Redner(in): Angela Merkel
Datum: 11.12.2006

Untertitel: am 11. Dezember 2006 in Berlin
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/12/2006-12-11-bkin-merkel-super-azubis,layoutVariant=Druckansicht.html


Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Braun,

sehr geehrte Präsidenten der Industrie- und Handelskammern,

aber vor allen Dingen Sie, liebe Auszubildende und Preisträger samt Ihren Eltern, Ausbildern und einigen Vertretern der Ausbildungsbetriebe,

ich bin der Einladung, hierher zu kommen, um bei dieser ersten Siegerehrung dabei zu sein, sehr gern gefolgt, und das aus verschiedenen Gründen. Erstens habe ich schon bei der Vorstellung von 20 der über 200 Preisträger gemerkt, dass die Vielzahl der Berufe viel größer ist, als es gemeinhin bekannt ist. Ich frage mich, ob an den Schulen in Deutschland überhaupt ausreichend darüber informiert wird, was man alles lernen kann. Wenn man sich überlegt, allein wie viele Zerspaner es gibt, dann ist man doch beeindruckt. Mich hat vor allen Dingen der Drahtzieher interessiert. Dieser Begriff hat ja eine Analogie zum Strippenzieher, den es in der Politik von Zeit zu Zeit geben soll. Dann habe ich noch gelernt, dass man bei Aldi Verkaufsgespräche führen kann. Wenn ich im Supermarkt bin, dann renne ich meistens herum und finde niemanden, der mir etwas sagt. Aber das sei einmal dahingestellt. Vielleicht muss ich öfters zu Aldi gehen.

Meine Damen und Herren, das, was hinter dieser Ehrung steht, ist deshalb eine so gute Idee, weil damit zum einen die Motivation derer gestärkt wird, die mit einer "Eins" abgeschlossen haben, die - wie das Herr Braun gesagt hat - sich bemüht haben, zu den Jahrgangsbesten zu gehören. Das wird sich mit Sicherheit auch unter den Auszubildenden herumsprechen und es wird einen Wettbewerb zwischen den verschiedenen Kammern geben: Wer ist wie oft dabei? Wer kann etwas ändern? Vielleicht kommt auch ein Diskurs darüber in Gang: Was können wir verbessern? Wo müssen wir noch zulegen?

Ich bin zum Zweiten sehr gern hierher gekommen, weil ich glaube, dass das Thema "duale Ausbildung" zu den Markenzeichen der Bundesrepublik Deutschland gehört. Wir wissen, dass hier sowohl beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag als auch bei den Handwerksverbänden enorme Arbeit geleistet wird - von denen, die die Ausbildung durchführen, von denen, die immer wieder an die Zukunft denken und Auszubildenden eine Chance geben. Deshalb soll meine Anwesenheit auch ein herzliches Dankeschön an all diejenigen sein, die sich für die duale Berufsausbildung in Deutschland einsetzen.

Ich möchte Ihnen für die ganze Bundesregierung - denn am Thema Ausbildung sind viele beteiligt; auch was die Zuständigkeit anbelangt: der Wirtschaftsminister, die Bildungsministerin, der Arbeitsminister - sagen: Wir verfolgen das Thema mit allergrößter Aufmerksamkeit. Wir haben immer darauf gesetzt, dass wir Freiwilligkeit brauchen, dass wir den Ausbildungspakt haben und dieser die Möglichkeit bietet, möglichst vielen jungen Leuten eine Chance zu geben.

Natürlich stellt sich die Frage - es wäre interessant, auch das einmal in einem kleineren Kreis zu besprechen: Sind diejenigen, die von der Schule kommen, eigentlich fit für das, was die zum Teil hoch komplizierten Berufsbilder von den Schülerinnen und Schülern, von den Absolventen der Schulen, verlangen?

Wir haben in Deutschland eine Schnittstelle, die uns nicht zufrieden stellen kann. Denn auf der einen Seite gehen die jungen Leute lange in die Schule und lernen vieles. Manches wird auch schnell wieder vergessen. Vielleicht eignen sie sich manchmal auch zu viel Detailwissen an und haben nachher zu wenig an grundlegenden Fähigkeiten verfügbar. Auf der anderen Seite haben wir eine Welt, in der die Technologie immer weiter fortschreitet, in der die Verfahrensgänge immer komplizierter und die Maschinen immer teurer werden. Die vielen Spezialdisziplinen, in denen hier die Ausbildungsberufe vorgestellt wurden, zeigen ja schon, welches Fachwissen heute erworben werden muss, um dann einen Berufsabschluss zu haben, der einen befähigt, in einem hochspezialisierten Bereich Spitzenleistungen zu vollbringen.

