Redner(in): Monika Grütters
Datum: 12. Juni 2017
Untertitel: Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat zugesagt, die Forschung, die museale Arbeit und die Vermittlung deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa weiter zu unterstützen. "Meine Hoffnung ist es, dass wir in der Vielstimmigkeit der Erzählungen auch Bezugspunkte für eine gemeinsame europäische Identität finden."
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2017/06/2017-06-12-bkm-oestliches-europa.html
Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat zugesagt, die Forschung, die museale Arbeit und die Vermittlung deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa weiter zu unterstützen."Meine Hoffnung ist es, dass wir in der Vielstimmigkeit der Erzählungen auch Bezugspunkte für eine gemeinsame europäische Identität finden."
Wer ein Ohr hat für das, was Orte von der Vergangenheit erzählen, wird gerade in Mittel- und Osteuropa einen vielstimmigen Chor der Erinnerungen an das wechselvolle 20. Jahrhundert vernehmen. Hier liegen Orte der deutschen Geschichte, die gleichzeitig auch Orte der Geschichte Polens, Ungarns, Tschechiens, der baltischen Republiken oder auch der Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind. Es sind Orte, die unterschiedliche, gegensätzliche, ja vielfach sogar scheinbar widersprüchliche Geschichten erzählen: Geschichten unendlichen Leids, aber auch Geschichten von der inspirierenden Mischung unterschiedlicher Sprachen und Kulturen; Geschichten über Verwüstung, Flucht, Vertreibung, Unterdrückung, aber auch Geschichten vom gemeinsamen Ringen um ein freies, geeintes Europa; Geschichten vom Verlust der deutschen Kultur im Osten, aber auch Geschichten von der Lebendigkeit dieser Kultur bis in die Gegenwart; Geschichten, die unterschiedliche Perspektiven auf Europas Gegenwart und Zukunft beschreiben, Geschichten, die bisweilen um Geltung und Anerkennung konkurrieren, Geschichten jedenfalls, die zusammen kein homogenes Narrativ, kein gemeinsames Gedächtnis ergeben und die doch alle ihren Platz beanspruchen in einer europäischen Erinnerungskultur, in einem gemeinsamen Raum der Erzählungen.
Der Vielstimmigkeit der Erinnerungen im östlichen Europa und an das östliche Europa mehr Gehör zu verschaffen, ist mir ein wichtiges Anliegen, meine Damen und Herren - zum einen natürlich, weil die reiche Kultur und die lange Geschichte der Deutschen im östlichen Europa Teil unserer Identität sind, zum anderen aber auch, weil ich überzeugt bin, dass eine europäische Erinnerungskultur im Sinne eines Erinnerungsaustauschs, einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Voraussetzung ist für Versöhnung und Verständigung, ja für ein geeintes Europa. In diesem Sinne begrüße ich Sie alle herzlich zur Tagung "Erinnerung bewahren - Zukunft gestalten". Ich freue mich, dass es uns gemeinsam mit unseren Partnern, der Katholischen Akademie und dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, gelungen ist, Rednerpult und Podien durchgehend nicht nur hochkarätig zu besetzen, sondern mit unterschiedlicher Herkunft und Hintergrund der Vortragenden auch die Vielstimmigkeit der Perspektiven abzubilden, die so charakteristisch ist für Mittel- und Osteuropa. Herzlichen Dank, lieber Herr Professor Weber, lieber Herr Hake, Ihnen und Ihren Teams für die gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung. Herzlichen Dank vor allem aber allen Rednerinnen und Rednern, allen Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmern, die uns heute sicherlich einen lebendigen Eindruck vom vielstimmigen Chor der Erinnerungen und der Perspektiven im und auf das östliche Europa vermitteln werden.
Der Historiker und Osteuropa-Experte Karl Schlögel, der die Wiedergeburt dieser Region als Kultur- und Erinnerungsraum schon zu einer Zeit beschworen hat, als Westeuropa darin nur den "Ostblock" sehen wollte, hat immer wieder auf die besonderen Herausforderungen dieses Erinnerns hingewiesen."Das mittlere östliche Europa war im 20. Jahrhundert der, Verschiebebahnhof der Völker '", erklärte er einmal in einer Rede, und ich zitiere weiter: "Kein Ort, der nicht mehrmals besetzt und rückerobert, entvölkert und wiederbesiedelt worden ist. ( … ) Die Geschichte dieser Zone ist noch lange nicht erzählt. Gefragt und zugelassen waren im geteilten Europa immer nur halbe Wahrheiten, solche, die im ideologischen Kampf mit dem neuen Gegner zu gebrauchen waren. So kam es, dass erst das Ende der ganzen alten Konstellation 1989 es zuließ, alles zu erzählen, ohne Rücksichtnahmen, ohne Kalkül, ohne Rechthaberei." Alles zu erzählen, ohne Rücksichtnahmen, ohne Kalkül, ohne Rechthaberei - darum geht es beispielsweise im Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität, das gemeinsam getragen und finanziert wird von den für Kultur zuständigen Ministerien Polens, Rumäniens, der Slowakei, Ungarns und Deutschlands. Es soll dabei helfen, die Perspektive des Nachbarn zu verstehen; es soll die Geschichtserzählungen innerhalb der europäischen Nationen miteinander verbinden und ist damit ein schönes Beispiel für das gemeinsame Bemühen um eine europäische Erinnerungskultur, die zu Versöhnung und Verständigung beiträgt.
