Redner(in): Monika Grütters
Datum: 10. November 2015

Untertitel: Die "Goldene Erbse" wird jedes Jahr während der Berliner Märchentage an eine Persönlichkeit verliehen, die sich "wie die Märchenhelden für das Gute einsetzen". Kulturstaatsministerin Grütters hielt in diesem Jahr die Laudatio auf den Preisträger, Bundestagspräsident Norbert Lammert.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/11/2015-11-10-gruetters-goldene-erbse.html


Die "Goldene Erbse" wird jedes Jahr während der Berliner Märchentage an eine Persönlichkeit verliehen, die sich "wie die Märchenhelden für das Gute einsetzen". Kulturstaatsministerin Grütters hielt in diesem Jahr die Laudatio auf den Preisträger, Bundestagspräsident Norbert Lammert.

Unter allen Märchenhelden, die dank der Brüder Grimm bis heute unsere Fantasiewelten bevölkern, ist das tapfere Schneiderlein weder der stärkste noch der mutigste. Er siegt mit Chuzpe, einer Mischung aus intelligenter Unverschämtheit und gewitzter Dreistigkeit. Sie erinnern sich bestimmt: Da erschlägt ein ärmlicher Schneider sieben, sich an seinem Marmeladenbrot labende Fliegen, inszeniert sich sodann mit dem fantastischen Slogan "Sieben auf einen Streich" als unerschrockener Kämpfer, zieht damit zuversichtlich hinaus in die Welt, bringt statt mit Gewalt mit Geistesblitzen zwei Riesen, ein Wildschwein und ein Einhorn zur Strecke und erobert damit den Königsthron.

Unser heutiger Preisträger zählt das tapfere Schneiderlein nicht nur explizit zu seinen politischen Vorbildern- er beherrscht dessen Waffen auch selbst ganz meisterhaft: "Sieben auf einen Streich" erledigt er in politischen Debatten mit links. Mit seinen geistreichen Worten nimmt er - wenn auch keine Königreiche, so doch immer - sein Publikum ein, dem er nie nach dem Mund, aber oft ins Gewissen redet. Vor der Schärfe seines Intellekts und den ironischen Spitzen seiner Reden gehen zwar nicht Riesen, Wildschweine und Einhörner in Deckung, aber dafür altgediente Parlaments-Schlachtrösser, furchtlose Leithammel, imposante Salon-Löwen - und manchmal sogar Gregor Gysi. Im Übrigen kenne ich niemanden sonst, der es schafft, seine Zuhörer - wenn nötig - mit allen Raffinessen der Redekunst verbal in den Schwitzkasten zu nehmen und dafür von eben diesen Zuhörern auch noch frenetisch beklatscht zu werden - so beispielsweise, wenn er vor hochrangigen Führungskräften über Wirtschaftsethik im Allgemeinen und das Fehlverhalten manch hochrangiger Führungskräfte im Besonderen spricht. Mit dieser Chuzpe eines tapferen Schneiderlein verkörpert er das, was er selbst immer wieder leidenschaftlich verteidigt: die Freiheit des Denkens, den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, die Kraft des besseren Arguments, die Überlegenheit des Wortes, die Fähigkeit zum Dialog im Pluralismus der Weltanschauungen, kurz: unsere Demokratie und unsere demokratischen Werte.

Die "GOLDENEN ERBSE" - ein Ehrenpreis für Menschen, die sich ( wie es auf der Website so schön heißt ) "wie die Märchenhelden für das Gute einsetzen" - wäre allein dafür schon ebenso verdient wie Ruhm, Reichtum und Unsterblichkeit für Märchenhelden. Doch so wie Märchen einst als moralische Orientierungshilfen weiter erzählt wurden, so will auch das Deutsche Zentrum für Märchenkultur mit der GOLDENEN ERBSE ethische Orientierungshilfe für konkrete Situationen vermitteln- wenn auch nicht über Geschichten, sondern mit Hilfe seiner preisgekrönten Vorbilder. Ein hehrer Anspruch, der ohne Zweifel eingelöst wird.

Als vorbildlich wurde völlig zu Recht das Engagement unseres Preisträgers für die UNO-Flüchtlingshilfe identifiziert, deren Schirmherr er seit zehn Jahren ist."Auf der Flucht zu sein, heißt verletzlich zu sein und auf fremde Hilfe vertrauen zu müssen" - um es in seinen Worten zu sagen. Es ist traurig, dass daran immer wieder erinnert werden muss, zum Beispiel, weil selbst ernannte "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" jeden Montag durch Dresden marschieren und die Werte der Kultur, die sie zu verteidigen vorgeben, durch ihre Fremdenfeindlichkeit mit Füßen treten. Umso mehr kommt es darauf an, wie unser Preisträger Gesicht zu zeigen für ein Deutschland, das Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen Zuflucht gewährt!

Einer von vielen, die Zuflucht in Deutschland gesucht und auch gefunden haben, ist der aus Damaskus stammende Schriftsteller Rafik Schami. Er floh 1971 als Student vor Zensur und Verfolgung und fand in Deutschland den Ort, seinen Traum vom Schreiben in Freiheit zu verwirklichen. Hier hat er sich - in deutscher Sprache - als großer Erzähler in der Tradition der farbenprächtigen und sinnlichen orientalischen Märchenkultur einen Namen gemacht."Märchen sind notwendig", hat er vor einiger Zeit in einem Gespräch über die Lage in seiner syrischen Heimat gesagt."Märchen sind notwendig. Nicht um Illusionen zu schaffen ( … ) . Sondern um in der Phantasiewelt Hoffnung zu geben."

Märchen mögen ihre einstige volkspädagogische Rolle als Wegweiser verloren haben - doch nach wie vor hat Erzählkunst die Kraft, mit Fantasie Hoffnung zu nähren und damit Veränderung zu bewirken. Solche kleinen Revolutionen im Denken und im Bewusstsein sind es, die jeder gesellschaftlichen Veränderung vorausgehen. In diesem Sinne trägt die Kunst den Keim des ( im besten Sinne ) Revolutionären in sich. Dass aus diesen Keimen etwas wachsen darf, dass es einen fruchtbaren Boden dafür gibt und ein wachstumsförderndes Klima - das macht unsere demokratische Kultur aus. Deshalb freue ich mich sehr über die Entscheidung für einen Preisträger, der - mit der ihm eigenen Chuzpe - immer wieder als leidenschaftlicher Verteidiger der Freiheit der Kunst in Erscheinung getreten ist.

Spätestens jetzt, meine Damen und Herren, dürfte klar sein: Die GOLDENE ERBSE 2015 geht an Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert! Herzlichen Glückwunsch!