Redner(in): Angela Merkel
Datum: 22.09.2006
Untertitel: Die Rede im Wortlaut
Anrede: Herr Weidenfeld, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/09/2006-09-23-bertelsmann,layoutVariant=Druckansicht.html
Ich möchte mich ganz herzlich bei der Bertelsmann Stiftung, Frau Mohn und Herrn Thielen sowie vielen anderen bedanken, dass Sie diese Konferenz einberufen haben, dass Sie sich dem Thema Europa annehmen und auch einen Rahmen schaffen, der uns jenseits der Räte und der rein politischen Veranstaltungen auch neue Perspektiven eröffnet. Insofern werde ich und werden wir, die wir die Bundesregierung hier vertreten, sehr aufmerksam hinhören, ob wir noch manche Inspiration bekommen. Das darf ich Ihnen auch im Umkehrschluss durchaus versprechen.
Es lohnt sich natürlich angesichts der vielen Einzelfragen im politischen Tagesgeschäft, auch immer wieder den Blick auf das Grundsätzliche zu richten. Sie haben das eben schon getan, indem Sie uns auch ein paar Impressionen von den Menschen in Europa geliefert haben. Ich glaube, es ist unstrittig, dass, von außen betrachtet, Europa für viele auf der Welt eine unglaubliche Erfolgsgeschichte ist. Da das für uns zum Teil schon selbstverständlich geworden ist, lohnt es sich trotzdem, es ab und zu wieder zu betonen. Wenn man Konfliktregionen anderswo auf der Welt sieht, dann ist das, was Europa nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft hat, etwas, was sich nicht nur sehen lassen kann, sondern was zu Freiheit und Wohlstand geführt hat.
Seit der Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist die europäische Integration stetig vorangeschritten. Wir haben heute beim Mittagessen mit dem ungarischen Ministerpräsidenten darüber gesprochen, dass die neuen Mitgliedstaaten jetzt mit einem Schritt in ein tief integriertes Europa gelangt sind, wofür die älteren Mitgliedstaaten Jahre und Jahrzehnte Zeit hatten, was natürlich auch manche Friktion und manche Frage auslöst. Der Integrationsgrad insgesamt ist aber mittlerweile sehr hoch. Er umfasst für bald 13 Mitgliedsländer auch eine gemeinsame Währung, gespeist aus dem Grundgedanken von Menschen und Persönlichkeiten nach dem Zweiten Weltkrieg, die gesagt haben: Wer das gleiche Geld hat, führt gegeneinander nie wieder Krieg. Es war also nicht nur eine monetäre Entscheidung, sondern durchaus auch eine wertgebundene Entscheidung.
Die Mitglieder rückten enger zusammen. Spanien, Portugal, Griechenland haben sich in dieser Zeit in blühende Demokratien verwandelt; von den mittel- und osteuropäischen Ländern gar nicht zu reden. Ein Land wie Irland gehört heute zu den reichsten innerhalb der Europäischen Union. Das heißt, Europa ist mit vielen Chancen für Sicherheit, für Wohlstand und Frieden verbunden. Wir brauchen dieses Europa das ist uns klar. Aber in der Öffentlichkeit ist das Bewusstsein, der Enthusiasmus an vielen Stellen das muss man nüchtern sagen ein Stück geschwunden. Europa ist im Augenblick für viele kein Thema, das, wenn man es anspricht, unmittelbar Enthusiasmus weckt.
Das hängt damit zusammen, dass eine ganze Reihe von Fragen nicht geklärt ist: Wohin soll sich Europa entwickeln? Was ist das Ziel des Einigungsprozesses? Und es hängt damit zusammen, dass wir uns in einer sehr harten Wettbewerbssituation befinden. Das heißt, Arbeitsplatzkonkurrenz, Kriminalität sind Stichworte, die jeweils eine protektionistische Tendenz auch wieder befördern könnten wir müssen jedenfalls darauf aufpassen. Gleichzeitig gibt es eine Angst vor einem bürokratischen Superstaat, der seine eigenen Grenzen nicht richtig definieren kann.
