Redner(in): Angela Merkel
Datum: 06.12.2006

Untertitel: Gehalten am 6. Dezember im Bundeskanzleramt
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/12/2006-12-06-rede-bkin-b_C3_BCrgergesellschaft-eu,layoutVariant=Druckansicht.html


ich darf Sie im Namen der Vertreter der Bundesregierung - des Vizekanzlers, des Bundesaußenministers, des Bundeswirtschaftsministers, des Chefs des Kanzleramtes und des Regierungssprechers - ganz herzlich hier bei uns begrüßen. Die Zusammensetzung der Vertreter der Bundesregierung ergibt sich dadurch, dass wir auch unter maßgeblicher Anregung des Vizekanzlers gesagt haben: Die EU-Ratspräsidentschaft ist nicht nur etwas für die internen Regierungszirkel und für die vielen Räte, sondern sie soll auch etwas für die Bürgerinnen und Bürger werden. Dabei wollen wir einen möglichst großen Teil der Zivilgesellschaft, wie man das heute so nennt, einbeziehen und mit Ihnen darüber reden, welchen Beitrag Sie leisten können, welche Anregungen Sie vielleicht für uns haben.

Die Tatsache, dass der Bundesaußenminister und der Bundeswirtschaftsminister hier sitzen, hat natürlich damit zu tun, dass sie in ganz besonderer Weise Verantwortung tragen. Beim Bundesaußenminister ergibt sich das ganz von selbst. Die beiden Minister sind für die Koordinierung der Bundesregierung für die Räte zuständig, die in zwei Bereiche aufgeteilt sind: Zum einen in den, der eher dem Außen- und Europapolitischen entspricht, zum anderen in den, der eher Wirtschafts- und Finanzfragen im Blick hat.

Ich bin sehr dankbar, dass Sie unserer Einladung in so großer Zahl gefolgt sind. Es gibt wenige Absagen. Der DGB-Vorsitzende, Herr Sommer, ist heute von einer Grippe überrascht worden; das kommt in diesen Tagen immer wieder einmal vor. Wir wünschen ihm von dieser Stelle aus alles Gute und hoffen, dass er bald wieder gesund sein wird.

Ich möchte Ihnen zu Beginn vier Thesen präsentieren, die vielleicht eine Anregung für unser Gespräch sein können. Erstens: Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen zu wenig über die Europäische Union. Wir haben mit Hilfe von Befragungsinstituten herausgefunden, dass 85 % der befragten Deutschen vor etwa drei Wochen noch gar nicht wussten, dass Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft innehaben wird. Wir können sagen, dass zwar mehr als 70 % der Bundesbürger nach Umfragen für den EU-Verfassungsvertrag sind, aber nur 7 % der Bürgerinnen und Bürger eine gewisse Vorstellung davon haben, was in diesem Verfassungsvertrag überhaupt drinsteht. Das heißt, wir müssen den Bürgern Europa näher bringen.

Wir wollen das seitens der Bundesregierung durch eine Reihe öffentlichkeitswirksamer Veranstaltungen tun - im Übrigen in ganz Deutschland. Wir halten es für wichtig, dass sich das nicht nur auf Berlin und auf wenige Zentren konzentriert. Es wird insgesamt rund 400 Veranstaltungen geben. Der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März wird mit Sicherheit ein Höhepunkt sein. Für diesen Tag wird seitens der Bundesregierung vom Auswärtigen Amt und natürlich auch vom Bundespresseamt ein großes Bürgerfest organisiert. Wir haben nicht zuletzt das Programm "Europa ist 50 - 50 Städte sind dabei". Es wird also auch Aktionen auf der kommunalen Ebene geben, mit denen wir die Menschen dort ansprechen wollen, wo ihr Lebensumfeld angesiedelt ist und wo sie sich zu Hause fühlen.

Zweite These: Die Jugendlichen sind unsere Verbündeten. Das richtet sich nicht gegen andere Gruppen, aber ich glaube, gerade die jungen Menschen werden in ihrer Lebensperspektive in umfassender Weise von den Möglichkeiten Europas profitieren können. Die jüngste Shell-Studie besagt, dass das Vertrauen der 15- bis 25-Jährigen gut ist, wenn es um Fragen der Europäischen Union geht. Ich glaube, viele Themen, vor deren Bewältigung wir international stehen - Friedenssicherung, Gestaltung der Globalisierung, Klimaschutz; also Fragen der nachhaltigen Entwicklung - , sind auch Themen, die junge Leute in besonderer Weise ansprechen und aus denen hervorgeht, dass Europa natürlich eine Zukunftsaufgabe ist. Am 22. Januar wird es gemeinsam mit den Ländern einen Projekttag für die Schulen geben. Das heißt, dass sehr viele Vertreter in die Schulen gehen und mit Schülerinnen und Schülern über Europa diskutieren werden - ich denke, die Bundesregierung wird daran fast vollständig teilnehmen, ebenso die Landesministerpräsidenten; Abgeordnete des Bundestages, der Landtage und des Europäischen Parlaments werden sich auch beteiligen. Wir laden auch alle ein, die hier Freude und Interesse daran haben, an diesem Projekttag mitzuwirken.

