Redner(in): Monika Grütters
Datum: 18. November 2015
Untertitel: "Die Ausstellung ruft uns eindringlich ins Gedächtnis, dass Versöhnung und Frieden nicht allein und vielleicht nicht einmal in erster Linie ein Werk der Politik sind - dass es vielmehr auch und insbesondere mutiger Vordenker und Vorbilder in der Gesellschaft bedarf, um durch Veränderungen im Wahrnehmen und Empfinden Verständigung auch auf politischer Ebene zu ermöglichen" so Monika Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/11/2015-11-18-gruetters-Pojednanie.html
Die Ausstellung ruft uns eindringlich ins Gedächtnis, dass Versöhnung und Frieden nicht allein und vielleicht nicht einmal in erster Linie ein Werk der Politik sind - dass es vielmehr auch und insbesondere mutiger Vordenker und Vorbilder in der Gesellschaft bedarf, um durch Veränderungen im Wahrnehmen und Empfinden Verständigung auch auf politischer Ebene zu ermöglichen " so Monika Grütters in ihrer Rede.
Anrede,
die großen, alles verändernden Revolutionen haben ihren Platz in den Geschichtsbüchern. Denkmäler, Straßen und öffentliche Plätze sind ihnen gewidmet, ebenso Reden, Bücher und Debatten. Und wenn der Tag des Umbruchs sich jährt, ist dies Anlass öffentlichen Gedenkens und kritischer Würdigung. Die kleinen und leisen Revolutionen dagegen, Wegbereiter gesellschaftlicher Umbrüche, fristen vielfach ein Schattendasein im kollektiven Gedächtnis. Sie wären vielleicht längst in Vergessenheit geraten, wenn nicht bürgerschaftliche Initiativen und engagierte Einzelne sich verantwortlich fühlten, die Erinnerung gerade auch daran wach zu halten.
Deshalb bin ich der Maximilian-Kolbe-Stiftung und dem Institut Erinnerung und Zukunft in Breslau sehr dankbar, dass sie auf Anregung der deutschen und der polnischen Bischofskonferenz und mit Unterstützung des Instituts des Nationalen Gedenkens in Warschau die beeindruckende Ausstellung erarbeitet haben, die wir heute parallel in Berlin und Breslau eröffnen. Sie zeichnet eine jener revolutionären Veränderungen nach, die den Boden bereiteten für die Friedliche Revolution von 1989 und das Ende der Teilung Europas. Vor allem aber ruft sie uns eindringlich ins Gedächtnis, dass Versöhnung und Frieden nicht allein und vielleicht nicht einmal in erster Linie ein Werk der Politik sind - dass es vielmehr auch und insbesondere mutiger Vordenker und Vorbilder in der Gesellschaft bedarf, um durch Veränderungen im Wahrnehmen und Empfinden Verständigung auch auf politischer Ebene zu ermöglichen.
Der in der Ausstellung dokumentierte Briefwechsel zwischen den polnischen und den deutschen katholischen Bischöfen vor 50 Jahren zählt zweifellos zu den Meilensteinen im Prozess der Versöhnung zwischen Deutschland und Polen. Man muss sich die Umstände dieses Briefwechsels in Zeiten des Kalten Krieges einfach noch einmal vor Augen führen, um in aller Deutlichkeit zu hören, wieviel menschliche Größe, wieviel Mut und Weitsicht aus den Zeilen der polnischen Bischöfe sprechen, die 1965 mit einem Schreiben an ihre deutschen Amtsbrüder den ersten Schritt der Versöhnung wagten.
Sie erinnerten daran, dass es zwischen Deutschland und Polen auch Zeiten guter Nachbarschaft gegeben hatte. Sie bedauerten das Leid der deutschen Vertriebenen - was für ein Tabubruch! Sie warben darum, die Bedeutung der neuen West-Gebiete und der Oder-Neiße-Grenze für Polen zu verstehen. Und sie schlossen mit den kompromisslos christlichen Worten: "Wir gewähren Vergebung und wir bitten um Vergebung".
Sie wagten dies in einer Zeit, in der die Gräuel des Zweiten Weltkriegs in den Erinnerungen der polnischen Bevölkerung noch allgegenwärtig waren, in der die Narben der Wunden aus der Zeit der deutschen Besatzung lang nicht verheilt und die Traumata in Folge millionenfachen Leids längst nicht überwunden waren - ganz zu schweigen von der Last des historischen Erbes der über Jahrhunderte nie unkomplizierten deutsch-polnischen Beziehungen. Auf Bedenken, der Inhalt des Schreibens sei zu radikal, erwiderte der Hauptautor des Briefes, Erzbischof Bolesław Kominek: "Wenn dieser Text uns durch Deutschland nach Europa und in die zivilisierte Welt führen soll, dann nur in dieser Form".