Wir haben deshalb Herr Weidenfeld, ich kann das nur unterstreichen aus sehr unterschiedlichen Motiven, die nicht nur mit der Verfassung zu tun haben, in Frankreich und in den Niederlanden ein "Nein" bekommen. Deshalb ist es auch richtig gewesen zu sagen, wir kommen nicht als Erstes gleich wieder auf den Verfassungsvertrag zurück, sondern wir kümmern uns erst einmal um ein paar Punkte, die die Menschen ansonsten noch an Europa stören. Das wird dem Verfassungsprozess mit Sicherheit helfen.
Wir haben im Augenblick sehr viel über das Europa der Projekte gesprochen, um es auch fassbar zu machen, und das muss weitergeführt werden. Ich möchte in fünf Leitsätzen deutlich machen, was, wie ich glaube, wir leisten müssen. Denn wir müssen den Menschen von heute, gerade auch der jungen Generation, Europa neu begründen, ohne die historische Begründung wegzulegen. Aber sie muss ergänzt werden.
Mein erster Leitsatz für eine solche neue Begründung heißt: Europa muss sich klar werden, was seine Werte sind. Das sind ja nicht nur gemeinsame geschichtliche Erfahrungen, die wir haben, sondern wir gründen auf gemeinsamen Werten, die wir alle teilen: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte. Deshalb muss unsere Politik auch wertegebunden sein. In unserem Verhältnis zu anderen Staaten, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind, muss das diskutiert werden; das muss sich widerspiegeln. Ich glaube, gerade diese Wertegebundenheit mit heutiger Begründung muss ein wichtiges Thema im Hinblick auf den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge sein. Wir werden hier ja auch eine politische Erklärung vorbereiten, bei der ich darum bitte, dass wir sie im Prozedere möglichst einfach und in den Worten möglichst inhaltsreich gestalten. Es ist nicht immer so, dass das perfekteste Beteiligungsverfahren zum prägnantesten Ergebnis führt. Insofern müssen wir Wege und Möglichkeiten finden, auch wirklich die Fragen anzusprechen, die uns bewegen.
Bei der Frage nach Werten geht es auch darum, seitens der Europäischen Union einen interkulturellen Dialog und einen interreligiösen Dialog zu führen. Wir haben in Deutschland mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble damit begonnen, eine Islamkonferenz zu gründen und diesen Dialog zu führen. Ich denke, wir sollten auch vonseiten der Europäischen Union hier deutlich machen, dass wir zu einem solchen Dialog bereit sind. Er ist nicht einfach; aus zwei Gründen: Weil schon wir uns zum Teil nicht ganz einfach auf eine gemeinsame Plattform verständigen und weil unser Wissen über andere Kulturen und Religionen mangelhaft ist.
Ich glaube, die Notwendigkeit, in einer globalen Welt sich nicht nur bei sich zu Hause auszukennen, sondern mit anderen Kulturen so umgehen zu können, dass Respekt und Toleranz und trotzdem wirklich geistige Auseinandersetzung möglich sind, erfordert ein viel breiteres Wissen. Es gibt sehr gebildete Leute ich will natürlich niemanden hier beunruhigen, aber das Gesamtwissen über die, mit denen wir sprechen, ist nicht ausreichend, um einen wirklich vertieften Dialog zu führen.
Europa könnte hier aus meiner Sicht aber natürlich auch etwas leisten, was uns selber vielleicht wieder ein Stück zurückführt zu einer kritischen Selbstreflexion. Denn es ist nicht so, dass außerhalb Europas alle meinen, dass wir unsere Werte so perfekt verwirklichen, wie wir glauben sie zu verwirklichen. Die Frage der Rolle des Einzelnen, der Rolle der Gemeinschaft wird in vielen Teilen der Welt hinterfragt, und es tut uns gut, glaube ich, auch zur eigenen Reflexion diesen Dialog zu führen.
