Redner(in): Monika Grütters
Datum: 25. November 2015

Untertitel: "Die Lektüre eines Romans, einer Kurzgeschichte oder einer Biografie ist immer eine sinnliche Expedition zu neuen geistigen Horizonten. Lesefähigkeit ist dafür das notwendige Reisegepäck, und sie ist Voraussetzung und Schlüssel zu kultureller Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe" betonte Monika Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/11/2015-11-25-gruetters-deutscher-lesepreis-2015.html


Die Lektüre eines Romans, einer Kurzgeschichte oder einer Biografie ist immer eine sinnliche Expedition zu neuen geistigen Horizonten. Lesefähigkeit ist dafür das notwendige Reisegepäck, und sie ist Voraussetzung und Schlüssel zu kultureller Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe " betonte Monika Grütters in ihrer Rede.

Anrede, Bücher lesen heißt: wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne." Sie alle, ob Sie zu den Viellesern gehören oder sich zumindest gelegentlich Zeit zur vertieften Lektüre nehmen, würden den Worten Jean Pauls sicher ohne Zögern zustimmen. Denn, wandern wir mit unseren Augen über die Seiten eines Buches, eröffnen uns Geschichten und Charaktere - historische oder fiktionale - einen neuen Blickwinkel auf Geschehenes oder Erdachtes.

Literatur bereichert unsere eigene Lebens- und Vorstellungswelt, weil sie auf spannende und berührende Weise unbekannte Lebensformen und Kulturen für uns erlebbar macht; sie gibt aber auch Gelegenheit dazu, Selbsterlebtes zu reflektieren, uns heimisch und verstanden zu fühlen in den Gedanken eines Autors, einer Autorin. Die Lektüre eines Romans, einer Kurzgeschichte oder einer Biografie ist immer eine sinnliche Expedition zu neuen geistigen Horizonten. Lesefähigkeit ist dafür das notwendige Reisegepäck, und sie ist Voraussetzung und Schlüssel zu kultureller Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe.

Aber längst nicht alle Menschen empfinden diese von Jean Paul beschriebene literarische Wanderlust - oft, weil sie nie richtig lesen gelernt haben und sich bei dem Gedanken an mit Buchstaben bedrucktes Papier statt bibliophiler Leidenschaft eher Lesefrust einstellt. In Deutschland ist Bildung leider noch immer in hohem Maße von der sozialen Herkunft abhängig. Kinder aus Familien, in denen die abendliche Gute-Nacht-Geschichte oder die Zeitungslektüre am Frühstückstisch nicht zu den schönen Alltagsritualen gehört, haben keine Vorbilder, an denen sie im Erwachsenenalter ihr Leseverhalten orientieren können. Umso wichtiger ist es, Kindern und Jugendlichen möglichst früh den Zugang zu Bildungsangeboten zu ermöglichen und ihnen damit Teilhabechancen zu eröffnen.

Genau das tun in Deutschland zahlreiche Menschen, die sich in der Leseförderung engagieren - im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit, ehrenamtlich oder bei wissenschaftlichen Untersuchungen. Sie entwickeln neue Konzepte, um Kindern und Jugendlichen beim Erlernen der deutschen Sprache zu helfen, führen Erwachsene mit Leseschwierigkeiten an passende Lektüre heran - und leisten einen großen Beitrag für die Integration der Nicht-Muttersprachler, nicht zuletzt der Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen und hier Fuß fassen wollen. Lehrerinnen, Kindergärtner, Ehrenamtliche und Wissenschaftler - sie alle sind Botschafter einer Lesekultur, die auch im Zeitalter digitaler und multimedialer Kommunikation wichtig und identitätsstiftend ist für unsere Kulturnation.

Einige besonders innovative Konzepte der Leseförderung erhalten heute Abend den Deutschen Lesepreis, für den ich gerne die Schirmherrschaft übernommen habe. Mit der feierlichen Verleihung an diesem wunderschönen Ort hier im Humboldt Carré schaffen die Initiatoren des Deutschen Lesepreises nicht nur einen würdigen Rahmen, sondern vor allem ein öffentliches Bewusstsein für die Notwendigkeit der Leseförderung. Dafür danke ich Ihnen herzlich, lieber Herr Dr. Maas und liebe Frau Kießling-Taşkın, stellvertretend für die Stiftung Lesen und die Commerzbank-Stiftung.

Dass Menschen überall in Deutschland "aus den Stuben über die Sterne" wandern können, um noch einmal das Zitat von Jean Paul aufzugreifen, verdanken wir in besonderem Maße unseren Buchhandlungen. Sie fördern quer durch alle Altersgruppen die Lust am Lesen und das Gespräch über Literatur - durch kompetente Beratung und inspirierende Veranstaltungen. Mit dem Buchhandlungspreis, den ich in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben durfte, würdigt die Bundesregierung besonders die kleinen, inhabergeführten Buchhandlungen vor Ort. Diese Garanten der verlegerischen und literarischen Vielfalt zu unterstützen, ist mir ein Herzensanliegen.

So bereichernd die literarischen Reisen in der Welt der Bücher auch sind: In der Realität bewegen wir uns selten mit Romanhelden auf phantasievollen Pfaden, viel öfter jedoch auf mit Schlagzeilen gepflasterten Wegen. Gerade aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen erfordern Lesekompetenz und einen sicheren Umgang mit Informationsquellen. Angesichts der Nachrichtenfülle, die täglich auf dem Smartphone, im Fernsehen und in einer unüberschaubaren Menge an Zeitungen und Zeitschriften auf uns einwirkt, brauchen wir Handwerkszeug, das wir zu verwenden verstehen und auf das wir uns verlassen können. Lesekompetenz dient auch als Kompass in unserer multimedialen Welt, sie ist der Schlüssel zu Informationen, Wissen und demokratischer Teilhabe.

Um besonders junge Menschen für die kritische Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften zu begeistern und sie für die von der Presse behandelten politisch, gesellschaftlich und kulturell bedeutsamen Themen zu sensibilisieren, hat mein Haus schon 2008 die "Nationale Initiative Printmedien" ins Leben gerufen, in der sich verschiedene Vertreter der Printbranche zusammengefunden haben. Im Rahmen der Initiative loben wir jedes Jahr einen Schülerwettbewerb aus - die Preisverleihung findet morgen ebenfalls hier in Berlin statt.

Heute aber stehen erst einmal Sie im Mittelpunkt, liebe Preisträgerinnen und Preisträger. Sie alle unterstützen Menschen, die aufgrund ihrer materiellen oder sozialen Herkunft nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen und mit großer Kraftanstrengung die deutsche Sprache erlernen müssen. Sie schenken viel Zeit und Energie, damit auch bildungsbenachteiligte Menschen in "fernen Welten" und "über die Sterne" wandern und am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben können.

Der Deutsche Lesepreis würdigt dieses Engagement, er würdigt Vorbilder für mehr Lesefreude und Lesekompetenz in Deutschland. Das verdient nicht nur ein Dankeschön, sondern auch öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, zur Auszeichnung mit dem Deutschen Lesepreis!