Redner(in): Thomas de Maizière
Datum: 08.12.2006

Untertitel: Ansprache des Chef des Bundeskanzleramtes,Bundesminister Thomas de Maizière, anlässlich der Festwoche zur Wiedereinweihung und 750 Jahrfeier der Stadtkirche St. Georgen, am Freitag, 8. Dezember 2006, in Glauchau
Anrede: Sehr geehrter Herr Superintendent, sehr geehrter Herr Abgeordneter Wanderwitz, liebe Festgäste, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/12/2006-12-08-de-maiziere-750-jahrfeier,layoutVariant=Druckansicht.html


Sperrfrist: Redebeginn

die Stadtkirche erstrahlt in neuer Pracht! Ich freue mich sehr, dieses Ereignis heute mit Ihnen und diesem wunderschönen Adventskonzert zu feiern. Am Erfolg der gelungenen Restaurierung haben viele mitgewirkt. Ich möchte Sie alle hierzu beglückwünschen. St. Georgen ist wieder ein strahlender Mittelpunkt Ihres Ortes und der ganzen Region!

Kirchen, meine Damen und Herren, sind nicht nur geistliche und architektonische Zentren unserer Ortschaften oder Gottesdiensträume am Sonntagmorgen.

Sie spannen ein Netz von Engagement vor unseren Türen und weltweit, von haupt- und ehrenamtlichem Tun, von der Schuldnerberatung, über die Telefonseelsorge, von der Jugendarbeit bis zu Hospizen, in Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern, vom Engagement für "Brot für die Welt", in der "Aktion Sühnezeichen", der seelsorgerlichen Begleitung deutscher Soldaten bei Auslandseinsätzen.

Die Kirchen wirken so breit und positiv in die Gesellschaft hinein, wie es vermutlich gar nicht jedem klar ist.

Auch unsere westliche Gesellschaft würde morgen zusammenbrechen, wenn es kein kirchliches Engagement mehr gäbe.

Meine Damen und Herren,

ich lebe in Dresden und beruflich in Berlin, beides Orte, wo natürlich auch hochengagierte Christen, Geistliche wie Laien, kirchliches Leben in die Gesellschaft hinein prägen. Es sind aber auch beides Orte, wo es zugleich auch eine breite Glaubensvergessenheit gibt.

In beiden Städten und nicht nur dort sind Christen heute zahlenmäßig eine Minderheit. Das gilt nun wahrlich nicht für alle Regionen in Deutschland. Es macht aber die Herausforderung deutlich, vor denen die Kirchen stehen: kirchlich geprägtes Leben ist nicht mehr selbstverständlich.

Die religiöse Landschaft in Deutschland wird bunter, einschließlich der wachsenden nichtchristlichen Religionen.

Zugleich steigt die Zahl der Menschen, die ein Leben ohne Gott leben, weil sie es so wollen, oder weil sie es gar nicht anders kennen.

Das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft spiegelt sich also nicht zuletzt auch im Lichte der demografischen Entwicklung: Die Bevölkerung wird in den nächsten Jahrzehnten älter und kleiner sein. Die Zahl der Getauften nimmt ab. Kirche und Religion sind nicht mehr selbstverständlich Teil der Mehrheitsgesellschaft. Für die Menschen in Westdeutschland ist das eine neue Erfahrung.

Ich kann es deshalb nur begrüßen, wenn die Evangelische Kirche in Deutschland nicht die Augen vor der Zukunft verschließt, sondern mit dem Perspektivpapier einen sicherlich nicht einfachen Reformprozess angestoßen hat, mit dem ehrgeizigen Ziel, in den kommenden Dekaden gegen den Trend zu wachsen.

Es ist alarmierend, wenn die Aussichten der evangelischen Kirchen in Deutschland dergestalt sind, dass bis zum Jahr 2030 ein Drittel weniger Kirchenmitglieder und nur noch die Hälfte der heutigen Finanzkraft vorhanden sein werden.

Aber es ist mutig und verantwortungsbewusst zugleich, die schwierigen Perspektiven klar zu benennen und konkret wie transparent zu beraten, wie sich der Protestantismus in Deutschland hierauf einstellen will.

