Redner(in): Monika Grütters
Datum: 29. April 2016

Untertitel: Vor dem Bundestag hat Kulturstaatsministerin Grütters den Wert der Kulturpflege hervorgehoben. Das "reiche kulturelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln", sei ein wichtiges Anliegen, so Grütters. Für die Förderung sei eine dauerhafte Finanzierung nötig.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/04/2016-04-29-rede-gruetters-BT-Debatte-%20Bundesvertriebenengesetz.html


Vor dem Bundestag hat Kulturstaatsministerin Grütters den Wert der Kulturpflege hervorgehoben. Das "reiche kulturelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln", sei ein wichtiges Anliegen, so Grütters. Für die Förderung sei eine dauerhafte Finanzierung nötig.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Vielleicht kennen Sie das schmale Büchlein "Reisende auf einem Bein", das Herta Müller nach ihrer Flucht aus Rumänien vor 28 Jahren veröffentlicht hat. Es ist ein Buch über das Gefühl des Fremdseins fern der Heimat, über das Aufbrechenmüssen und das nicht Ankommenkönnen, über den Verlust des Gleichgewichts, wenn man mit dem Standbein noch im früheren Leben steht. Reisende auf einem Bein " waren die Heimatvertriebenen und später auch die deutschstämmigen Aussiedler aus dem östlichen Europa. Die Pflege des Kulturguts ihrer Herkunftsgebiete ‑ im Bundesvertriebenengesetz fest-geschrieben als eine gemeinsame staatliche Aufgabe von Bund und Ländern ‑ half ihnen dabei, mit beiden Beinen in der neuen Heimat anzukommen.

Bis heute ist es ein wichtiges Anliegen, das reiche kulturelle Erbe der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes es vorsieht. Die Mittel dafür kommen unter anderem Archiven, Museen, Forschungsinstituten und mittlerweile vier Juniorprofessuren zugute.

In meinem Etat hat die Förderung mit zuletzt rund 23,7 Millionen Euro im Jahr 2015 eine Höhe erreicht, die auch monetär unsere hohe Wertschätzung für das gemeinsame kulturelle Erbe im östlichen Europa zum Ausdruck bringt.

Nicht zuletzt angesichts der EU-Beitritte der östlichen Nachbarstaaten und der neuen Qualität der Zusammenarbeit geht es nun darum, die Förderkonzeption aus dem Jahr 2000 im europäischen Geist weiterzuentwickeln. Darauf haben sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag geeinigt. Wir wollen sie auf eine Grundlage stellen, die im demografischen Wandel Bestand hat und die getragen ist von unseren gewachsenen Bindungen in Europa.

Dabei geht es, erstens, darum, den Erinnerungstransfer von einer Generation zur nächsten sicher zu stellen: Je weniger Zeitzeugen es gibt, desto wichtiger wird eine professionelle und zeitgemäße Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit.

Es geht, zweitens, darum, neue Partner zu finden und neue Zielgruppen zu erschließen: Neben Vertriebenen und Flüchtlingen sind die Spätaussiedler eine starke gesellschaftliche Kraft. Ihre Bedeutung soll sich unter anderem in der Erforschung und Vermittlung ihrer Kultur und Geschichte in regionalen Museen spiegeln.

Es geht, drittens, darum, europäische Kooperationen zu stärken: Sie wissen selbst um die Situation in vielen Ländern des östlichen Europas. Wer mit Partnern vor Ort kooperieren möchte, muss selbst Geld mitbringen. Deshalb werden wir mehr Geld in die Hand nehmen für unsere bundesgeförderten Museen, die Vermittlungs- und Forschungseinrichtungen.

Und schließlich geht es, viertens, darum, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen: Wir wollen eine digitale Infrastruktur für die Wissenschaft und die Museen entwickeln.

Guter Wille allein reicht natürlich nicht aus, um all das umzusetzen, was wir uns im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung von Paragraph 96 vorgenommen haben. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben mir bereits für das Jahr 2016 zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt hat, die zum Teil auch in diesen Politikbereich fallen. Dafür danke ich Ihnen sehr! Doch wir brauchen mehr als ein einmaliges Signal: Wir brauchen einen dauerhaften Aufwuchs, um den gesamten Förderbereich zukunftsorientiert aufzustellen. Dafür setze ich mich ein - … ebenso wie für die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Am 1. April hat die promovierte Historikerin Gundula Bavendamm ihr Amt als neue Direktorin angetreten, und ich bin sicher, dass sie als durchsetzungsstarke, erfahrene und erfolgreiche Museumsmanagerin das Know-how mitbringt, um den weiteren Aufbau des Ausstellungs- , Informations- und Dokumentationszentrums mit der notwendigen Überzeugungskraft engagiert und zügig voran zu treiben.

Meine Hoffnung ist, meine Damen und Herren, dass die deutschen Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung uns auch in besonderer Weise fähig machen zur Empathie mit Menschen, die heute Zuflucht suchen in Deutschland. Auch wenn man die Flucht aus Syrien, Irak oder Afghanistan aus vielerlei Gründen nicht mit der Vertreibung aus Ostpreußen, Schlesien oder Pommern vergleichen kann, so sind die Erfahrungen der "Reisenden auf einem Bein" doch vielfach ähnlich, heute wie damals. Gerade die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa kann helfen, nicht nur die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, sondern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss. Es geht um Themen, die Deutschland und Europa heute mehr denn je beschäftigen: um Fragen des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen, um Fragen der wechselseitigen Wahrnehmung und Anerkennung. Die Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz ist damit aktueller denn je. Mit ihrer Weiterentwicklung sorgen wir dafür, dass sie auch in Zukunft einen Beitrag zum Zusammenhalt in Deutschland und in Europa leisten kann.