Das Zusammenwachsen Europas hat aber auch der Förderung der deutschen Kultur und Geschichte im östlichen Europa neue Möglichkeiten eröffnet. Archive und Bibliotheken wurden geöffnet; grenzüberschreitende zivilgesellschaftliche Initiativen konnten sich entfalten. Immer mehr, auch junge Menschen beginnen seitdem, sich für ihre vielschichtige Familiengeschichte zu interessieren. Das kulturelle Erbe, das uns mit unseren östlichen Nachbarn verbindet, hat sich damit zu einer - deutsche wie auch europäische - Identität stiftenden Kraft entwickelt. Es lebendig zu halten - es zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie Paragraph 96 des Bundesvertriebenen-gesetzes es vorsieht - , ist ein wichtiges erinnerungspolitisches Anliegen der Bundesregierung. So unterstützen wir unter anderem Archive, Museen, Forschungsinstitute, Bibliotheken und Juniorprofessuren und finanzieren eine Vielzahl von Projekten mit Partnern aus dem östlichen Europa.
Mit der Weiterentwicklung der Förderkonzeption aus dem Jahr 2000, die wir im Februar 2016 im Bundeskabinett beschlossen haben und für deren Umsetzung jährlich eine Million Euro zusätzlich zur Verfügung stehen, tragen wir den gewachsenen Bindungen Deutschlands in Europa wie auch dem demographischen Wandel Rechnung. Dabei geht es, erstens, darum, den Erinnerungstransfer von einer Generation zur nächsten sicher zu stellen: Je weniger Zeitzeugen es gibt, desto wichtiger wird eine professionelle und zeitgemäße Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Es geht, zweitens, darum, neue Partner zu finden und neue Zielgruppen zu erschließen: Neben Vertriebenen und Flüchtlingen sind die Aussiedler und Spätaussiedler eine starke gesellschaftliche Kraft, deren Erfahrungen Anknüpfungspunkte zum Beispiel für einen Dialog über die aktuellen Herausforderungen durch Migration und Integration sein können. Es geht, drittens, darum, europäische Kooperationen der bundesgeförderten Museen, Vermittlungs- und Forschungseinrichtungen zu stärken. Und schließlich geht es, viertens, darum, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen:
Mit den zusätzlichen Mitteln können wir Forschung, museale Arbeit und Kulturvermittlung verstärkt fördern und auf diese Weise die internationale Sichtbarkeit des gesamten Förderbereichs erheblich verbessern - so etwa durch ein innovatives, beim Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung angesiedeltes Online-Portal "Kulturelles Erbe östliches Europa", um nur ein Beispiel zu nennen. Im Übrigen freue ich mich, dass wir als ersten konkreten Schritt zur Umsetzung der neu justierten Förderkonzeption bereits die Kooperation mit Vertretern der deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa intensiviert haben. Und ganz bestimmt helfen uns auch die Ergebnisse der heutigen Tagung dabei, die im europäischen Geist weiterentwickelte Förderkonzeption in den nächsten Jahren mit Leben zu füllen.
In diesem Zusammenhang kann ich Ihnen, insbesondere den aus meinem Haushalt nach § 96 Bundesvertriebenengesetz geförderten Einrichtungen, eine weitere positive Nachricht überbringen: Für 2017 ist es gelungen, dem Deutschen Historischen Museum 12 Millionen Euro für die zweckgerichtete Erhöhung seines Ankaufsetats zur Verfügung zu stellen. Damit soll dem Museum ermöglicht werden, aus einem derzeit zum Verkauf stehenden Konvolut kunsthistorisch bedeutsamer Kunstwerke und Objekte des Kunsthandwerks aus Pommern, Schlesien, Ost- und Westpreußen sowie dem Baltikum wichtige Exponate zu erwerben. Gemeinsam mit den nach § 96 BVFG geförderten Museen hat das DHM eine Liste prioritär zu erwerbender Stücke zusammengestellt, die nun angekauft werden sollen, wenn und soweit die Provenienz hinreichend geklärt ist. Klar ist, dass diese Exponate zuvörderst auch den nach § 96 BVFG geförderten Museen als Leihgaben oder Dauerleihgaben zur Verfügung gestellt werden sollen. Die danach nicht verbrauchten - erwartungsgemäß nicht unbeträchtlichen - Mittel aus dem 12 Millionen-Etat sollen ebenfalls zum Ankauf von Exponaten zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa eingesetzt werden. Das Deutsche Historische Museum wird diesbezüglich auf die 96er Museen zukommen. Ziel ist ausdrücklich die Stärkung der nach § 96 BVFG geförderten Museen, die mit Blick auf ihre sehr schmalen Ankaufsetats die Möglichkeit erhalten sollen, zentral bedeutsame Exponate als Dauerleihgabe für ihre Ausstellungen zu erlangen.
