Redner(in): Monika Grütters
Datum: 04. Juli 2017

Untertitel: Im neuen Online-Portal www.zeitzeugen-portal.de werden Zeitzeugen-Interviews technisch wie inhaltlich zusammengeführt. "Damit kann das Haus der Geschichte ein neues, bedeutsames Betätigungsfeld aufbauen", erklärte Kulturstaatsministerin Grütters bei der Präsentation. Die Dateien werden gesichert, erfasst, erschlossen und zugänglich gemacht. "Das Vermächtnis dieser Persönlichkeiten zu bewahren, ihre Zeitzeugenberichte zu schützen und möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, gehört zu den wichtigen kultur- und erinnerungspolitischen Aufgaben", so Grütters.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2017/07/2017-07-04-bkm-zeitzeugenportal.html


Im neuen Online-Portal www.zeitzeugen-portal.de werden Zeitzeugen-Interviews technisch wie inhaltlich zusammengeführt."Damit kann das Haus der Geschichte ein neues, bedeutsames Betätigungsfeld aufbauen", erklärte Kulturstaatsministerin Grütters bei der Präsentation. Die Dateien werden gesichert, erfasst, erschlossen und zugänglich gemacht."Das Vermächtnis dieser Persönlichkeiten zu bewahren, ihre Zeitzeugenberichte zu schützen und möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, gehört zu den wichtigen kultur- und erinnerungspolitischen Aufgaben", so Grütters. Don ' t ever tell anybody anything. If you do, you start missing everybody."Am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, kann eine Rede der deutschen Kulturstaatsministerin schon mal mit einem Satz auf Englisch beginnen zumal, wenn dieser aus der Feder eines berühmten amerikanischen Schriftstellers stammt:" Man sollte nie jemand etwas erzählen. Sonst fangen sie alle an, einem zu fehlen."Mit diesen, von Heinrich Böll übersetzten Worten endet der einzige Roman Jerome David ( J. D. ) Salingers," Der Fänger im Roggen ". Jemandem etwas von sich zu erzählen, so liest man zwischen den Zeilen, schafft eine Verbindung oder setzt sie voraus. Ihre persönlichsten Erlebnisse und Erinnerungen, Gedanken und Gefühle vertrauen die meisten Menschen deshalb auch nur engen Freunden und Familienangehörigen an. Es gibt aber auch Menschen, die persönliche Geschichten völlig Fremden erzählen; Menschen, die zudem Unfassbares unfassbar Grausames, unfassbar Schmerzliches, oder auch unfassbar glückliche Momente erlebt haben. Diese Frauen und Männer sind bemerkenswerte Persönlichkeiten, sie sind herausragende Zeitgenossen und sie sind: wichtige Zeitzeugen.

So wie das Erzählen einschneidender Erlebnisse Menschen miteinander verbindet, können Zeitzeugenberichte eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen: Mitreißende, emotionale Zeitzeugengeschichten vermögen es, historische Ereignisse aus einer fernen, fremden Welt in die gegenwärtige Lebensrealität zu überführen. Wo gesammelte Zahlen und Fakten den Leser bei der Lektüre dicker Geschichtsbücher oft überfordern, lassen Zeitzeugenberichte die Zuhörinnen und Zuhörer meist nicht mehr los: sie berühren unmittelbar, können verstören und erschüttern, aber auch ermutigen und versöhnen. Die Begegnung mit einer Zeitzeugin oder einem Zeitzeugen kann das Interesse für die Geschichte unseres Landes wecken oder Anlass sein, sich detaillierter mit ihr zu beschäftigen. Zeitzeugen sind in diesem Sinne die Schlüsselfiguren in der Geschichtsvermittlung und sie vervollständigen das Geschichtsverständnis, weil ihre individuelle Sichtweise die ( kollektive ) historische Wahrnehmung bereichert. Nicht zuletzt, weil sie auch "unsichtbare" Geschichte sichtbar machen, weil sie Alltagserlebnisse schildern und sich an vermeintlich Nebensächliches erinnern, das in Geschichtsbüchern und wissenschaftlichen Berichten selten Platz findet, sind Zeitzeugen von unschätzbarem Wert und ein unverzichtbarer Teil der Erinnerungskultur in unserem Land.

