Redner(in): Christina Weiss
Datum: 20.09.2004
Untertitel: In ihrem Beitrag zur Fachkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin zum Thema "Entwicklungsperspektiven der Medienpolitik in Deutschland" geht die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsministerin Christina Weiss, insbesondere auf die Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/40/716940/multi.htm
nach einigen Jahren in den Vereinigten Staaten ist der Dirigent Christoph von Dohnányi dieser Tage nach Deutschland zurückgekehrt. Er brachte eine Erkenntnis mit, die viele von uns schon fast vergessen hatten oder die im Nebel der Selbstverständlichkeit nicht mehr zu orten war: "Das Einzige, was in Deutschland einmalig ist, das ist die Kultur. Das ist keine Marotte. Nur die Kultur sichert uns einen Platz an der Spitze; denn das Signum'Made in Germany'hat für die Welt, vor allem in Sachen Technik, längst seinen Glanz, seine Glaubwürdigkeit verloren. Uns bleibt, neben Bergen und Seen, allein die Kultur." Und, so möchte ich auf dieser Medientagung ergänzen, uns bleibt auch noch eine einzigartige Fernsehlandschaft. Wer jetzt im Urlaub mal wieder die Kanäle anderer Länder beobachtete, ahnt, wovon ich spreche. Die öffentlich-rechtlichen Programme sind Kulturträger, ja sogar Ausdruck unserer Kultur. Wir tun immer wieder gut daran, auf die gewaltige Kultivierungs- und Erziehungsleistung dieser Sender für die Bundesrepublik Deutschland hinzuweisen.
Trotzdem ist dieser Kulturraum längst nicht mehr geschützt, sondern in Deutschland wie auch in anderen europäischen Staaten unter enormen Druck geraten. Keine Woche vergeht ohne politische Diskussionen, die sich aus Zweifeln über die Sinnhaftigkeit des breiten öffentlich-rechtlichen Angebots speisen. Konkurrenten, Lobbyisten, Branchenvertreter, aber auch Politiker und Beamte fachen ein ums andere Mal eine polemische Debatte an, die das Erfolgsmodell bedrängt. Spar- und Rationalisierungszwänge tun ihr übriges. Nur wenige ahnen, was inzwischen wirklich auf dem Spiel steht. Wir müssen das System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verteidigen, es aber gleichzeitig reformieren. Der ständige Ruf nach Veränderung erschallt aber nicht nur hierzulande, sondern in ganz Europa. Mehrere Auskunftsersuchen der EU- Kommission zu Aktivitäten der öffentlich-rechtlichen Sender z. B. im Online-Bereich zeugen davon. Nicht jeder, der verändern will, möchte auch erhalten, einigen geht es auch darum, abzuschaffen.
Wer die Programmvielfalt der öffentlich-rechtlichen Sender verteidigt, kommt natürlich nicht umhin, etwas zum Streit um die Erhöhung der Rundfunkgebühr zu sagen. Es ist in diesen Zeiten weiß Gott nicht populär, an der Abgabenschraube zu drehen. Um es aber ganz klar zu sagen: Wer im Fernsehen einen Ort der Aufklärung sieht, der muss auch bereit sein, dafür einen gewissen Preis zu entrichten. Die Informationskompetenz und der Kulturauftrag der Sender sind hohe Güter, die es fürsorglich zu behandeln gilt. Das sage ich vor allem an die Adresse derer, die die Gebührendebatte populistisch zu eigenen Zwecken missbrauchen und um Wählerstimmen buhlen. Sie spielen damit auch den kommerziellen Rundfunkveranstaltern in die Hände, die längst ihre Chance wittern, die eigene Wettbewerbsposition gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk durch exklusive Besetzung der Zukunftsfelder zu verbessern. Manchmal entsteht in der Debatte der Eindruck, als ginge es vordergründig nur ums Sparen. Stattdessen ist die Frage zu beantworten, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Zukunft beschaffen sein muss, welche Angebote er offerieren sollte und welche Übertragungswege er nutzen kann. Nicht alles, was wünschenswert ist, kann auch finanziert werden. Aber was nötig ist, um den Kultur- und Bildungsauftrag umfassend erfüllen zu können, muss auch ermöglicht werden.