Dass polnische Bischöfe ihren deutschen Amtsbrüdern trotz allem die Hand zur Versöhnung reichten und dafür gravierende Konflikte mit der polnischen Regie-rung wie auch Verwerfungen innerhalb der Gemeinschaft der polnischen Katholiken in Kauf nahmen - das war mehr als eine große Geste. Es war eine moralische wie politische Pionierleistung, die bis dato Undenkbares - die deutsch-polnische Aussöhnung - in den Bereich des Möglichen rückte.
Damals war die Zeit noch nicht reif für die Vision der polnischen Bischöfe. Heute aber sehen wir mit Dankbarkeit, dass die christliche Idee der Versöhnung in vielen Köpfen und Herzen aufgegangen ist: Deutsche und Polen leben, einander freundschaftlich verbunden, in einem geeinten und freien Europa.
Der Brief der polnischen Bischöfe war ein wichtiger Impuls für den dazu notwendigen Mentalitätswandel. Der im April verstorbene, ehemalige polnische Außenminister Władysław [sprich: Wuadisuaw] Bartoszewski, der mich als leidenschaftlicher Kämpfer für die Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen immer wieder beeindruckt hat - zuletzt bei der Vorstellung seines Buches "Mein Ausschwitz" im Januar dieses Jahres - hat dazu einmal in einem Interview gesagt: "Ich glaube, die polnisch-deutschen Beziehungen gehören zur Welt der Wunder, positive Wunder der Europäisierung der Menschen nach 1990. Die deutsch-polnischen Beziehungen haben so große Fortschritte gemacht wie keine anderen in Europa."
Dazu hat - neben der Pionierarbeit der Katholischen Kirche - die Bereitschaft auf beiden Seiten beigetragen, die Geschichte des von Kriegen, Diktaturen, Leid, Unrecht und Gewalterfahrungen so sehr geprägten 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten. Im Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität beispielsweise, das unter anderem von meinem Haus gefördert wird und sich an der Finanzierung dieser Ausstellung beteiligt hat, erforschen und vermitteln Deutschland, Polen, die Slowakei und Ungarn gemeinsam die Geschichte dieses wechselvollen Jahrhunderts und die unterschiedlichen nationalen Perspektiven und Erinnerungen.
Zur Überwindung der Kluft hat aber auch der lebendige kulturelle Austausch zwischen unseren beiden Ländern beigetragen, dem die Ausstellung "Tür an Tür" - gemeinsam gefördert von meinem Haus und vom polnischen Kulturministerium - vor vier Jahren im Martin-Gropius-Bau gewidmet war. Kultur baut Brücken, wo Politik und Diplomatie an ihre Grenzen stoßen, und gerade die Kunst schafft Räume für Verständnis und Verständigung. Darüber hinaus ist es mir sehr wichtig, dass wir Deutschen gerade dort, wo es um die bis heute schwierige Erinnerung an Flucht und Vertreibung geht, zu Verständnis und Verständigung bereit sind. Vor allem aber hoffe ich sehr, dass wir uns auch dann freundschaftlich verständigen können, wenn unsere Länder unterschiedliche politische Positionen vertreten, wie aktuell bei der Aufnahme von Flüchtlingen.
Die gemeinsame Erinnerung an das Ende des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren, der in ganz Europa rund 50 Millionen Kriegstote und Verwüstungen ungeheuren Ausmaßes hinterließ, bleibt eine immerwährende Mahnung, für Versöhnung und Verständigung einzutreten - gerade jetzt, da Europa sich in Krisenzeiten neu bewähren muss. Möge die Ausstellung dies möglichst vielen Besucherinnen und Besuchern eindringlich ins Gedächtnis rufen! Und - dieser Wunsch sei einer gläubigen Katholikin erlaubt: Möge die Katholische Kirche auch heute, angesichts der vielen Menschen, die Zuflucht suchen in Europa, eine moralische und politische Avantgarderolle übernehmen und im Geiste des Friedens und der Versöhnung christlichen Werten wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe zur Geltung verhelfen!