Besonders die bewegenden Berichte vieler Holocaust-Überlebender prägen unsere Erinnerungs- und Gedenkkultur und angesichts der immer kleiner werdenden Erlebnisgeneration müssen wir uns den Fragen nach der Sicherung dieser wertvollen Quelle stellen: Im vergangenen Jahr sind große Zeugen der NS-Schreckensherrschaft wie Imre Kertész, Elie Wiesel und Max Mannheimer gestorben."Menschen wie Mannheimer", schreibt der Historiker Norbert Frei,"denen Deutschland zum Zeitpunkt ihrer Befreiung 1945 nur verhasst sein konnte, haben mit ihrer engagierten Zeugenschaft zur Aufklärung unserer Gesellschaft und damit zu ihrer humanen Ausgestaltung maßgeblich beigetragen." Eine dieser "engagierten Zeitzeugen" war auch Simone Veil, die als Jugendliche die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hatte und die am vergangenen Freitag gestorben ist: Die französische Politikerin und Publizistin hat nicht nur ihr Land maßgeblich mitgestaltet, sondern sich in besonderer Weise um die europäische Einigung verdient gemacht."Demokratie und Weitergabe der Erinnerung", sagte sie in ihrer bewegenden Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Januar 2004, seien "die beiden komplementären Voraussetzungen, die das befriedete Europa mit seiner zerrissenen Vergangenheit verbinden." Wir sind es den mutigen und hoffnungsvollen Menschen wie Simone Veil und Max Mannheimer schuldig, ihre Stimmen nie verstummen zu lassen; und uns stets daran zu erinnern, wie groß unsere Verantwortung für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte ist.

Viele Geschichten von Zeitzeugen wie Max Mannheimer und Elie Wiesel wurden in den vergangenen Jahrzehnten aufgezeichnet, seitdem die "Oral History" die erzählte Geschichte fester Bestandteil in der Vermittlung historischen Wissens ist. Allein in den von meinem Haus geförderten oder finanzierten Einrichtungen sind mehr als 12.000 Zeitzeugenberichte vorhanden, von Holocaust-Überlebenden, aber auch von Menschen, die über ihr Schicksal in der SED-Diktatur berichten, von herausragenden Politikerinnen und Politiker, die in etwa in den Nachkriegsjahren die Bundesrepublik mit aufgebaut haben oder von jenen, die die Wiedervereinigung mitgestaltet haben.

So vielfältig die Erlebnisse und Geschichten der Zeitzeugen sind, so vielfältig sind die Herausforderungen ihre Erinnerungen zu bewahren: Die Berichte müssen gesichert, inhaltlich erschlossen, technisch aufbereitet und systematisiert werden, damit sie optimal und dauerhaft genutzt werden können. Zudem droht in vielen Fällen bereits jetzt der physische Verfall, sodass die Audio- und Videoaufnahmen aufwändig digitalisiert werden müssen, um sie zu retten. Dass diese anspruchsvollen Aufgaben nicht in jedem Museum, jeder Gedenkstätte und jeder Bildungseinrichtung eigenständig geleistet werden können, ist verständlich und war schließlich auch das Ergebnis eines auf meine Initiative im Jahr 2015 durchgeführten Workshops im Deutschen Historischen Museum. Wir haben in den vergangenen zwei Jahren also darüber nachgedacht, wie wir das Wissen über die Arbeit mit Zeitzeugen bündeln und das Ton- und Video-Material bereits vorhandener Zeitzeugenberichte bewahren können. In diesem Zusammenhang hat sich auch die Gelegenheit geboten, die Bestände der Zeitzeugenberichte des Vereins "Gedächtnis der Nation" zu übernehmen und in die institutionelle Förderung meines Hauses zu überführen. Den Initiatoren und Mitarbeitern des "Gedächtnis der Nation" danke ich für diesen wichtigen Input und das Vertrauen in unser neues Zeitzeugenportal. Mit dem Zeitzeugenportal haben wir nun eine zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für Museen und Gedenkstätten, für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geschaffen, bei der zudem Audio- und audiovisuelle Zeitzeugenberichte ( technisch ) gesichert, inhaltlich erschlossen und zentral erfasst werden sollen.