Meine Hoffnung ist, dass wir in der grenzüberschreitenden Auseinandersetzung mit dem deutschen Erbe im östlichen Europa nicht nur eine europäische Erinnerungskultur fördern, die der Vielstimmigkeit der Erzählungen Raum gibt, sondern dass wir darin auch Bezugspunkte finden für eine gemeinsame europäische Identität. So wie in der Nachzeichnung der Demokratisierungs- und Befreiungsbewegungen in Mittel- und Osteuropa - der Freiheitstraditionen Europas - Ankerpunkte des Erinnerns sichtbar werden, auf die sich Menschen in verschiedenen Ländern gemeinsam beziehen können, so kann die grenzüberschreitende Vergegenwärtigung des kulturellen Erbes des östlichen Europas das über Jahrzehnte versteinerte Denken im Ost-West-Gegensatz aufbrechen und überwinden helfen. Es kann Europa als gemeinsamen Kulturraum sichtbar und erfahrbar machen - so wie es uns andernorts ja längst geglückt ist. Nicht umsonst steht Europa heute für eine zivilisatorische Errungenschaft, die sich nach dem unfassbaren Leid zweier Weltkriege und nach dem Grauen der nationalsozialistischen Barbarei vermutlich nicht einmal die visionären Unterzeichner der Römischen Verträge hätten träumen lassen. Wir Europäerinnen und Europäer haben es geschafft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen und eben dadurch unterschiedlichen Kulturen und Religionen, Traditionen und Träumen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen eine Heimat zu bieten. Diese Offenheit für Vielfalt macht Europa im Kern aus; ihr verdanken wir Freiheit, Frieden und Wohlstand. Sie - und nicht der Euro oder der Binnenmarkt - macht Europa zu einem Sehnsuchtsort, für den Menschen außerhalb der Europäischen Union unter europäischer Flagge auf die Barrikaden gehen, wie zum Beispiel 2013 und 2014 auf dem Kiewer Majdan, während man Europa innerhalb der Europäischen Union oft auf die Regulierung der Gurkenkrümmung und ergebnislose Krisensitzungen reduziert. Gerade dort, wo populistische Kritik am Zusammenwachsen Europas sich wachsender Popularität erfreut, gerade dort, wo Rufe nach Abschottung und Ausgrenzung laut werden, braucht Europa die Strahlkraft des gemeinsamen Kulturraums.
Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa kann darüber hinaus auch helfen, nicht nur die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, sondern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss. Dem wieder aufkeimenden Nationalismus können wir den Stolz auf die vielfältige, im Austausch mit anderen Kulturen gewachsene europäische Kultur entgegensetzen. Das Zusammenleben unterschiedlicher ethnischer Gruppen jedenfalls, die damit verbundenen Konfrontationen und Konflikte, aber auch die Kompromisse und die dann mögliche, wechselseitige Bereicherung lässt sich am Beispiel des östlichen Europas und seiner Geschichte gut nachvollziehen und entlarvt die von Nationalisten gepflegte Ideologie des Eigenen als Irrweg und Illusion.
Vielleicht kennen Sie das schmale Büchlein "Über Tyrannei" des renommierten Historikers und Osteuropa-Experten Timothy Snyder, meine Damen und Herren, das vor kurzem auf Deutsch erschienen ist. Es verdichtet die Erfahrungen aus der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts - aus dem Scheitern der Demokratie in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren - zu "20 Lektionen für den Widerstand" gegen Demagogen und Autokraten und richtet sich damit an Bürgerinnen und Bürger, die das Erstarken der Populisten, Nationalisten und Demokratieverächter mit Sorge beobachten. Es motiviert zu einem "Wehret den Anfängen!", wo grundlegende Rechte wie die Freiheit der Presse und der Wissenschaft beschnitten werden - Freiheiten, die sich die Bürgerinnen und Bürger Mittel- und Osteuropas so hart erkämpft haben."Geschichte ermöglicht es uns, Muster zu erkennen und Urteile zu fällen", schreibt Snyder darin und wirbt dafür, auf diese Weise aus der Vergangenheit zu lernen. Denn: "Geschichte erlaubt uns, verantwortlich zu sein: nicht für alles, aber für etwas."
So hängt die Zukunft Europas heute vielleicht weniger von der Höhe der Agrarsubventionen und von der Ausgestaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ab, als vielmehr von der Frage, ob wir willens und in der Lage sind, aus der Geschichte zu lernen und den Anfängen derjenigen Entwicklungen entgegen zu treten, die Europa im 20. Jahrhundert präzedenzloses Leid beschert und den einstigen Kulturraum Mitteleuropa über Jahrzehnte in feindliche Blöcke gespalten haben. In diesem Sinne verdient die europäische Geschichte gewiss nicht weniger Aufmerksamkeit als beispielsweise die gemeinsame europäische Währung. Ich freue mich jedenfalls, dass die heutige Tagung ganz offensichtlich große Resonanz findet, und hoffe, dass das geschärfte Bewusstsein für den Wert des deutschen Erbes im östlichen Europa uns allen dabei hilft, Europa als Kulturraum und Wertegemeinschaft zu verteidigen.