Und er kann auf Substanz und Identität bauen: Die Kirchen gehören unverändert zu den größten Institutionen in unserem Gemeinwesen, sie sind dicht und lokal fest verwurzelt. Allen Negativmeldungen zum Trotz gehen insgesamt mehr Menschen am Sonntagmorgen in die Kirchen als am Samstagnachmittag in die Fußballstadien! Und überall wachsen Zeichen neuer Religiosität.

Ein Leben als Minderheit ist hart, kann aber auch "bequem" sein: man ist unter sich, unter Gleichgesinnten, und weiß sich im Recht. Nein: Die Kirche muss sich ob als Mehrheit oder als Minderheit als offene und öffentliche Kirche bewähren.

Öffentliche Resonanz erwirbt der christliche Glaube aber nur, wenn er die ganze Öffentlichkeit und die einzelnen Menschen erreicht.

Die Kirchen stehen also vor einer doppelten Herausforderung: sich neben ihrer Kerngemeinden dem Einzelnen, dem Zweifelnden oder dem bislang religiös "Unmusikalischen" zuzuwenden und sich zugleich wach am öffentlichen Zeitgespräch zu beteiligen.

Sie darf nicht "lau" sein, sondern entschieden und eindeutig, wie Landesbischof Bohl in seiner Predigt am Buß- und Bettag eindringlich gefordert hat. Aber sie muss einladen und nicht ausgrenzen, ermutigen und nicht anklagen.

Die Suche nach Sinn und Orientierung in der Gesellschaft ist unübersehbar. Viele, gerade junge Menschen, sind offen für die Begegnung mit dem Glauben, sog."Events" sind gefragt: Ereignisse wie der Weltjugendtag 2005 in Köln, der Besuch von Papst Benedikt XVI. in Bayern, gut besuchte Kirchentage oder die Weihe der Frauenkirche und der seither nicht abreißende Besucherstrom signalisieren dies.

Auch wenn die Institution "Kirche" auf gewisse Zurückhaltung stößt, so spüren immer mehr Menschen doch, dass Religion Unverzichtbares, ja Unvergleichliches beizutragen hat:

zur Sinnfrage im persönlichen Leben und zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft.

Eine sich neu artikulierende "Sehnsucht nach dem Heiligen" hat der Ratsvorsitzende Wolfgang Huber diese Suche benannt.

Die Kirchen haben in einer pluralistischen Gesellschaft kein Monopol der Sinnstiftung, aber sie haben eine authentische Botschaft:

Dass der Wert des Menschen weder auf seinen Eigenschaften oder Taten gründet, sondern dass er seine unverlierbare Würde einzig aus der Zuwendung Gottes gewinnt,

dass christlicher Glaube Hoffnung und damit Zukunft vermittelt,

dass der Mensch zur freien Entscheidung fähig und berufen ist und zugleich immer in solidarischer Verbundenheit mit anderen lebt,

dass Solidarität und Subsidiarität grundlegende Prinzipien unserer Gesellschaftsordnung sind.

Lassen Sie mich kurz bei der Subsidiarität bleiben, womit auch die Frage, wer trägt Verantwortung für das Gemeinwesen, gestellt ist:

Die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an den Staat und sein Leistungsvermögen sind groß, ja oft gehen sie über das Leistbare wie das Erwartbare hinaus. Hier entsteht ein Teufelskreis: mehr Erwartungen, die enttäuscht werden, lösen noch größere Erwartungen aus, die wiederum enttäuscht werden müssen.

Ich plädiere für Bescheidenheit. Die Politik muss ihre Grenzen, politisch, ökonomisch und ethisch erkennen und entsprechend danach handeln. Der Staat darf nicht nur nicht alles, was er kann. Er kann auch nicht alles, was er sollen darf.

Was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält, hat etwas zu tun mit der gemeinsamen Herkunft, mit dem Verständnis der Geschichte, mit den Grundwerten, hoffentlich mit Patriotismus, mit einem Gemeinschaftsgefühl nicht nur zu WM-Zeiten und mit der Akzeptanz unserer demokratischen Ordnung.

Das meiste davon braucht Politik, um wirken zu können. Sie kann diesen "Humus" der Gesellschaft achten und schützen, aber eben nicht selbst hervorbringen.