Das gilt besonders für die neuen Medien. Ich habe bereits auf die umfangreichen Auskunftsersuchen der Kommission hingewiesen. Dabei wird nicht nur in Deutschland "ermittelt", sondern auch in den Niederlanden, in Dänemark und in Großbritannien. Es lässt sich also eine europäische Strategie ablesen. In Deutschland geht die Generaldirektion Wettbewerb der Kommission einer Beschwerde des Verbandes der Zeitungsverleger sowie des Verbandes privater Rundfunk und Telekommunikation nach, die den Umfang und die Finanzierung des Online-Angebots von ARD und ZDF für rechtswidrig halten. Gleichzeitig glaubt man in Brüssel, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk gerade im Bereich der neuen Medien - möglicherweise auch bei den Buketts der Digitalkanäle - nur noch dort aktiv sein darf, wo der Markt keine "hinreichende" Versorgung garantieren kann. Das ist gefährlich und bedroht die Zukunftsfähigkeit der Sender. Es kann nicht sein, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Ausputzer für "Marktdefizite" herhalten muss. Der Garant für Fernsehqualität und Meinungsvielfalt liegt in Deutschland immer noch im dualen Rundfunksystems. Privater und öffentlich-rechtlicher Rundfunk sind gleichberechtigte, wenn auch ihrem Wesen nach unterschiedliche Partner. Dennoch bedingen sie einander, sie stützen sich und fordern sich im positiven Sinne heraus. Diese robuste Konstruktion sorgt für eine Balance auf dem Medienmarkt und braucht daher starke Partner auf jeder Seite. Die Existenz von ARD und ZDF bildet das Fundament für diesen Mechanismus. Dieses gut ausbalancierte Gleichgewicht unserer Rundfunklandschaft ist wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Identifikation der Gesellschaft. Nur wenn diese Partnerschaft wirklich stabil bleibt, wird auch künftig gewährleistet sein, dass der Zuschauer den Gewinn davonträgt. Und noch einmal: ARD und ZDF sind seriöse und verlässliche Informationsquellen. Als solche werden sie auch in den Online-Angeboten wahrgenommen. Sie müssen im harten Verteilungswettbewerb um künftige Märkte bestehen. Das Internet wird immer stärker frequentiert, während die Rundfunknutzung abnimmt. Darauf müssen die öffentlich-rechtlichen Sender reagieren, sonst verlieren sie ihre Existenzberechtigung. Vor allem daran sollten Politiker denken, die jetzt gern bereit sind, diese Zukunftsfelder einzuschränken, um die Erhöhung der Rundfunkgebühr zu verhindern. Das ist vor Wahlen reine Stimmenfängerei. Wer dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk seine Rolle streitig macht, begreift weder das verfassungsrechtliche Fundament unseres Mediensystems, noch ist ihm bewusst, welche Dienstleistungen das europäische Gemeinwohl benötigt.
Niemand wird bestreiten, dass mit Gebühren sparsam umzugehen ist. Es führt kein Weg an Strukturreformen vorbei, es wird auch weiter gespart werden müssen. Gleichzeitig sollten wir darauf achten, dass die zunehmende Verbindung von Werbung und Programm sich nicht zu einer unheiligen Allianz auswächst. Eine "Wertediskussion" halte ich für vordringlich. Ich appelliere dringend an die Macher, die Qualität der Sendungen vor rein wirtschaftlichen Überlegungen zu schützen. Aus kultureller Sicht und aus der Perspektive des Verbraucherschutzes ist es nicht hinnehmbar, dass der Werbeindustrie Einfluss auf das Programm zugestanden wird. Wer Drehbücher nur nach der Maßgabe schreiben kann, welche Automarken in einer Serie vorzukommen haben, hat seine geistige Unabhängigkeit längst verloren.
