Redner(in): Monika Grütters
Datum: 28. Mai 2016

Untertitel: Kulturstaatsministerin Grütters dankte der Arbeitsgemeinschaft für ihre vielfältige, erfolgreiche "Lobbyarbeit für die Literatur". Gerade für die vielen kleinen literarischen Einrichtungen sei solch professionelle Unterstützung unentbehrlich. Literatur sei, als Beitrag zur freien Meinungsbildung, "Teil unseres Demokratieverständnisses", so Grütters. Für die Freiheit der Literatur und ihre Vielfalt sagte sie weiterhin Unterstützung zu.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/05/2016-05-28-gruetters-30-jahre-ag-litertarurgesellschaften-und-gesdenkstaetten.html


Kulturstaatsministerin Grütters dankte der Arbeitsgemeinschaft für ihre vielfältige, erfolgreiche "Lobbyarbeit für die Literatur". Gerade für die vielen kleinen literarischen Einrichtungen sei solch professionelle Unterstützung unentbehrlich. Literatur sei, als Beitrag zur freien Meinungsbildung,"Teil unseres Demokratieverständnisses", so Grütters. Für die Freiheit der Literatur und ihre Vielfalt sagte sie weiterhin Unterstützung zu.

Gönnen wir uns einen Blick auf das Jahr 1986, das Gründungsjahr der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten: Boris Becker gewinnt zum zweiten Mal das Tennisturnier in Wimbledon. Prinz Andrew heiratet Sarah Ferguson. Telefone haben Wählscheiben. Und die Saatkrähe ist Vogel des Jahres.

Heute schreibt Boris Becker längst keine Sportgeschichte mehr. Prinz Andrews Ehe mit "Fergie" ist geschieden. Wählscheibentelefone sieht man nur noch im Museum. Und nach der Saatkrähe kräht vermutlich kein Hahn mehr.

Ja, in 30 Jahren hat sich viel geändert. Doch die Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten ( ALG ) hat Bestand - und das, obwohl neue Technologien deutschen Dichtern und Denkern digitale Konkurrenz bescheren. Wie hieß es mal in einer Glosse: "Vergessen Sie endlich Goethe, Heine und Mann. Die hatten nicht einen einzigen Follower."

Das gilt, soweit ich weiß, auch für die ALG, doch wer braucht schon Follower, wenn die Zahl der Mitglieder sich über die Jahre fast verzehnfacht hat - von damals 26 auf heute 247 Mitgliedseinrichtungen, die das ganze literarische Spektrum und deutsche Literaturgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart abdecken.

Mit Ihrer Arbeit, Ihrer Expertise und Ihrem Netzwerk haben Sie, lieber Herr Professor Wißkirchen, und Ihr Team im Vorstand und in der Geschäftsstelle sich für die zahlreichen literarischen Einrichtungen in Deutschland unentbehrlich gemacht, vor allem für die kleineren. Sie sind vielfach allein von bürgerschaftlichem Engagement getragen und können dank der ALG auf professionelle Unterstützung zählen. Kein Wunder also, dass die ALG sich bis heute erfolgreich als "Lobby für Literatur" in Deutschland und als einziger Zusammenschluss dieser Art in Europa behaupten kann.

Die überzeugendsten Lobbyisten für literarische Vielfalt sind aber vielleicht gar nicht Sie und Ihr Team, lieber Herr Professor Wißkirchen J. Es sind auch nicht Ihre Mitgliedseinrichtungen, die großartige Arbeit leisten und literarischen Ausnahmekünstlern eine Bühne geben - sei es durch den Erhalt und die Präsentation authentischer Orte literarischen Wirkens, sei es durch die intensive Auseinandersetzung mit ihren Werken, sei es durch Projekte, die gerade auch der zeitgenössischen Literatur die verdiente Aufmerksamkeit verschaffen. Nein, die überzeugendsten Lobbyisten für literarische Vielfalt und für die Förderung der Literatur sind die Dichter und Denker, die Dichterinnen und Denkerinnen, deren Stimmen dank der literarischen Gesellschaften und Gedenkstätten präsent und lebendig bleiben. Was also liegt näher, als heute zur Feier Ihres Jubiläums wenigstens ein paar von ihnen in den Zeugenstand zu rufen für den Wert und die weltbewegende Kraft der Literatur?

Heinrich Heine zum Beispiel - in der ALG gleich dreifach repräsentiert in Gestalt des Heine-Hauses, der Heinrich-Heine-Gesellschaft und des Heinrich-Heine-Instituts - Heinrich Heine hat einmal gesagt: "Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste." In Deutschland - dem Land mit dem immerhin zweitgrößten Buchmarkt und einer der lebendigsten und facettenreichsten Verlagslandschaften der Welt -dürfen wir diese Worte zwar durchaus auch quantitativ verstehen. Schließlich reden wir, wenn wir über die Welt der Bücher reden, hierzulande immerhin über rund 87.000 Neuerscheinungen pro Jahr. Gewaltig ist die Welt der Bücher aber vor allem, weil schon ein einzelnes Buch in ferne Welten führen und die Welt verändern kann. Man denke nur an die Bücher, die über nationale, kulturelle und religiöse Grenzen hinweg seit Generationen gelesen, zitiert, interpretiert und geliebt werden und zum kulturellen Erbe der Menschheit gehören, an Goethes "Faust" zum Beispiel. Johann Wolfgang von Goethe bleibt nicht nur dank des Frankfurter Goethe-Museums und der Goethe-Gesellschaft Weimar präsent Das faustische "Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust" kennt man auf der ganzen Welt. Faust und Mephisto haben immer wieder Künstlerinnen und Künstler inspiriert und tun es bis heute. Wendungen wie "der Weisheit letzter Schluss" und "des Pudels Kern" sind geflügelte Worte in unserem Sprachgebrauch. Ja, man darf mit gutem Recht sagen: Goethes Faust gehört zu den Büchern, die das Denken weit über den Kreis sowohl ihrer Zeitgenossen als auch ihrer Leserschaft geprägt haben.

