Redner(in): Thomas de Maizière
Datum: 03.10.2006
Untertitel: Bundeskanzleramtschef de Maizière hält eine Festrede zum Tag der deutschen Einheit 2006 in Rheinbach.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/10/2006-10-03-thomas-de-maiziere-zum-tag-der-deutschen-einheit,layoutVariant=Druckansicht.html
uns führt heute ein wichtiger Feiertag, der nationale Feiertag, zusammen: der Tag der Deutschen Einheit.
Ein Feiertag bietet eigentlich den richtigen Rahmen für eine schöne Sonntagsrede. Bezogen auf die deutsche Einheit hieße das, von den Vorzügen Usedoms, Rügens oder des Erzgebirges zu schwärmen, die Kerzen des Jahres 1989 "leuchten" zu lassen und im Übrigen die Fortschritte beim Aufbau Ost hervorzuheben.
Die öffentliche Diskussion der letzten Monate, Beschwerden von Oberbürgermeistern aus dem Westen über die scheinbare Bevorzugung des Ostens, die Diskussion über die Verwendung der Solidarpaktgelder und die Debatte über die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen gäbe dagegen eigentlich den richtigen Rahmen für eine Nicht-Sonntagsrede, für eine Dienstags-Rede. Nicht fehlen dürfte in dieser Rede der Verweis auf die massiven wirtschaftlichen Probleme im Osten, die gravierenden Folgen der Abwanderung aus den neuen Ländern und die abnehmende Solidarität des Westens.
Ich will weder eine Sonntags- noch eine Dienstags-Rede halten. Beides würde der Situation, die wir heute vorfinden, nicht gerecht. Mein Ziel ist es, Verständnis dafür zu wecken, dass die Lage nicht weiß oder schwarz, nicht nur gut oder nur schlecht ist. Ich möchte zeigen, dass sich die Situation in den ostdeutschen Ländern differenziert darstellt. Und ich möchte damit zum Ausdruck bringen, dass darin ein Stück deutscher Normalität liegt: Vielfalt ist vor unserer Geschichte, nach unserer Verfassung und als Ausfluss von Freiheit normal, mithin der Regelfall, Einheitlichkeit der Ausnahmefall.
I. 16 Jahre sind mittlerweile vergangen, seit am 1. Juli 1990 aus der Währungs- , Wirtschafts- und Sozialunion von Bundesrepublik und DDR am 3. Oktober 1990 Deutschland eins wurde. Vor fast 17 Jahren standen die mutigen Frauen und Männer in Leipzig und anderen großen Städten der damaligen DDR gegen die Diktatur der SED auf.
Für einen Historiker ist dieser Zeitraum kurz. Doch für den ganz normalen Bürger ist das Ereignis bereits Geschichte. Für Menschen, nicht nur in Westdeutschland, hat der Siegeszug des Mobiltelefons zumindest vordergründig mehr im Alltag verändert, als die wie nebenbei hingeworfenen Worte des Politbüromitglieds Günther Schabowski, der an jenem Abend des 9. November 1989 auf Nachfragen von einem Zettel ablesend, verkündete, dass die Grenzübergänge "ab sofort" offen seien.
Die Freude über die wiedergewonnene Freiheit der Menschen im Osten Deutschlands in dieser Nacht und während der folgenden Wochen wird wohl keiner vergessen. Aber es blieb insbesondere für viele Menschen in Westdeutschland zunächst ein Ereignis, das auf ihren Alltag keinen nachhaltigen Einfluss hatte. Später wurde für sie oberflächlich betrachtet nur die Postleitzahl verändert...
In Ostdeutschland wurde das Freudenfest abgelöst von einem Alltag, der tägliche Veränderungen mit sich brachte.
Die Mühen der Ebene verdrängten in West wie in Ost schnell, für meinen Geschmack zu schnell, die Freude an der Vereinigung und vor allem die Freude über die neugewonnene Freiheit.
Wer in Freiheit lebt, für den wird die Freiheit recht schnell zu einer Selbstverständlichkeit, manchmal zur Belastung wenn man nicht gewohnt war, damit umzugehen.
Jener 9. November 1989 war nicht nur eine wichtige Zäsur in der Geschichte Deutschlands. An jenem Tag wurde auch das Ende der über 40-jährigen kommunistischen Herrschaft in der ehemaligen DDR besiegelt. Dass die DDR am Ende war, konnte man bereits vorher an der stinkenden Luft riechen, an den absterbenden Bäumen und vergifteten Flüssen sehen und bei Fahrten über holprige Autobahnen spüren. So erklärt sich auch, dass die ersten und frühen Widerstandsbestrebungen aus der Umweltbewegung kamen, die meist bei der evangelischen Kirche Zuflucht suchte und Zuflucht fand.
Für die Klügeren unter den Spitzen der SED war der Zusammenbruch der DDR vorhersehbarer als für die Massen auf der Straße. In einer "Vorlage für das Politbüro des ZK der SED" diagnostizierten fünf hochrangige Wirtschaftsfunktionäre der DDR unter Führung des Vorsitzenden der staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, die Überschuldung der DDR.