Zweiter Leitgedanke: Europa muss seine Konturen nach innen und nach außen schärfen, denn ohne klare Verfasstheit über die geografische Ausdehnung wird Europa in einer sich rasant verändernden Welt schwer bestehen. Hier gibt es das muss man ja einfach aussprechen sehr unterschiedliche Ansätze innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es gibt Mitgliedstaaten, die prioritär auf die Vertiefung der Integration setzen, und es gibt Mitgliedstaaten, die sehr stark auf eine Ausdehnung setzen. Manch einer glaubt, dies alles könne parallel geschafft werden; ich glaube nicht, dass das klappt. Und deshalb ist aus meiner Sicht die Aussage richtig, dass wir auf absehbare Zeit ich nehme jetzt mal die Frage des Balkans aus keine neuen Zusagen machen können, was Mitgliedschaften anbelangt. Das ist eine harte Aussage, das ist eine, die etwa bei unserem polnischen Nachbarn mit Blick auf die Ukraine etwas anders gesehen wird, vielleicht auch von den baltischen Mitgliedstaaten. Aber ich vertrete sie hier so, weil ich glaube, dass wir wirklich zusehen müssen, dass wir arbeitsfähig und auch wettbewerbsfähig sind.
Für diejenigen, die Beitrittsverhandlungen führen, gilt, dass die Kriterien eingehalten werden müssen. Zu diesen Kriterien gehört auch die Aufnahmefähigkeit der bestehenden Europäischen Union; so verstehen wir jedenfalls die Kopenhagener Kriterien. Wir haben die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen ich will das hier speziell ansprechen. Aber auch da ist es notwendig, dass alle Kriterien erfüllt werden. Ich will das hier nicht ausbauen, aber wir haben ein Stichwort, das uns Sorgen macht, das ist das Stichwort Zypern. Für diese Frage muss eine Lösung herbeigeführt werden, wenn die Kriterien und Notwendigkeiten der Europäischen Union auch für alle gelten müssen.
Weil ich relativ abgrenzend argumentiere, ist es umso wichtiger, dass wir eine konsequente und konsistente Nachbarschaftspolitik entwickeln. Wir brauchen sozusagen einen Zustand, eine Gemeinschaft, eine Gemeinsamkeit, die mehr als das bloße Nachbarsein mit Mitgliedstaaten der Europäischen Union und trotzdem nicht die volle Vollmitgliedschaft ist. Hier sind jetzt auch gerade von deutscher Seite einige Vorstellungen entwickelt worden, was Russland, was auch die kaukasischen und sonstigen Regionen anbelangt. Das muss gemacht werden. Ich glaube, dass das auch für die Anrainerstaaten des Mittelmeers von ganz großer Bedeutung ist. Ich sage nur: Barcelona-Prozess und anderes; hier können wir viele Dinge noch intensivieren und pflegen. Das reicht bis hin zu einer in sich konsistenten Afrikapolitik. Ich komme darauf gleich noch einmal zu sprechen.
Wir brauchen natürlich auch die bessere Verfasstheit nach innen. Es ist nicht so, dass die anderen Weltregionen auf uns warten. Wir haben rasante Entwicklungen in China und Indien. Das führt mich dann sofort zu meinem dritten Leitsatz: Wirtschaftliche Dynamik ist die Voraussetzung für eine zukunftsfähige Europäische Union. Wenn wir den einzelnen Menschen nicht zeigen können, dass Europa für sie mehr Wohlstand als ein einzelner Nationalstaat bedeutet, dann werden die Menschen diese Europäische Union nicht akzeptieren. Der Wohlstand reicht nicht, aber ohne Wohlstand wird die Diskussion über Werte und vieles andere sehr viel schwieriger zu führen sein. Und deshalb muss wieder klar werden: Es geht uns durch Europa besser und deshalb ist natürlich die Umsetzung einer konsequenten Vollendung des Binnenmarktes eines der zentralen Themen. Die täglichen Kämpfe der Kommission zeigen, dass das auf dem Papier einfacher passiert als in der Realität. Wir alle ächzen und stöhnen häufig, wenn es um Besitzstände geht, an die wir uns gewöhnt haben, die scheinbar konstitutiv sind. Aber ich glaube, dass es keine Alternative zur Vollendung des Binnenmarktes gibt.