Meine Damen und Herren und liebe Auszubildende oder Absolventinnen und Absolventen, es ist ja so: Das, was Sie nach Ihrer Lehrzeit können, das befähigt Sie dazu, Produkte herzustellen, mit denen wir, die Bundesrepublik Deutschland, auf den Weltmärkten z. B. Exportweltmeister sind. Das heißt, das gesamte Können oder ein großer Teil des Könnens liegt in der Fähigkeit unserer Berufsausgebildeten und der Absolventen der dualen Berufsausbildung. Deshalb werde ich auch in dem Maße, wie mir das möglich ist, während unserer EU-Ratspräsidentschaft dafür eintreten, die Vorzüge des deutschen dualen Ausbildungssystems in Europa noch stärker miteinander zu diskutieren.

Denn ich glaube, wenn Europa das Ziel des Lissabon-Prozesses erreichen will - die meisten von Ihnen werden davon vielleicht noch nicht so viel gehört haben; Lissabon-Prozess heißt nichts weiter, als dass sich Europa vorgenommen hat, Anschluss an die dynamischsten Wachstumsregionen der Welt zu finden - , dann liegen die Fähigkeit und die Möglichkeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Sicherheit nicht darin, dass wir bei den allereinfachsten Tätigkeiten die billigsten sind, sondern dass wir mit unseren Ideen und unseren Produkten, mit dem, was wir können, immer wieder Weltspitze sind und damit auch ein Stück teurer sein dürfen - aber nur deshalb, weil wir besser sind.

Dafür braucht man sicherlich Wissenschaftler, dafür braucht man Ingenieure. Aber zu oft ist Deutschland dort stecken geblieben, wo die Idee entstanden ist. Vielleicht wurde noch ein Patent angemeldet. Aber wenn es in die praktische Umsetzung ging, haben andere das Rennen gemacht. Ich finde, wir müssen für uns - das können wir auch auf die europäischen Mitgliedstaaten ausweiten - ganz klar sagen: Wir wollen von der Idee über die Verwirklichung der Idee hin zu einem Produkt kommen, das man dann auf dem Weltmarkt auch verkaufen kann. Das ist ohne die Menschen, die eine Berufsausbildung haben, nicht möglich. Dafür brauchen wir jene, die aus der Idee das Produkt dann auch wirklich in Serie fertigen und damit Märkte bedienen.

Es ist wichtig, dass diese Kette funktioniert, und deshalb ist es so wichtig, dass möglichst viele junge Leute die Chance bekommen, einen Ausbildungsplatz, wie Sie ihn bekommen haben, zu erhalten. Ich möchte dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag dafür danken, dass er immer wieder nach Möglichkeiten und Wegen sucht, möglichst vielen jungen Leuten diese Chance zu geben.

Ich habe über die Schnittstelle Schule / Berufsausbildung gesprochen. Wir sind auch über die Frage im Gespräch, welche Spezialisierungen man anbieten muss. Das gilt einmal für jene mit einer hoch qualifizierten Ausbildung. Aber auch jenen, die einfachere Tätigkeiten besser ausführen können, müssen wir diese Möglichkeit eröffnen, und wir müssen - das wird Sie als jüngere Generation, die Sie denken, dass Sie jetzt erst einmal fertig mit der Ausbildung sind, ganz besonders betreffen - darüber reden und uns darauf einstellen, dass das Lernen mit der Prüfung bei der IHK nicht zu Ende ist. Für Ihre Generation heißt es vielmehr, lebenslang zu lernen und offen zu bleiben für neue technologische Entwicklungen.

Der Zustand, den wir heute haben, dass viele, die über 50 oder 55 Jahre alt sind, keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt haben, ist auf Dauer nicht haltbar. Er ist weder menschlich noch trägt er den Fähigkeiten unserer Gesellschaft wirklich Rechnung. Die Voraussetzung dafür, dass in einer sich rasant entwickelnden Welt die Lebensarbeitszeit länger wahrgenommen werden kann, sind auf der einen Seite Arbeitsplätze, aber es ist auf der anderen Seite auch die Bereitschaft, sich immer wieder neu zu bilden.

Ich denke, Weiterbildung ist auch die Sache eines jeden Arbeitgebers. Das ist keine Frage. Denn er hat ja ein Interesse daran, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit einer langen Bindung an das Unternehmen eine Zukunft haben. Aber in Zukunft wird Weiterbildung auch immer wieder im Eigeninteresse liegen. Deshalb meine Bitte: Ruhen Sie sich nicht einfach auf Ihren guten Abschlüssen aus, sondern machen Sie weiter. Bleiben Sie neugierig und versuchen Sie, eine möglichst breite Ausbildung zu bekommen.