Die Wertschätzung der Literatur und ihrer Vielfalt ist dabei aber weit mehr als Liebhaberei. Sie ist Teil unseres Demokratieverständnisses, weil Bücher zur freien Meinungsbildung und zu einer aufgeklärten, kritischen Öffentlichkeit beitragen, aber auch, weil Demokratie - wie Jean Paul das schon vor 200 Jahren so treffend in seinen "Politischen Fastenpredigten" formuliert hat - "ohne ein paar Widersprechkünstler […] undenkbar [ist] ." Wir brauchen die Künstler und Intellektuellen, die Querdenker und Freigeister, deren Worte im wahrsten Sinne Welt-bewegend sind! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Nicht zuletzt sind es auch die Künstlerinnen und Künstler, die um Antworten auf letzte Fragen ringen. Wie heißt es so schön bei Else Lasker-Schüler, die ( auch ) dank der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft nicht in Vergessenheit gerät: Der Künstler trägt die Zeit nicht, zwischen zwei Deckel gelegt, bei sich an einer Kette; er richtet sich nach dem Zeiger des Universums, weiß darum immer, was die Urkuckucksuhr geschlagen."

So sind es oft die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die hinschauen, wo andere wegsehen, die anschreiben gegen Gleichgültigkeit, Verdrängung und emotionale Abgestumpftheit. Gerade angesichts hunderttausender Menschen, die ihre Heimat in Kriegs- und Krisenregionen verlassen in der Hoffnung, im friedens- und wohlstandsverwöhnten Europa Zuflucht zu finden, ist die Sensibilität für menschliches Leid und existenzielle Not auch und besonders in den Demokratien Europas heute ganz offensichtlich nötiger denn je. Literatur jedenfalls kann denen eine Stimme geben, die sonst kein Gehör finden. Sie kann uns nötigen, die Perspektive zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen. Sie ist imstande, Grenzen zu verschieben: den Bereich das Denk- und Vorstellbaren zu vergrößern, Gebiete jenseits unseres Erfahrungshorizonts zu erschließen und eben dadurch die Grenzen unserer Empathie zu weiten - indem sie uns Fremdes vertraut macht und uns auf diese Weise zum Mitgefühl befähigt.

Nicht zuletzt in diesem Sinne ist es eine wahrhaft staatstragende und zukunftsweisende Aufgabe, die Freiheit der Literatur und die literarische Vielfalt zu fördern. Deshalb unterstützt mein Haus neben Leuchttürmen des literarischen Lebens in Deutschland wie die Klassik Stiftung Weimar, das Deutsche Literaturarchiv in Marbach oder das Goethe-Geburtshaus und -Museum in Frankfurt seit vielen Jahren auch die Arbeit der ALG, und ich kann Ihnen versprechen: Dabei bleibt es auch und erst recht, wenn wir in meinem Haus ab 2017- so ist es geplant - einen neuen Förderschwerpunkt "Literatur" setzen.

Heute, meine Damen und Herren, soll es aber nicht nur um geistige Nahrung gehen - schließlich haben Sie allen Grund zum Feiern! Als Kronzeugen der Trinkkultur darf ich in diesem Zusammenhang ein zweites Mal Jean Paul zitieren. Immerhin ist die Jean-Paul-Gesellschaft ALG-Gründungsmitglied; außerdem bleibt Jean Paul uns nicht nur als Literat, sondern auch als Liebhaber flüssiger Genussmittel im Gedächtnis. Er arbeitete nach der Devise "Entwirf bei Wein, exekutiere bei Kaffee", und weil er viel auf Reisen war und ihm das Bier in Weimar, Berlin und im Ausland nicht mundete, orderte er regelmäßig Nachschub aus der oberfränkischen Heimat. An einen Freund schrieb er einmal, ich zitiere: "Sollte das Bier schon unterwegs sein - was Gott gebe - so bitt ich Sie herzlich, sogleich neues nachzusenden; weil der Transport vom Fass in mich viel schneller geht als von Bayreuth nach mir!"

Das wird uns heute Abend sicher nicht passieren, verehrte Damen und Herren. Die Wege zum nächsten Kaltgetränk sind glücklicherweise kurz, und ich freue mich, mit Ihnen anzustoßen auf drei Jahrzehnte Lobbyarbeit für die Literatur. Herzlichen Glückwunsch zum 30-jährigen Jubiläum, lieber Herr Professor Wißkirchen, liebe Frau Kussin, und viel Erfolg weiterhin - auf dass die literarische Vielfalt in Deutschland auch in Zukunft wachsen und gedeihen möge!