Die Lissabon-Strategie ist in sich ja sehr abstrakt und war auch sicherlich sehr ambitioniert. Europa ist im Jahre 2010 wahrscheinlich nicht der dynamischste Kontinent der Welt, aber wir brauchen mehr Dynamik. Und deshalb ist die Liberalisierung der Märkte ein wichtiger Punkt: Energie, Postdienstleistungen, Telekommunikation, Umsetzung des Aktionsplans für die Finanzdienstleistungen, einheitliche Bemessungsgrundlage für Unternehmenssteuern alles Stichworte, die ziemlich viel Brisanz in sich bergen.
Und es gehört für mich das Thema Bürokratieabbau dazu. Gemeinhin wird das in der Kommission "Better Regulation" genannt. Die einfache Übersetzung im Deutschen lässt nicht vermuten, dass es dabei um weniger Richtlinien geht. Ich glaube, wir haben hierbei im Zuge der Binnenmarktgestaltung noch nicht viel Wichtiges gemacht, aber an einigen Stellen zu viel Unwichtiges. Sonnenschirmrichtlinien und andere Dinge sind ja glücklicherweise jetzt in den besonderen Fokus des Europäischen Parlaments gerückt, weil auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments einerseits sehr viele Kompetenzen haben, aber andererseits auch sehr viel stärker zu Hause gefragt werden, was sie denn im Parlament in Brüssel und in Straßburg tun. Das ist auch richtig so, denn ein gut verfasstes Europa braucht eine starke parlamentarische Kontrolle; ich bin davon zutiefst überzeugt. Nur so wird die Rückbindung an die Wählerinnen und Wähler möglich sein.
Als Drittes, was mir ganz wichtig ist, werden wir in unserer Präsidentschaft neben der "Better Regulation" und dem Abbau von Bürokratie auch das Thema Forschung und Entwicklung sehr betonen. Das 7. Rahmenforschungsprogramm ist sehr ambitioniert. Ziel ist ein ganz konsequentes Vorgehen nach Exzellenz, nicht nach nationalen Gegebenheiten oder Verteilungsschlüsseln. Der Faktor der Exzellenz muss der Maßstab aller Bewertungen in der Europäischen Union sein; nur so kommen wir weiter.
Wir werden das ist mein vierter Leitsatz die Globalisierung nur dann mitgestalten, wenn wir unser Gewicht gemeinsam in die Waagschale werfen. Das bedeutet, dass wir in den internationalen Verhandlungen stark, konsistent und auch kreativ auftreten; ich nenne nur die Stichworte Doha-Runde oder Kyoto. Da gibt es Verbesserungsbedarf, das ist überhaupt keine Frage. Man kann da die Schuld auch anderen zuschieben es sind auch andere Regionen dieser Welt nicht besonders kreativ, aber Europa kann ja auch Vorbild sein; doch wir hängen zum Teil auch sehr an unseren Besitzständen.
Außerdem geht es um eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Hier muss man sagen, dass diese Sicherheits- und Verteidigungspolitik mir ist das sehr wichtig nicht gegen die transatlantische Partnerschaft stehen darf. Sie darf auch nicht in eine Konfliktsituation mit der NATO geraten. Aber Europa wird, was außenpolitische, sicherheits- und verteidigungspolitische Aufgaben anbelangt, in den nächsten Jahren stärker gefordert sein. Die letzten Wochen haben uns hier in einer dramatischen Weise in die Verantwortung genommen. Wenn diese Tagung vor vier Monaten stattgefunden hätte und wir gesagt hätten, dass wir mit starken europäischen Kräften im Nahen Osten vertreten sind, wäre wahrscheinlich ein mildes Lächeln über die Gesichtszüge mancher gerauscht. Die militärische Komponente, die wir jetzt bei UNIFIL mit eingesetzt haben, bedarf eines politischen Engagements, weil uns ansonsten die Menschen in Europa fragen werden, was wir hier tun, und deshalb müssen wir gemeinsam mit unseren amerikanischen Partnern kreativ darangehen, die einzelnen Konflikte zu lösen und das auch sehr engagiert zu tun.