Mir liegt ein Weiteres am Herzen. Zum einen müssen wir bei der Europäischen Union in Brüssel mehr für unser duales Ausbildungssystem werben. Aber wir müssen auch, so glaube ich, im Zweifelsfalle noch mehr tun, damit der Austausch zwischen verschiedenen Ländern und den Auszubildenden enger wird. In der Europäischen Union gibt es sehr viele Austauschprogramme für Studenten. Aber ich halte es gerade auch für jene, die die duale Berufsausbildung absolvieren, für ganz wichtig, dass sie durch Betriebspraktika, durch Austausch, durch das Lernen von Fremdsprachen mehr in die Entwicklung des Zusammenwachsens Europas einbezogen werden. Wenn man sich überlegt, welch hohen technischen Standard heutzutage die einzelnen Berufe verlangen, so ist es wichtig, dass wir auch im Bereich der sprachlichen Qualifikation mehr tun und dass wir es ermöglichen, auch in anderen Mitgliedstaaten Erfahrungen zu sammeln.

Meine Damen und Herren, nicht zufrieden stellen kann uns, dass es neben jenen, die mit Bravour ihre Abschlüsse machen, noch viel zu viele junge Menschen gibt, die die Abschlüsse nicht schaffen. Hierfür gibt es eine Vielzahl von Gründen. Einer der Gründe liegt darin, dass gerade junge Menschen mit Migrationshintergrund, die also aus Familien kommen, die nicht deutscher Herkunft sind, häufig ihre Fähigkeiten nicht ausreichend entwickeln können, weil sie in der Ausübung der deutschen Sprache extreme Schwierigkeiten haben. Deshalb haben wir, die Bundesregierung und die Länder, uns fest vorgenommen, dass im Grunde niemand mehr in Deutschland in die Schule kommen darf, der sich in der deutschen Sprache nicht so ausdrücken kann und der die deutsche Sprache nicht so versteht, dass er mit dem Lehrer vernünftig kommunizieren und damit an der Bildung überhaupt teilnehmen kann. In der Nähe von Tempelhof haben zum Teil 40 % der Mädchen keinen Berufsabschluss. Bei den Jungen ist die Zahl auch viel zu hoch. Sie haben eine Lebensperspektive mit einem weit überdurchschnittlich hohen Risiko, arbeitslos zu werden. Das kann und darf sich unsere Gesellschaft nicht leisten.

Sie sind junge Menschen aus den Jahrgängen, in denen man noch hart um einen Ausbildungsplatz kämpfen muss. In wenigen Jahren - das können wir schon voraussehen - , werden wir die Situation haben, dass Auszubildende Mangelware oder Mangelpersonen sein werden. Das heißt, man wird nach Ihnen suchen. Deshalb lautet meine Bitte zum Abschluss meiner Worte hier, dass wir miteinander in ein Gespräch darüber kommen, wie wir verhindern können, dass, wie es heute der Fall ist, so viele junge Menschen in einer Schleife von immer neuen Weiterbildungskursen stecken, von denen wir nicht wissen, ob sie wirklich den notwendigen Bildungsfortschritt bringen, und dass wir morgen junge Leute suchen, die einen Ausbildungsplatz brauchen.

Mir ist klar, dass gerade die kleineren und mittelständischen Betriebe dies nämlich auch einmal über dein eigenen Bedarf ausbilden, auch einmal ein Risiko bezüglich eines Auszubildenden eingehen, was die Frage anbelangt, ob er später eine Beschäftigung im eigenen Betrieb bekommen kann oder nicht - nur dann machen können, wenn der Mittelstand in Deutschland auch Rahmenbedingungen hat, bei denen man wagen kann, eine positive Zukunftsperspektive zu bieten. Wir haben versucht, hierfür durch Maßnahmen im steuerlichen Bereich und beim Abbau von Bürokratie Zeichen zu setzen. Vieles muss noch in abgeschlossene Gesetze gegossen werden. Wir wissen um die Verantwortung beim Setzen politischer Rahmenbedingungen. Aber ich bitte auch Sie, die Sie hier als Ausbilder und als Eigentümer von Firmen dabei sind: Haben Sie ein weites Herz für die Belange der jungen Menschen. Sie sind unsere Zukunft, und der heutige Tag zeigt, wie motiviert sie sind, wie sie sich den Dingen stellen und wie sie, wie ich finde, mit Recht auch ein Stück weit stolz auf das sein können, was sie erreicht haben.

Ich danke dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag dafür, dass er diese Initiative ergriffen hat. Ich wünsche Ihnen allen viel Erfolg in der Arbeit und bei dem, was vor Ihnen liegt. Gehen Sie Ihren Weg. Wir wollen, dass Sie einen guten Weg haben. Dankeschön für Ihr Engagement, Ihre Fröhlichkeit und Ihre Lust, an den Entwicklungen teilzunehmen. Und noch einmal herzlichen Glückwunsch an alle, die heute gewonnen haben!