Sie kamen zu dem Schluss, dass eine Rettung nicht mehr möglich sei. Im Auftrag des vorletzten DDR-Regierungschefs Egon Krenz stellten die fünf Herren im Oktober 1989 fest, dass die Zahlungsfähigkeit 1985 noch mit großen Anstrengungen hätte hergestellt werden können."Heute besteht diese Chance nicht mehr. Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 - 30 Prozenterfordern und die DDR unregierbar machen." Das Ende war damals bereits verdammt nahe.
Trotzdem kam die friedliche Revolution in der DDR und vor allem die schnelle Vereinigung mit der Bundesrepublik für alle Beteiligten überraschend. Ich lasse heute und hier mal alle außenpolitischen Dinge außer Acht. Da war innenpolitisch nichts geplant.
Es gab keine Konzepte für einen Vereinigungsprozess in den Schubladen der Ministerien. Um so großartiger war deshalb die Leistung der Ostdeutschen, die als Ingeneure, Ärzte, Handwerker, Physiker oder Pfarrer an den Runden Tisch kamen oder danach in der ersten und letzten frei gewählten Regierung der DDR plötzlich Staatssekretäre oder Minister wurden, um in dieser Funktion die Vereinigung zu verhandeln. Wichtiges geleistet haben aber auch die westdeutschen Politiker und die Ministerialbeamten, die von heute auf morgen Neuland betraten und den Anfang des neuen, größeren Deutschlands zu bauen hatten. Trotz mancher Fehler: Das war eine Sternstunde deutscher Politik und Verwaltung; man bedenke den Zeitraum vom Tag der Volkskammerwahl am 18. März bis zum 3. Oktober!
Doch die Probleme waren vielerorts größer, als es die Beteiligten erwartet hatten. Das ökonomische Desaster der DDR vor allem hätte umfassender öffentlich dargelegt werden müssen. Dann wären manche Enttäuschungen nicht so groß gewesen.
Es wäre natürlich schön gewesen, wenn die Treuhandanstalt ihre Privatisierungsauftrag mit einem kräftigen Plus abgeschlossen hätte. Im Einigungsvertrag war für diesen Fall nach langen Debatten geplant, den "Gewinn" an die Bürger der DDR auszukehren. Die Unternehmen im volkseigenen Besitz waren jedoch so marode, dass die Treuhandanstalt ihre Arbeit mit einem Minus von weit über 100 MilliardenEuro abgeschlossen hat. Nur langsam gelingt es, wieder tragfähige industrielle Strukturen in Ostdeutschland aufzubauen.
Und natürlich wäre es schön gewesen, wenn die Infrastruktur in deutlich kürzerem Zeitraum hätte erneuert und modernisiert werden können. Tatsächlich hatte die DDR aber so stark von der Substanz gelebt, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einem Gutachten für die Solidarpakt II-Verhandlungen noch 10 Jahre nach der Vereinigung einen Nachholbedarf bei Autobahnen, Schienenwege, Wasserstraßen von weit über 150 MilliardenEuro feststellte. Zu diesem Zeitpunkt war aber bereits ein dreistelliger Milliardenbetrag in die Wiederherstellung und den Neuaufbau der Infrastrukturen geflossen.
Gerade bei der Diskussion über die Ausgaben für Infrastruktur und die dafür noch notwendigen Finanzmittel wird geradezu spielerisch mit dreistelligen Milliardenbeträgen hantiert. Dies ist ein besonders empfindlicher Nerv in der Diskussion über den Aufbau Ost. Deswegen möchte ich im Folgenden darauf etwas genauer eingehen:
Manch einer von Ihnen wird sich daran erinnern, dass ein ehemaliger Bundesfinanzminister, der heute ich will fast sagen konsequenterweise für die PDS im Bundestag streitet, Oskar Lafontaine, Anfang 1999 verkündete, dass der Bund mittlerweile mehr als 1 Billion DM aus dem Bundeshaushalt in den Aufbau Ost er benutzte das Wort investiert habe.
Wie kommt es zu dieser enormen Summe? Kluge Rechner im Bundesfinanzministerium hatten sämtliche Haushaltstitel einfach regionalisiert, also den Ländern zugeordnet, in die das Geld nachweislich geflossen ist.
Dabei stellte aber niemand die Frage, ob die Ausgaben denn nun tatsächlich dem Aufbau Ost dienen oder nur Ergebnis der föderalen Aufgabenteilung und des schlichten Gesetzesvollzugs waren. So wurden Ausgaben für Erziehungsgeld, für Kindergeld, für Bafög oder für die Renovierung von Kasernen in Ostdeutschland dem Aufbau Ost zugerechnet.
Dabei waren sogar Positionen, die den ostdeutschen Ländern unterproportional zugute kamem. Pro Kopf der Bevölkerung floss beispielsweise in die geburtenschwachen ostdeutschen Länder viel weniger Erziehungsgeld als in die Länder Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Hamburg. Trotzdem sprach man hier von Mitteln für den Aufbau Ost.
Im Gegenzug kam aber niemand auf den Gedanken, auch die Ausgaben z. B. für die Beschaffung von Militärgütern durch die regionale Brille zu betrachten. Dabei wäre Erstaunliches zu Tage getreten: Pro Kopf der Bevölkerung floss über viele Jahre aus dem Beschaffungsetat des Verteidigungsministeriums doppelt so viel Geld nach Bremen wie das Land Brandenburg für die Investitionsförderung erhielt, um nur ein Beispiel zu nennen. Niemand käme auf die Idee, die Ausgaben in Bremen dem Aufbau der Stadt zuzurechnen.
