen, die nicht nur ein Dach über dem Kopf brauchen, sondern die vielfach neben unserer Sprache auch "Freiheit" erst lernen müssen: dass Frauen und Männer bei uns die gleichen Rechte und Freiheiten haben, zum Beispiel, und dass die Freiheit der Kunst und der Meinung nicht vor religiösen Überzeugungen Halt macht.
Dieses kulturelle Lernen zu fördern, ist eine gewaltige kulturpolitische Aufgabe. Die Kunst, die Literatur kann dabei helfen: Sie kann Worte finden, Übersetzerin sein, wo unterschiedliche Begriffe zu Missverständnisse führen. Sie kann denen eine Stimme geben, die sonst kein Gehör finden. Sie kann uns nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Die Vielstimmigkeit, die wir heute hier im Kleinen erleben, gibt uns darauf sicherlich auch einen Vorgeschmack.
Und wer weiß: Vielleicht, ja hoffentlich! , meine Damen und Herren, wird im Jahr 2040, wenn wir 50 Jahre Wiedervereinigung feiern und man im Kanzleramt unsere Idee einer literarischen Deutschlandreise noch einmal aufgreift, vielleicht wird dann - mit bayerischem, hessischem, hanseatischem oder auch sächsischem Idiom - unter den 16 Stimmen auch eine Stimme aus den Reihen derjenigen vertreten sein, die in diesen Wochen und Monaten zu Hunderttausenden Zuflucht suchen in unserem Land …
Im Hier und Jetzt wünsche ich uns allen aber erst einmal einen inspirierenden, einen ebenso vergnüglichen wie nachdenklichen Literaturabend! Herzlich willkommen im Bundeskanzleramt - und gute Reise, an welche Leseorte auch immer Ihr Los Sie führt!