Man sollte sich gelegentlich auch daran erinnern, auf welchem Fundament unserer einzigartiges Fernsehmodell errichtet werden konnte. Der Rundfunk bedarf der Obhut der Gesellschaft, er wird von ihr veranstaltet, er soll der Demokratie dienen, der Kulturvermittlung und der Bildung. So steht es im Grundgesetz. Die Medienrechtsordnung behandelt den Rundfunk eben nicht wie ein herkömmliches Produkt, dessen Vermarktung allein wirtschaftlichen Kriterien gehorcht. Sie enthält auch Sicherungsmechanismen und Qualitätsstandards, Programmaufträge, die sich nicht kurzfristig rechnen, sondern der gesellschaftlichen Relevanz und der Meinungsvielfalt zu genügen haben. Ein solches Verständnis von der Rolle und der Funktion des Rundfunks besitzen auch andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Diese Erkenntnis ist besonders wichtig, weil die Rolle des Rundfunks heute nicht mehr rein national definiert und erfüllt werden kann, sondern nur noch europäisch. Im Amsterdamer Protokoll zum EG-Vertrag wird explizit betont, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine besondere Rolle für Demokratie, sozialen Zusammenhalt, kulturelle und sprachliche Vielfalt und Medienpluralismus besitzt. Aus diesem Grunde sind die Mitgliedstaaten auch befugt, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als eine Dienstleistung der "Daseinsvorsorge" zu definieren. Die erwähnten nationalen wie europäischen Attacken kreisen also um die Definition des Rundfunkauftrags. Gilt, was geschrieben steht, auch für die digitale Welt, für die Online-Angebote?
Ich bin der Ansicht, dass die grundlegende Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf die digitalen Möglichkeiten zu übertragen ist. Damit wird dem sich ändernden Nutzerverhalten Rechnung getragen. Das Bundesverfassungsgericht wie auch die EU-Kommissarin Reding vertreten einen funktionalen Rundfunkbegriff: Die Definition des Auftrags muss dynamisch, entwicklungsoffen und technologieneutral erfolgen - die Inhalte stehen also im Mittelpunkt! Dies wird als Garant für eine freie und individuelle Meinungsbildung gewertet. Der Artikel 5 des Grundgesetzes beschreibt in diesem Zusammenhang ein Kommunikationsgrundrecht, ein Gewährleistungsgrundrecht elektronischer Massenmedien. Im Prinzip gibt es heute keine Rundfunkanstalten mehr, sondern nur noch Kommunikationsunternehmen.
Diese Sicht muss auch die Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission akzeptieren!
Was die Definition des Auftrags anlangt, so haben einige Länder die Vorstellung, die Verbreitung der öffentlich-rechtlichen Angebote auf die klassischen Übertragungswege zu begrenzen. Gleichzeitig sollen sich die Sender auf das herkömmliche Repertoire beschränken. Online-Aktivitäten werden als bloßer "Annex" zum Programm gewertet. Wer so denkt, handelt perspektivlos und hinterwäldlerisch, er verbaut dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Zukunft.
Natürlich funktioniert das Internet anders als der Rundfunkmarkt. Die öffentlich-rechtlichen Anbieter sind nicht die alleinigen Lordsiegelbewahrer für verlässliche und vielfältige Informationen. Das Netz ist per se schon ein reicher Informationsbasar. Und doch wäre es nötig, Angebote zu vernetzen, die für Qualität, Objektivität und Sorgfalt stehen. Ein Problem liegt doch gerade darin, dass Komplexität des Netzes einen sicheren Navigator, einen Gewährträger für Validität braucht. Die Politik wird sich diesen Aufgaben in der nächsten Zeit zu stellen haben. Ich habe auf dem Medienforum NRW dazu einen ersten Vorschlag unterbreitet. Mir geht es darum, unser kulturelles Gedächtnis zu pflegen und dafür die Archive der öffentlich-rechtlichen Anstalten zu öffnen. Es wäre ein Fortschritt, wenn Privatpersonen über die neuen Medien am ungehobenen Schatz unserer Fernsehkultur partizipieren könnten. Dieses Ziel sollte unbedingt weiter verfolgt und konkretisiert werden. In Großbritannien ist all dies längst Realität. Die BBC plant noch im Herbst den Start des sogenannten BBC Creative Archive. Jeder Interessierte wird dann das Gedächtnis der BBC privat nutzen können. Langfristig wollen die Initatoren ein "öffentliches kulturelles Gedächtnis" etablieren. Als Vorbild dafür gilt das Projekt "Creative Commons" aus den Vereinigten Staaten.