Ein anderes Beispiel macht die Absurdität von manchen öffentlich skandalisierten Rechnungen deutlich: Die Hälfte der Mittel fließt in Sozialleistungen, die aufgrund bundesrechtlicher Ansprüche bestehen. Ein großer Teil davon geht in das Rentensystem. Ostdeutsche Rentner haben in das westdeutsche Rentensystem nicht eingezahlt. Sie werden aber so behandelt, als hätten sie es getan.
Dies kostet viel Geld. Erlaubt ist aber die Frage, ob die Auszahlung der Rente an einen Rentner in Chemnitz eine Transferzahlung für den Aufbau Ost ist? Wäre nämlich dieser Rentner letztes, vorletztes Jahr oder bereits vor der Wende 1987 oder 1988 nach München gezogen heute freilich unter anderen Bedingungen als damals, bekäme er dieselbe Rente. Auch er hat nicht eingezahlt. Diese Rente würde aber nicht den Transferzahlungen zugerechnet.
Die Fragwürdigkeit solcher Verrechnungen wird übrigens auch deutlich, wenn bilanziert würde, wie viel Rentenleistungen in Stuttgart mehr erarbeitet und wie viele in Leer im Emsland mehr ausbezahlt werden. Auch hier kommt es zum Transfer. Vor allem in den siebziger und in den achtziger Jahren sind viele junge Menschen aus Ostfriesland nach Schwaben gezogen, um beim Daimler zu arbeiten. Die Alten sind geblieben und bekommen die Rente, die von den Jungen in Baden-Württemberg erarbeitet wird. Von Transfer spricht hier niemand.
Wir sollten deshalb die Kirche im Dorf lassen. Richtig ist: die Folgen der deutschen Vereinigung lassen sich nicht aus der Portokasse bezahlen. Je nach Darstellungs- und Rechnungsweise liegt die Belastung des westdeutschen Bruttoinlandsproduktes bei rund 80 Milliarden Europro Jahr und damit bei rund 3, 5Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Mitgerechnet sind dabei sämtliche Ausgaben für Renten- , Krankenversicherungs- und Arbeitslosenversicherungstransfers in Höhe von rund 50 Milliarden Euro ( alle Zahlen 2003 ) .
Gegengerechnet sind Steuermehreinnahmen von rund 30 Milliarden Euro. Das ist viel und aller Ehren und Dankbarkeit wert, zwingt den Wirtschaftsstandort Deutschland aber nicht in die Knie. Schon 2 bis 3 Jahre nach 1990 entwickelten sich die Wachstumszahlen für Gesamtdeutschland wieder zufriedenstellend. Sie waren teilweise sogar höher als im Durchschnitt der Europäischen Union. Der Aufbau Ost war in den ersten Jahren auch ein Konjunkturprogramm West.
Die Deutsche Einheit ist teuer. Das ist wahr. Sie bleibt teuer. Das ist auch wahr. Aber sie hat Deutschland als Ganzes wirtschaftlich nicht zurückgeworfen.
Wichtig ist, dass die Gelder gut angelegt sind. Wenn Sie heute auf dem Weg zu Ihrem Urlaubsort an der Ostsee die Vorzüge der neuen A 20 genießen oder in Quedlinburg, Görlitz oder Eisenach sanierte Altstädte bewundern können, wenn Sie neue Werften in Wismar und Rostock und die neue Chipfabriken in Dresden sehen, dann zeigt sich, dass viel erreicht wurde. Die meisten sichtbaren Folgen von 40 Jahre sozialistischer Misswirtschaft sind beseitigt.
II. In einem zweiten Punkt meiner Rede möchte ich strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West beleuchten. Noch nicht bewältigt sind viele strukturelle Folgen, die ich zunächst benennen und dann näher beschreiben werde:
Die Regionalstruktur in der DDR entwickelte sich nicht nach marktwirtschaftlichen Vorgaben.
Staatlich gelenkt waren nicht nur der Ort, sondern auch die Art und Weise der wirtschaftlichen Produktion. In der DDR entstand eine Wirtschaftsstruktur, die bei frei tauschbarer Währung nicht wettbewerbsfähig war.
Tiefgreifende Folgen gibt es auch in der Bevölkerungsstruktur. Die Zahl der Geburten pro 100 Einwohner, die sog. Geburtenziffer, sank nach der Vereinigung rapide auf einen historisch niedrigen Wert.
Ein weiterer Bereich, der in seiner Bedeutung allzu oft unterschätzt wird, sind schließlich die Folgen der über 40-jährigen SED-Diktatur für die gesellschaftlichen Grundstrukturen. Gemeint sind hier soziale Schichten, Wertorientierungen und soziale Verhaltensmuster, die für das Grundverständnis der sozialen Marktwirtschaft wichtig sind.
Die Unterschiede, die sich entwickelt haben, sollte man nicht vorschnell vorverurteilen. Nicht alles, was sich in der DDR anders entwickelt hat als im Westen, ist deshalb schlecht, weil die DDR eine Diktatur war. Damit meine ich nicht den grünen Pfeil, der mittlerweile Ampeln hüben wie drüben ziert. Dazu zähle ich beispielsweise die Erkenntnis, dass gemeinschaftlich angebotene Gesundheitsdienstleistungen für alle Beteiligten Vorteile haben können. In der DDR hießen diese Gesundheits-Dienstleistungszentren Polikliniken.