Europa hat auch im Umgang mit dem Iran in einem bisher leider erfolglosen Prozess seinen Beitrag geleistet. Auch hier zeigt sich: Gemeinsam das Gewicht in die Waagschale zu werfen führt dazu, dass wir mehr Verbündete finden auf der Welt. Der Zustand im Zusammenhang mit dem Irakkrieg war ja deshalb so schwierig, weil es letztlich ein gespaltenes und nicht gemeinsam handlungsfähiges Europa gab. Und die Lehren, die wir bis jetzt daraus gezogen haben, sind ermutigend Ich will das ausdrücklich sagen. Wir haben gerade im Umgang mit dem Iran hier sehr viel erreicht.
Es hat vor ein paar Jahren noch keinerlei europäische Verteidigungsmissionen gegeben. Wir sind jetzt, was den Nahen Osten angeht, engagiert, aber wir sind auch in einzelnen europäischen Missionen dabei, zum Beispiel bei der Absicherung des Wahlprozesses im Kongo. Wer einmal sieht, mit welcher Selbstverständlichkeit heute eine Kooperation möglich ist, der sieht auch, was in Europa schon geschaffen wurde. Ich sage das voller Dankbarkeit. Als wir mit unserem Bundestagsbeschluss bezüglich unseres Flottenengagements vor der libanesischen Küste nicht vorankamen oder noch einige Zeit brauchten, zeigte die selbstverständliche und unbürokratische Hilfe durch Griechenland, durch Italien, durch Frankreich, in welch dichter Weise wir hier miteinander kooperieren, und das muss auch weiter so sein.
Dann folgt als fünfter Leitsatz das, worüber Herr Weidenfeld so enthusiastisch gesprochen hat: Europa braucht eine zukunftsfähige Verfasstheit auch in Form einer vertraglichen Grundlage. Ich glaube das zutiefst. Recht interessant war die historische Reminiszenz, was aus misslungenen Operationen dann doch immer wieder geglückt ist. Ich werde mich damit noch einmal befassen und sehen, was uns glücken könnte.
Es gibt einen klugen Beschluss, der noch auf der letzten Ratssitzung unter der österreichischen Präsidentschaft gefasst wurde, der nicht einer Präsidentschaft alles aufgebürdet hat, was die Zukunft des Verfassungsvertrages anbelangt. Wir wissen: Wir müssen bis 2009 Entscheidungen gefällt haben, und wenn die Zeit ausläuft, kann man nur noch minimalistische Entscheidungen treffen. Deshalb werden wir ambitioniert an die Sache herangehen. Ich will jetzt nicht sagen, die französische Präsidentschaft ist dann für die minimalistischen Entscheidungen zuständig; ich hoffe, dass wir zwischendurch schon etwas erreicht haben. Aber die deutsche Präsidentschaft muss es leisten, für diesen Zeitrahmen eine Struktur zu entwickeln.
Ich will es hier ganz offen sagen: Ich persönlich bin skeptisch, wenn es jetzt um neue Räte der Weisen geht, die sich wieder irgendetwas überlegen oder neue Textgrundlagen erarbeiten. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist jetzt ein sehr konkretes politisches, hinter dem letztlich Fragen der Tiefe der Integration stehen, Fragen der Gewichtung der Institutionen und auch Fragen der Wertecharta.
Wir werden zum Ende unserer Präsidentschaft sozusagen einen Plan vorlegen, eine Vorstellung; angesichts verschiedener Wahltermine wird das auch vor dem Ende der Präsidentschaft nicht möglich sein. Die Präsidentschaft tut gut daran auch die zukünftige, nicht schon jetzt selbst mit dezidierten Vorschlägen an die Öffentlichkeit zu gehen. Das hat gar keinen Sinn. Die Sehnsucht nach spezifischen Aussagen ist natürlich groß, aber die spezifische Aussage des einen führt fast reflexhaft zu ablehnenden Aussagen der anderen, und deshalb wird es eines geschickten Prozesses bedürfen, um hier die Gemeinsamkeiten herauszufinden.