Ebenso klar ist auch, dass viele Bereiche unseres Lebens dem Staat von vorneherein entzogen sind: menschliche Bindungen, Begleitung von Grenzerfahrungen, persönliches Glück ebenso wie Leid.

Hier kann, ja darf der weltanschaulich neutrale Staat nicht hineinwirken, selbst wenn es von ihm gefordert wird.

Hier beginnt vielmehr der große Raum der Freiheit bürgerlichen Engagements, in dem das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft seinen wichtigen Ort hat. Ein lebendiger Dialog, der von vielerlei lebt:

Von der Klarheit des kirchlichen Profils und von der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung. Vom Engagement von Christinnen und Christen in allen Lebensbereichen, am Arbeitsplatz, in Vereinen und Verbänden.

Meine Damen und Herren,

der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche und ihr Wächteramt gegenüber politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sind nicht nur aus kirchlichem Selbstverständnis essentiell.

Insbesondere die Erfahrung der nationalsozialistischen Herrschaft und des SED-Regimes haben das Verständnis für diesen zentralen Auftrag der Kirchen in der Gesellschaft entscheidend beeinflusst und geprägt.

Dietrich Bonhoeffer, an dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr in vielfacher Form erinnert wurde, schrieb bis zu seiner Verhaftung am 5. April 1943 an einer nicht mehr vollendeten Sammlung "Ethik". Zur "Struktur des verantwortlichen Lebens" heißt es dort: Jesus steht vor Gott als der Gehorsame und als der Freie.... Gehorsam ohne Freiheit ist Sklaverei, Freiheit ohne Gehorsam ist Willkür.... Gehorsam handelt ohne zu fragen, Freiheit fragt nach dem Sinn... In Verantwortung realisiert sich beides, Gehorsam und Freiheit."

Meine Damen und Herren,

die Kirchen und Christen nehmen Verantwortung in der Gesellschaft wahr auf der Grundlage gewachsener, überzeugter Bejahung der freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes.

Ich habe mit großer Zustimmung gelesen, was der Rat der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz unter der Überschrift "Demokratie braucht Tugenden" vor 2 Wochen gemeinsam veröffentlicht haben:

Beide Kirchen betonen ihre eigene Verantwortung für die Demokratie und ihre Bereitschaft, sich für diese Staatsform, die sie als die Beste unter allen bekannten bezeichnen, aktiv einzusetzen.

Gelingende Demokratie ist eine Aufgabe für alle: für Politik, für die Bürger, für die Medien, für alle Interessenvertreter. Gelingende Demokratie kann nicht "delegiert" werden auf die da oben, auf den Staat.

Die Kirchen rufen deshalb dazu auf, die Verantwortung für die Sicherung der Zukunft nicht nur bei den anderen, vorzugsweise bei der "Politik", zu suchen, sondern stärker wahrzunehmen, dass für die Handlungs- und Leistungsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft alle mitverantwortlich sind.

Demokratie braucht Engagement jenseits der bequemen Zuschauerperspektive!

Ich halte dieses aktuelle ökumenische Bekenntnis für ein ungemein wichtiges Signal: Die Kirchen sind nah bei den Menschen und engagiert für unser Gemeinwesen. Sie werben dafür, Zukunft in gemeinsamer Verantwortung zu gestalten, wohl wissend, dass wir trotz besten Bemühens oftmals hinter den idealen Vorstellungen zurückbleiben werden.

Meine Damen und Herren,

ich bin optimistisch, dass ein solches Verhältnis von Kirche und Gesellschaft auch in Zukunft tragfähig ist und Impulse für ein gelingendes Miteinander gibt.

Ich wiederhole: ohne Christenmenschen in der Welt wäre nicht nur Gott allein. Ohne Christenmenschen und aktive Kirche wäre auch unser säkularer und aufgeklärter Staat handlungsunfähig.

Wenn ich mich in dieser wunderbar sanierten Stadtkirche umschaue, so verbinden sich hier Kultur und Tradition, aber auch Zuversicht und Gottvertrauen.

Die Wiedereinweihung von St. Georgen ist im besten Sinne die Krönung beharrlichen Engagements.

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Adventszeit und der Gemeinde von St. Georgen über viele Jahrhunderte feierliche Gottesdienste in dieser schönen Kirche!