Heute gilt diese Form des medizinischen Angebotes als vorbildlich, zukunftsgewandt und nennt sich vornehm integrierte Versorgung. Sie war flächendeckend in der DDR. Ein anderes Beispiel ist die Versorgung mit Kinderbetreuungsplätzen. Dies hatte in der DDR ökonomische Gründe und diente auch der Systemsicherung und sozialistischer staalicher Erziehung.
Aus schierer Not bauen mittlerweile aber manche großen Unternehmen Kindergärten für den Nachwuchs der Beschäftigten, um gut qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen zu halten. Ein gutes Kinderbetreuungsangebot ist mittlerweile ein wichtiger Standortfaktor, was nicht nur für die Unternehmen, sondern sicher auch für die Kommunen gilt.
Aber nun näher zu den strukturellen Ausprägungen nach über 40 Jahren DDR.
Die Regionalstruktur in der DDR war bis in die fünfziger Jahre sehr differenziert. Im Norden der Neuen Länder, in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg und in Teilen Sachsen-Anhalts, dominierte seit jeher die Landwirtschaft und die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte. Großflächige landwirtschaftliche Betriebe prägten die Landschaft wie die Wirtschaft. Unternehmertum gab es, abgesehen von einigen Handwerkern nicht mehr. Die meisten Menschen waren abhängig beschäftigt.
Der Süden der ostdeutschen Länder war einst das industrielle Zentrum Deutschlands. In Wolfen wurde der Farbfilm erfunden. Im Chemnitz steht die Wiege des deutschen Automobilbaus. Die Glasindustrie hatte ihr Zentrum in der Lausitz und die Bodenschätze des Erzgebirges, des Thüringer Waldes und des Harzes waren Finanzier und Motor der deutschen Industrialisierung. Neben großen Industrieunternehmen entwickelte sich über Jahrhunderte ein lebendiges Handwerk und ein starker gewerblicher Mittelstand.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung Deutschlands war plötzlich die alte deutschlandweite regionale Arbeitsteilung nicht mehr möglich. Im Osten gab es keinen Schiffbau, im Westen war die Chemieindustrie unterentwickelt. Dem Westen fehlte die Kornkammer, der Osten hatte keine Erdölverarbeitungskapazitäten.
Die DDR begann deshalb planwirtschaftlich die Industrie neu zu organisieren. Die neuen industriellen Standorte entstanden möglichst fern der sog. Zonengrenze und unter Missachtung bereits gewachsener Strukturen. So wurde Eisenhüttenstadt zur Stahlstadt, so bekam Schwedt an der Oder eine Raffinerie und so wurde Rostock zum zentralen Schiffbaustandort der Ostsee. Orte wie Hoyerswerda oder Johanngeorgenstadt vervierfachten in wenigen Jahren ihre Bevölkerung. Die DDR orientierte sich im Rahmen der Arbeitsteilung des RGW wirtschaftsgeographisch an der Sowjetunion und an Osteuropa.
Diese regionale Entwicklung in der DDR hat mit Blick auf heute zweierlei Folgen: Zum Einen entstanden Industrien in Regionen, die über Jahrhunderte eigentlich nur Landwirtschaft kannten. Zum Zweiten und das ist für die heutige Diskussion über Wanderungsbewegungen wichtig wurden mit hohen Gehältern und üppigen Sozialleistungen Menschen aus der ganzen DDR in neu geschaffenen Industriestandorte gelockt, die heute so keine Zukunft mehr haben. Diese Menschen hatten keine Generationen währende Verankerung in der Region.
In der DDR entwickelte sich auch eine andere Wirtschaftsstruktur als in marktwirtschaftlich organisierten Ländern Europas. Der Plan ersetzte im Inland den Markt und den Preis als wichtigstes Wettbewerbselement. Deshalb war es aus planwirtschaftlicher Sicht weniger problematisch, ob die Arbeit von 2 Melkern von 6 Melkern ausgeführt wurde und jeder Traktorist mindestens 1 Reservetraktoristen hatte. Ähnliches galt in der Industrie und im Öffentlichen Dienst.
Dazu kam, dass die DDR-Wirtschaft spätestens seit Mitte der siebziger Jahre auf Verschleiß lief. Die Investitionen in die Unternehmen lagen deutlich unter dem tatsächlichen Investitionsbedarf. Dass einzige, was es in größerer Zahl gab, war die Arbeitskraft. Beschäftigung wurde Arbeit genannt und so bezahlt. Und so entstand die Illusion der Vollbeschäftigung.
Wie weit sich die Wirtschaftsstruktur in der DDR von den marktwirtschaftlichen Bedingungen entfernt hatte, wurde blitzartig mit der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion deutlich. Damit wurde der Preis zum Maßstab für Wettbewerbsfähigkeit. Die Währung wurde von einem auf den anderen Tag um 400Prozent aufgewertet. Hier konnte die DDR-Wirtschaft nicht mithalten.