Die Chancen dieser Einrichtung liegen auf der Hand: Historiker haben nun einen erfahrenen, anerkannten Ansprechpartner, um anhand von Zeitzeugenberichten zu forschen. Museen, Gedenkstätten und Erinnerungsorte werden von den Experten der neuen Zeitzeugenstelle im Haus der Geschichte unterstützt und entlastet. Das Haus der Geschichte kann mit dem Zeitzeugenportal ein neues, bedeutsames Betätigungsfeld aufbauen, und schließlich werden Bürgerinnen und Bürger zukünftig auf viele der gesammelten Zeitzeugenberichte unmittelbar zugreifen können oder aber darüber informiert, in welchen Einrichtungen sie welche Materialien finden. Ich freue mich sehr, dass ich aus meinem Kulturetat die Mittel und Stellen für den dauerhaften Betrieb des Zeitzeugenportals zur Verfügung stellen konnte und danke Ihnen, lieber Herr Prof. Hütter ganz besonders dafür, dass Sie das Projekt so beherzt angegangen sind. Bei den erfahrenen und kompetenten Kolleginnen und Kollegen in Ihrem Haus ist diese herausfordernde neue Aufgabe bestens aufgehoben. Meine Damen und Herren, liebe Einrichtungsleiterinnen und Einrichtungsleiter, liebe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Sie sind herzlich dazu eingeladen, sich am Aufbau und Betrieb des Zeitzeugenportals zu beteiligen und die Kolleginnen und Kollegen des Hauses der Geschichte zu unterstützen. Am meisten aber freuen wir uns, wenn Sie das Angebot, das wir Ihnen mit dem Zeitzeugenportal machen, für Ihre tägliche Arbeit nutzen! Geschichte schreiben heißt Jahreszahlen ihre Physiognomie geben."so hat es Walter Benjamin einmal formuliert, der am 15. Juli seinen 125. Geburtstag feiern würde. Menschen schreiben Geschichte, indem sie etwas Herausragendes vollbringen etwas entdecken, erfinden oder erschaffen. Ihr Wirken gibt ihrer Zeit eine sichtbare Gestalt in wissenschaftlicher, technischer oder intellektueller Hinsicht; oftmals sind Errungenschaften, Maschinen oder Kunstwerke das Abbild einer Epoche. Andere Menschen schreiben Geschichte, indem sie ihre Zeit auf eine eigene, besonders sensible Weise wahrnehmen, indem sie in ihren Erzählungen ausdrücken, was ein Ereignis jenseits historischer Fakten ausmacht und wie die Geschichte unseres Landes ihr Leben geprägt hat. Es sind auch jene" engagierten Zeitzeugen ", die den Jahreszahlen eine sichtbare Gestalt verleihen, ihnen" ihre Physiognomie geben ". Das Vermächtnis dieser Persönlichkeiten zu bewahren, ihre Zeitzeugenberichte zu schützen und möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, gehört deshalb zu den wichtigen kultur- und erinnerungspolitischen Aufgaben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, lieber Herr Prof. Hütter und Ihrem Team, einen erfolgreichen Start des Zeitzeugenportals und weiterhin viele bereichernde Momente beim Ergründen der" Physiognomie " unserer Geschichte!