Ich habe Ihnen skizziert, in welcher Weise die Medienpolitik durch ein verändertes Nutzerverhalten und neue Technologien herausgefordert ist. Die nationale Kommunikationsordnung darf davon nicht ausgehebelt werden. Dies zu verhindern, ist unsere Pflicht. Dem Ansinnen der EU-Kommission, sich über das Wettbewerbsrecht eine europäische "Kompetenz-Kompetenz" für den Medienbereich, der in nationaler Verantwortung liegt, zu schaffen respektive an sich zu ziehen, muss entschieden widersprochen werden. Ich werde mich daher im Oktober auf der nächsten Kulturministersitzung dafür einsetzen, dass der Rundfunkbegriff des Amsterdamer Protokolls nicht uminterpretiert, sondern der veränderten Medienwelt angepasst wird, soweit dies den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der europäischen Gesellschaft dient.
Nur mit einer fest umrissenen Auftragsdefinition und robusten Qualitätsangeboten lassen sich Bestrebungen auf europäischer Ebene abwehren, die Finanzierung von ARD und ZDF als unzulässige Beihilfen einzustufen und somit den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Ganzes in Frage zu stellen. Es darf deshalb nicht darum gehen, die Programminhalte und -formen in Zukunft noch stärker denen der privaten Anstalten anzunähern. Die programmlichen Selbstverpflichtungen, die gerade erarbeitet wurden, sind ein gutes Instrument, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu legitimieren, das Bewusstsein der Bevölkerung für die Notwendigkeit und die Qualität des Programms zu schärfen und die Leistungen der Anstalten transparenter zu machen. Gleichwohl sollte es darum gehen, die Qualitätssicherung auch messbar zu machen. Es sind Qualitätskennziffern z. B. zu Sendezeitanteilen bestimmter Programme oder Formate, Erstausstrahlungen, Eigenproduktionsquoten, Genrevielfalt, auch Freiheit von werblichen Einfluss, Jugendschutzstandards oder Servicetauglichkeit bestimmter Programme vorstellbar. Es geht darum, konkrete Versprechen gegenüber dem Publikum abzugeben. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss die Qualität wieder stärker als "Mehrwert" entdecken. Besondere Bedeutung kommt bei der Qualitätssicherung den Gremien zu. Sie sind die Repräsentanten der Gesellschaft und sollten gleichsam ein Spiegel der Meinung und der Akzeptanz eines Senders sein. Angesichts der Legitimationskrise des Rundfunks ist an alle Gremienmitglieder zu appellieren, sich mehr als Sachwalter der Allgemeinheit und letztlich als "Garanten der freien Meinungsbildung" zu profilieren. Ein gutes Beispiel für Transparenz ist das neue Deutsche-Welle-Gesetz. Es konkretisiert den Senderauftrag, ohne dabei in die Programmautonomie einzugreifen. Die übrigen Anstalten sollten einen ähnlichen Weg beschreiten.
Wenn wir unsere Fernsehkultur verteidigen wollen, dann müssen wir jetzt handeln, dann müssen wir jetzt Qualität sichern. Der Rundfunk ist eben keine Ware, sondern ein Kommunikationsmittel, eine Projektionsfläche für politische Prozesse und gesellschaftliche Diskurse, im besten Fall sogar ein Vermittler von geistiger Entwicklungshilfe.