Der neue marktwirtschaftliche Wind erfasste nicht alle Sektoren gleichermaßen. Am Schlimmsten traf es die Industrie der DDR. Autos, Werkzeugmaschinen, chemische Produkte oder Mikroelektronikprodukte lassen sich überall auf der Welt herstellen, es gab keine Standortbindung. Außerdem hatten etliche westdeutsche und ausländische Hersteller Überkapazitäten.
Sie wollten und mussten nicht die maroden DDR-Fabriken übernehmen, um den ostdeutschen und den von dort belieferten osteuropäischen Markt zu bedienen, zumal in der ersten Euphorie für die ostdeutschen Konsumenten ohnehin nur gut war, was aus dem Westen kam. Viele Unternehmen mussten dicht machen. Und westdeutsche Gauner gab es auch genug, die Verwertbares von DDR-Unternehmen ausgeplündert und den Rest einschließlich der Menschen dem Steuerzahler und der Bundesanstalt für Arbeit vor die Tür stellten. Viele Tausende wurden arbeitslos.
Anders verlief der Strukturwandel dagegen im Bereich der Dienstleistungen und hier vor allem im Öffentlichen Dienst. Die Menschen wechselten zum Teil rechtlich und tatsächlich aus dem Öffentlichen Dienst der DDR in den Öffentlichen Dienst Deutschlands und genossen damit dieselben arbeitsrechtlichen Bedingungen wie die westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Kündigungen waren sehr erschwert. Bis heute wirkt sich das insoweit aus, als noch immer Jahr für Jahr Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst abgebaut werden müssen, da die Zahl der die Zahl der benötigten Mitarbeiter im Vergleich zu den Westländern noch immer weit übersteigt.
Auf die wirtschaftliche Entwicklung seit 1990 hat das deutliche Auswirkungen. Nach dem radikalen Um- und Abbau entwickelt sich die Industrie in den neuen
Bundesländern seit mehr als 10 Jahren erfreulich gut.
Aber von Null wächst es sich eben schneller.
Und neue Maschinen sind produktiver als ältere. Seit Mitte der 90er Jahre ist das verarbeitende Gewerbe deshalb eindeutig der Wachstumsmotor der Neuen Länder. Seit 1995 hat sich die Produktion im Fahrzeugbau fast verdoppelt, die Chemieindustrie wuchs um das 2, 5-fache und der Bereich der Mikroelektronik konnte die Produktion in den vergangenen zehn Jahren verdreifachen.
Damit hat sich seit Mitte der 90er Jahre der Anteil der Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe an der Bruttowertschöpfung der Neuen Länder insgesamt fast verdoppelt. Dennoch liegt der Anteil mit 18, 3Prozent in 2005 noch immer um ein Fünftel unter dem vergleichbaren Westwert.
In den Neuen Ländern liegt dafür der Anteil des öffentlichen und privaten Dienstleistungssektors und der Anteil des Baugewerbes deutlich höher als im Westen. Während der hohe Anteil des Dienstleistungsbereiches eine strukturelle Folge von über vierzig Jahren Planwirtschaft ist, ist das überdimensionierte Baugewerbe Folge des Aufbaus der Infrastruktur nach der Beseitigung der Wohnungsnot in 10 Jahren.
Rückblickend war da manches zuviel des Guten. Vielen von Ihnen dürfte der Begriff Sonder-AfA geläufig sein. Beide Wirtschaftsbereiche schrumpfen. Das Baugewerbe ist 2005 um fast 10Prozent geschrumpft. Die durchaus positiven Entwicklungen im verarbeitenden Gewerbe 2004: plus 9, 2Prozent und 2005: plus 6Prozent werden damit leider noch überlagert.
Aufgrund dieser Entwicklungen sind die realen Wachstumsraten in den neuen Ländern seit Mitte der 90er Jahre mit wenigen Ausnahmen niedriger als die vergleichbaren Westwerte. Die Wirtschaft in Ostdeutschland geht sogar insgesamt weiter zurück. Der Abstand zum Westen vergrößert sich über alles gesehen. Eigentlich müsste es umgekehrt sein.
Diese Entwicklung schlägt sich auch am ostdeutschen Arbeitsmarkt nieder. Seit bald zehn Jahren liegt die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern nur knapp unter 20 Prozent. Gesunken ist in dieser Zeit allein die Zahl der Fördermaßnahmen, also der Beschäftigungs-Schleifen, die für manchen zur Endlosschleife wurde.
Dass Wachstum alleine noch kein Garant für mehr Arbeitsplätze ist, zeigt sich bei der Entwicklung der Industrie-Arbeitsplätze. Hier kam es trotz teils zweistelliger Wachstumsraten zu keinem Arbeitsplatz-Zuwachs. Modernste Unternehmen entstehen mit außerordentlich hohem Kapitaleinsatz und geringer Beschäftigungsintensität. Unter dem Strich kam es in den vergangenen fünf Jahren deshalb sogar zum leichten Beschäftigungsabbau in der Industrie.
Dass das Wachstum in der ostdeutschen Industrie größtenteils ein Wachstum ohne zusätzliche Arbeitsplätze ist, hat massive Auswirkungen auf den dritten Bereich, auf die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur. In der ostdeutschen Industrie werden wenig zusätzlichen Arbeitskräfte gebraucht. Allerdings steigen mit dem Strukturwandel die Anforderungen.