Tatsache ist, dass wir im institutionellen Bereich mit Sicherheit eine Lösung brauchen. Ich sage aber auch: Mir ist der Grundrechteteil sehr, sehr wichtig, weil er etwas über uns aussagt und weil die Diskussion mit den jeweiligen Regierungen über diesen Grundrechteteil zeigen wird, ob es mehr ist als nur ein Abstimmungsgremium. Europa ist natürlich mehr. Wir haben auch zusätzliche Kompetenzen. Dazu gehört vor allem die Schaffung des Amtes eines europäischen Außenministers. Hierbei zeigt es sich bereits an jedem Tag, wie dringlich das eigentlich wäre. Ich bin dennoch gegen Rosinenpickerei. Jetzt müssen wir den Druck schon aushalten und dürfen das, von dem wir glauben, es am einfachsten gemeinsam machen zu können, bloß nicht schnell herausnehmen und den restlichen Korb, den Resttorso dann irgendwo liegen lassen. Wir müssen schon ambitioniert an die Sache herangehen.
Es ist kein Geheimnis, dass sich manch einer auch am Begriff des Verfassungsvertrages stört, weil dies natürlich auch die Integrationstiefe zum Ausdruck bringt und die einzelnen Mitgliedstaaten hier sehr unterschiedliche Traditionen haben. Aber ich plädiere trotzdem dafür, dieses Gebilde, das wir gestalten wollen, jetzt nicht sozusagen "undercover" zu benennen, um ja niemandem wehzutun, sondern zumindest am Anfang eine sehr selbstbewusste Diskussion darüber zu führen, dass das Wort "Verfassungsvertrag" schon nicht so schlecht ist.
Denn die Wahrheit ist: Wir haben wesentliche Kompetenzen nach Europa abgegeben, und manchmal muss ich darüber lächeln, dass wir uns in unseren nationalen Diskussionen unglaublich schwer tun, das dann wirklich auszusprechen. Aber es ist doch so, dass wir die innere Sicherheit nicht mehr als Nationalstaaten alleine verteidigen. Schengen ist ein Weitergeben von nationaler Souveränität. Wer das nicht ausspricht, der führt letztendlich auch keine offensive Diskussion über die Frage: Was soll in Europa geschehen und was soll zu Hause in den Nationalstaaten geschehen? Der Ausgangspunkt des Verfassungsvertrages war genau diese Diskussion. Da haben wir sicherlich einen Schritt voran getan, es ist aber noch nicht der letzte Schritt.
Lieber Kommissionspräsident, ich glaube auch, dass wir uns das hat der Verfassungsvertrag auch noch nicht abschließend geklärt unter den Mitgliedstaaten noch einmal darüber verständigen müssen, was für uns eigentlich die Kommission ist. Die Kommission ist ja der Verwalter der Dinge, die wir als souveräne Staaten in die europäische Verantwortung abgegeben haben. Ich plädiere dafür, dass es nicht zu viele Graubereiche gibt, in denen wir in Europa über Angelegenheiten diskutieren, für die Europa letztlich nicht zuständig ist. Aber ich plädiere schon dafür, dass wir effektive Entscheidungsmechanismen für die Dinge haben, für die Europa zuständig ist. Dabei ist die Tatsache, dass es keine Diskontinuität für Richtlinien gibt, ein Handicap. Auch die Tatsache, dass Generaldirektoren gegenüber ihren Kommissaren nicht besonders weisungsgebunden sind, ist ein für einen deutschen Minister völlig undenkbarer Zustand. Insofern muss man über diese Dinge auch noch einmal sprechen, wenn man nicht will, dass sich sozusagen ein unpolitischer Apparat mit einer politischen Haube entwickelt, sondern stattdessen ein Ganzes als Kommission will, das der Kontrolle durch das Parlament unterliegt und damit auch ein hohes Maß an Transparenz aufweisen muss.
In diesem Sinne haben wir noch eine ganze Menge Arbeit zu leisten. Ich rate dazu, die Dinge ehrlich anzusprechen, unterschiedliche Meinungen und langsames Agieren nicht unter den Tisch zu kehren. Das ist zum Teil sehr mühselig, weil wir in der Europäischen Union inzwischen auch sehr viele geworden sind, aber es gibt aus meiner Sicht keine Alternative zu dieser Ehrlichkeit und Redlichkeit.