Es werden immer mehr Menschen mit hoher Qualifikation gebraucht. Und davon gibt es bereits heute zu wenig, nicht nur in den ostdeutschen Ländern. Nicht zuletzt aufgrund der gesamtwirtschaftlichen Lage und aufgrund der Erfahrungen von Eltern, Nachbarn oder Freunden zieht es insbesondere gut ausgebildete junge Menschen in die alten Länder und ins Ausland.
Diese Generation, die die DDR allenfalls in der Grundschule erlebte, bringt aber Hoffnungsträger hervor, denn es sind gerade die jungen Ostdeutschen, die ganz selbstverständlich bereits während der Schulzeit im Ausland Sprachen lernen, ihr Studium ganz oder teilweise in den USA, in Großbritannien oder beispielsweise in einem der skandinavischen Länder absolvieren. Diese jungen Menschen sind nicht nur in Ostdeutschland, sondern in ganz Deutschland die Elite von morgen. Wenn sie gehen, fehlen sie beim Aufbau in den Neuen Ländern.
Verschärfend wirkt der starke Geburtenrückgang seit 1990. Die Zahl der Geburten ging innerhalb von ein, zwei Jahren zunächst auf 40 Prozent, nach leichter Steigerung jetzt auf die Hälfte der Vorwendezahlen zurück. Familien werden seit der Vereinigung später, seltener und mit weniger Kindern gegründet.
Die direkte Folge ist, dass die Bevölkerung durchschnittlich älter wird. 1990 war Mecklenburg-Vorpommern das Land mit der jüngsten Bevölkerung. Fünfzehn Jahre später war das Land nicht mehr an erster, sondern an elfter Position. In absehbarer Zeit wird es eines der Länder mit der ältesten Bevölkerung sein. Die Gesellschaft altert. Unternehmen fehlen junge Nachwuchskräfte. Wo die gut gebildeten jungen Menschen fehlen, fehlt oft auch der positive Blick in die Zukunft.
Ein Trugschluss ist es, zu glauben, dass Infrastruktur und die öffentlichen Leistungen automatisch eher günstiger werden, wenn die Menschen gehen. Pro Einwohner steigen sogar einige der "öffentlichen" Kosten bei sinkender Bevölkerungszahl. Eine Wasserleitung wird nicht billiger, wenn nicht mehr 150, sondern nur noch 100 Einwohner davon profitieren.
Sie wird sogar teurer, wenn diese 100 Einwohner älter und damit sparsamer werden und die Wasserleitung deshalb öfter mit viel Aufwand gespült werden muss, damit sich keine gesundheitsgefährdenden Kulturen bilden. Und sie wird unbezahlbar, wenn nur noch wenige angeschlossene Renten für notwendige Ersatzinvestitionen aufkommen müssen.
Ein anderes Beispiel sind die Schulen. Auch hier sinken die staatlichen Kosten nicht linear mit der Nachfrage. Der Lehrer ist noch Beamter oder Angestellter des Bundeslandes, auch wenn die Schüler ausbleiben. In Sachsen haben wir in Erwartung der zu erwartenden Halbierung der Schülerzahlen die Formel 50:70 gebildet: so sollen sich 70 Prozentder heute beschäftigten Lehrer um diese halb so zahlreichen Kinder kümmern. Das ist eine Verbesserung der Schüler-Lehrer-Relation um 40 Prozent, zwingt aber Sachsen dennoch zum Abbau von 30 Prozentseiner derzeitigen Lehrer.
Wichtig ist es, darüber hinaus aber auch die besonderen gesellschaftlichen Verhältnisse in den Neuen Ländern zu beleuchten. Damit kommen wir zu dem dritten Bereich, den gesellschaftsstrukturellen Folgen von über 40 Jahren DDR.
Dass es erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West bei gesellschaftlichen Werten gibt, offenbart die jüngste Umfrage zum Demokratieverständnis. Nur knapp Zweidrittel der Ostdeutschen schätzen die Demokratie als die beste Staatsform ein. In Westdeutschland sind es 95 Prozent. Dabei gibt es keinen gravierenden Unterschiede zwischen alten und jungen, gebildeten und weniger gebildeten, Männern und Frauen in Ostdeutschland.
Während die Menschen in Westdeutschland seit rund 60 Jahren in einem demokratischen Rechtsstaat leben, sind es in Ostdeutschland gerade 16 Jahre. Auch in Westdeutschland dauerte es lange, bis eine feste und tiefe Bindung an den demokratischen Rechtsstaat aufgebaut war. In den späten 60er und frühen 70er Jahren war die NPD in bis zu sieben westdeutschen Länderparlamenten vertreten. Bei den zwei baden-württembergischen Landtagswahlen im letzten Jahrzehnt gelang es der REP sogar, mit jeweils zwischen 9 und 10Prozent zweimal hintereinander ( 1992 und 1996 ) in den Landtag einzuziehen. Das möchte ich in Erinnerung rufen, bevor vorschnell das Einziehen rechtsradikaler extremistischer Gruppierungen in zwei Ostdeutsche Landtage als typisch ost verurteilt wird.
Ein Unterschied ist aber wichtig. Die Stützen der NPD in der frühen Bundesrepublik waren eher die Altvorderen der Nazis. In Ostdeutschland sind männliche Erstwähler und enttäuschte Männer zwischen 50 und 65 das Reservoir der NPD. Nicht aus alter Verbundenheit, sondern aus Protest wählen die Menschen diese Partei und die Gefahr besteht immer, dass aus Protestwählern Stammwähler werden.
Der Protest der Wählerinnen und Wähler richtet sich zu allererst gegen "den Staat" und "die da oben"."Der Staat" hat in den vergangen 16 Jahren Erwartungen mancher Menschen in Ostdeutschland enttäuscht. Über 40 Jahre konnten die Menschen der DDR vom Staat Arbeit, Einkommen, Wohnung und Sicherheit erwarten. Der Preis dafür waren Unfreiheit, Wohlverhalten und geringste Einkommen bei wenig Möglichkeiten des Einkaufs. Manche der Menschen, die sich eher zu den Verlierern der Einheit zählen, würden vielleicht sogar die gewonnene Freiheit eher eintauschen gegen eine staatliche ge- oder besser verordnete Sicherheit.
Wichtig ist es aber, hier zwischen den Generationen zu unterscheiden. Da sind zunächst die Menschen, die heute Rentner sind. Die meisten haben hier ein gutes Auskommen. Dank großzügiger Rentenüberleitung und vor allem Dank geschlossener Erwerbsbiographien beziehen vor allem ostdeutsche Rentnerinnen teilweise etwas höhere Renten als westdeutsche Rentner. Verschwiegen wird bei diesem Vergleich allerdings meist, dass westdeutsche Ruheständler häufig über zusätzliche Einkommen verfügen.
Vor allem Großunternehmen bezahlen teils üppige Zusatzrenten, viele Menschen konnten sich außerdem in all den Jahren etwas zurücklegen oder profitieren heute von Lebensversicherungen. Schließlich wohnen nicht wenige in den eigenen vier Wänden und die ersparte Miete erhöht auch das verfügbare Einkommen. Dennoch gilt: Die jetzigen ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner gehören zu den dankbaren Gewinnern der Einheit.
Zu den Gewinnern zählen meist auch die Jüngeren in den ostdeutschen Ländern. Wer die DDR allenfalls noch als Grundschüler erlebt hat, ist in der Regel im westlichen System "angekommen" und oft besser ausgebildet, höher motiviert und mobiler als manch westdeutscher Jugendlicher.
Zu Verlierern der Vereinigung gehören Teile der Altersgruppe dazwischen.
Wenn Sie in den bayerischen Alpen Urlaub machen, treffen sie oft ältere Ostdeutsche, die mit ihren Enkeln Urlaub machen. Die Eltern können sich selbst keinen Urlaub leisten. Die durchschnittlichen Einkommen in Ostdeutschland liegen in vielen Bereichen weit unter dem in Westdeutschland üblichen. Der Tariflohn für Friseurinnen liegt in Sachsen bei 3,06 € in der Stunde. Auch wenn sie 200 Stunden im Monat arbeiten, reicht dieses Einkommen nicht für große Sprünge.
Am Schwierigsten ist die Lage für die Menschen, die heute zwischen 45 und 60 Jahren sind. Insbesondere diese Altersgruppe ist von der Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Für die meisten besteht wenig Aussicht, je wieder am ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Auch diese Gruppe ist für extreme Parolen anfällig.
Ein weiterer Punkt macht die Menschen heute anfälliger: Nach wie vor gibt es nämlich unterschiedliche Wertevorstellungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben. So spielte beispielsweise Religion in der DDR eine zunehmend nachgeordnete Rolle. Höchstens 20 Prozentder Bevölkerung sind Kirchenmitglieder.
Im Schulalltag fand Kirche nicht statt. Die Kirchen litten ganz besonders darunter, dass die DDR gezielt versuchte, das klassische Bürgertum zu zerschlagen. Und schließlich wurden die christlichen Kirchen durch die Säkularisierung christlicher Feste wie der Konfirmation, der Hochzeit oder des Weihnachtsfestes wichtiger verbindender Symbole beraubt. Bis heute spielt die Jugendweihe eine große Rolle.
Die damit verbundene Erschütterung christlicher Kategorien führte dazu, dass beispielsweise die Ehe in der DDR eine ganz andere Rolle spielte. Es gab kaum die klassische Einverdiener-Ehe, damit entfiel die ökonomische Dimension mancher ehelicher Verpflichtungen. Ehen waren kaum religiös begründet. Ehen werden noch heute in Ostdeutschland durchschnittlich deutlich früher geschieden werden als im Westen. Heute leben in Ostdeutschland in jeder zweiten unverheirateten Gemeinschaft Kinder. In den alten Länder ist dies nur in jeder vierten unehelichen Lebensgemeinschaft der Fall.
Wichtig für die unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen und Wahrnehmungen in Ost und West ist schließlich der Anteil ausländischer Mitbürger. Während in den alten Länder schon jeder zehnte Bürger ausländischer Herkunft ist, sind es in den neuen Ländern gerade mal 2, 4Prozent. Manchmal wird man den Eindruck nicht los, dass mit abnehmendem Ausländeranteil die Fremdenfeindlichkeit sogar steigt. Der Berliner Bischof Wolfgang Huber hat in einem Interview im Sommer festgestellt: "In den neuen Bundesländern gibt es ein Phänomen der Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde."
Anrede,
mir lag daran, mit dieser ausschnittartigen Beleuchtung der strukturellen Unterschiede zwischen Ost und West die Vielfalt in unserem Land zu beschreiben. Ich habe nicht gesprochen über die höheren staatlichen Kulturausgaben pro Kopf, darüber, dass Sekundärtugenden im Osten selbstverständlich akzeptiert werden.
Über das immer noch stärkere Gemeinschaftsgefühl, nicht über das Kopfschütteln gegenüber westdeutschem Schicki-Micki-Gehabe. Ich kann nicht erzählen, dass ostdeutsche Biographien meist interessanter sind als westdeutsche und vieles andere mehr. Zu allem fehlt die Zeit.
Wir sollten uns nur hüten, nun mit dem Stempel "typisch Ost" oder dem Stempel "typisch West" den Anderen zu etikettieren. Die meisten gesellschaftsstrukturellen Unterschiede werden in den kommenden Jahren an Bedeutung verlieren, da die jungen Menschen in Ostdeutschland heute ganz anders aufwachsen. Andere strukturelle Unterschiede werden uns erhalten bleiben und unsere Gesellschaft bereichern.
Zusammenfassend können wir stolz sagen: seit 1990 ist Deutschland nicht nur vereint, versöhnt mit allen Nachbarn, frei und demokratisch, sondern auch bunter. Wir sollten dies als Chance begreifen, sollten dann aber auch unser Bild von regionaler Entwicklung überprüfen. Einst war die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse grundgesetzliches Ziel.
Bereits im alten Westdeutschland hat sich gezeigt, dass dieses Ziel weder erreichbar noch wünschenswert war. Bei der Verfassungsreform 1994 wurde aus dem Staatsziel der "Einheitlichkeit" das der "Gleichwertigkeit". Gleichwertige Lebensverhältnisse sind nun als Ziel festgeschrieben.
Wir sollten uns nicht scheuen, diese grundgesetzliche Festlegung ernst zu nehmen. In Teilen Mecklenburg-Vorpommerns ist die Bevölkerungsdichte fast auf finnischem Niveau. Und in der Lausitz leben noch immer mehr Erwerbswillige, als je Arbeitsplätze entstehen werden. Gleichwertigkeit heißt nicht gleiches Gehalt, gleicher Arbeitsplatz, gleicher Wohlstand, aber unterschiedlich gleicher Wert der Lebensverhältnisse.
Die Lebensverhältnisse im bayerischen Voralpenland waren immer anders, als die im bayerischen Wald oder in Münden und in Bottrop und Gelsenkirchen anders als im Sauerland. Ich finde das normal und sehe darin keinen Grund zur Klage.
Die Entwicklung in den neuen Ländern und die genannten strukturellen Besonderheiten zwingen uns, über neue Lösungen nachzudenken: Bisher war es das Ziel, die Bürger zur Verwaltung zu bringen. Bietet nicht die neue Bevölkerungsstruktur die Chance, dass die Verwaltung zum Bürger kommt ( "rollendes Rathaus" ) ?
Ist es besser, mit ernormen Aufwand und kaum erkennbarem Erfolg Unternehmen in entlegene Winkel zu lotsen oder ist es nicht besser, die Menschen dabei zu unterstützen damit Sie an die Standorte pendeln können, wo es sich für Unternehmen lohnt?
Statt einen Kindergarten mangels Kindern abzureißen und anderswo ein Altenheim neu zu bauen, sollte man eher überlegen, an diesen ein Altenheim anzubauen. Statt dass die Oma einsam ist und das Kind allein vor dem Fernseher sitzt, könnten beide zusammen lesen und spielen.
In einer Umfrage von dieser Woche im Stern ist der 3. Oktober für nur 31Prozent der Deutschen ein Anlass zum Feiern. Doch 80Prozentwollen ungern auf den freien Tag verzichten. Ich möchte Sie auffordern, auch zu feiern und zu bedenken:
Wir sollten den Tag der deutschen Einheit zum Anlass nehmen, die Dankbarkeit nicht zu verlieren, stolz auf unser Land zu sein und über neue Aufgaben nachzudenken, die uns neue, buntere, vielfältigere, unterschiedliche Lebensverhältnisse stellen. Die Kerzen des Herbstes 1989, die Feuerwerke des 3. Oktober bleiben in unseren Herzen: Jetzt brauchen wir Kerzen der Zuversicht gegen Pessimismus und ein Feuerwerk der Ideen.
Die Beispiele zeigen, dass es sinnvoll sein kann, an die Stelle der vergeblichen Suche nach gleichen Lebensverhältnissen auf vergleichbare Chancen zu setzen.
Ich möchte Sie in Umwandlung des bekannten Sprichwortes auffordern, dass was uns so teuer wie die Deutsche Einheit ist, auch ebenso lieb zu haben. Beide Teile Deutschlands waren und sind eine untrennbare Einheit. Bald gibt es nicht mehr zwei Teile Deutschlands, sondern viele Teile, die sich zu einem Ganzen zusammenfügen. Freuen wir uns, dass unsere Generation daran mitwirken darf: dankbar und stolz, Deutsche zu sein.