Die dritte These heißt: Viele Vorteile, die die Europäische Union mit sich bringt, sind so selbstverständlich geworden, dass sie gar nicht mehr ins Auge fallen - ob es nun die Zugehörigkeit zum Schengen-Verbund ist oder ob es die Vorteile des Euro sind. Von der riesigen Errungenschaft, die wir erreicht haben, dass wir ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass die Menschen in Europa in Frieden leben, will ich gar nicht sprechen; das wird heute als gegeben angesehen. Dass das in der europäischen Geschichte noch nie so lange der Fall war, wie es das in den letzten Jahrzehnten war, ist mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Zweiten Weltkrieg ein Stück weit ins Hintertreffen geraten. Wenn wir uns aber andere Regionen der Welt anschauen, dann wissen wir, dass es zumindest sinnvoll ist, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, wie wir das schaffen konnten, mit welcher Weitsicht die Gründungsväter und -mütter Europas das hinbekommen haben und wie viele Aufgaben wir sicherlich auch an anderen Stellen haben, mit den guten Erfahrungen, die Europa gesammelt hat, zur Konfliktbewältigung beizutragen. Wir wissen aus anderen Erfahrungen, wie schnell auch wieder Vorurteile entstehen. Das ist nicht gleich mit breiter Gewalt gleichzusetzen, aber Fremdenfeindlichkeit ist ein Thema, ebenso Abschottung und Protektionismus; kurzum: all das, was angesichts einer offenen Welt eine Rolle spielt. Europa steht vor riesigen Herausforderungen und deshalb sollten wir uns das auch immer wieder vergegenwärtigen.

Was die alltäglichen Dinge anbelangt, so versuchen wir in der Broschüre "Argumente für Europa - Was bringt die EU dem Bürger?" die Menschen auf die Chancen aufmerksam zu machen, die sie durch die Europäische Union haben. Hierbei haben das Auswärtige Amt und das Zentrum für europäische Integrationsforschung der Universität Bonn Gutes geleistet.

Viertens, und das ist dann auch der Einstieg in die Diskussion: Ohne Bürgergesellschaft wird die Politik den Bürgerinnen und Bürgern das Thema Europa nicht vermitteln können. Das heißt, wenn die Multiplikatoren in unserem Land die Chancen Europas nicht sehen, dann wird das auch nicht gelingen.

Dass sich Europa im Augenblick auf alle nationalen Politikbereiche auswirkt, sehen wir. Sehr häufig werden aber natürlich auch Klagen artikuliert - das weiß jeder - , wenn irgendeine Regelung eine ungewünschte Veränderung mit sich bringt. Ich will nicht sagen, dass jede Regelung in Europa schon der Weisheit letzter Schluss ist, aber an manchen Stellen ist es natürlich auch so, dass wir uns gegen Veränderungen sträuben, weil sie uns ein Stück weit in Bewegung versetzen. Insofern ist es wichtig, dass die wichtigen Leute in dieser Gesellschaft - die Multiplikatoren, die sich gesamtgesellschaftlich engagieren - auch gut über Europa sprechen. Es nutzt nichts, wenn man sagt "Europa ist eine prima Sache" und im zweiten Teil der Rede, der 90 % umfasst, darauf hinweist, was alles nicht richtig klappt.

Deshalb müssen Entscheidungen mitgetragen werden. Wir erleben, glaube ich, im Augenblick, dass das von Generation zu Generation und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt neu angegangen werden muss. Was in den 60er Jahren nicht bezweifelt wurde, das muss vor dem Hintergrund der neuen Herausforderungen und natürlich auch eines neuen und größeren Europas immer wieder neu begründet werden. Gerade was die Erweiterung anbelangt, muss man sagen, wenn man sich mit der Materie befasst, dass es viele Vorteile gibt, die sich aus der Mitgliedschaft der mittel- und osteuropäischen Länder in der Europäischen Union ergeben - Herr Braun nickt gerade - , was Arbeitsplätze und Exportchancen anbelangt. Das ist, glaube ich, an vielen Stellen überhaupt noch nicht durchgedrungen. Aber dafür müssen wir uns auch einsetzen.

Wir haben uns als Bundesregierung das Motto gegeben "Europa gelingt gemeinsam". Es war nicht nur ein guter politischer Vorsatz, dass das in der großen Koalition gelingt, und nicht nur im Hinblick auf die anderen Mitgliedstaaten gedacht, von denen wir hoffen, dass sie bei manchem unserer Projekte mitziehen werden, sondern das war auch im Hinblick auf die Gesellschaft gedacht. Sie als die Vertreterinnen und Vertreter dieser Gesellschaft sind deshalb heute hier, nachdem der Vizekanzler noch etwas gesagt haben wird, ganz herzlich eingeladen, Ihre Anregungen und Vorstellungen einzubringen, damit wir dieses halbe Jahr auf noch breiterem Fundament gestalten können. Es ist im Übrigen ein halbes Jahr, das Teil einer Dreier-Präsidentschaft sein wird, nämlich auch der nachfolgenden Präsidentschaft von Portugal und Slowenien, womit man versuchen möchte, den Dingen innerhalb der Europäischen Union ein bisschen mehr Langfristigkeit zu geben, damit eine Präsidentschaft auch über Projekte des zweiten Halbjahres nachdenkt und nicht nur schaut, wie sie das Unliebsame ein bisschen verschieben und das Liebsame schnell noch abarbeiten kann, sondern auch dafür sorgt, dass das Ganze ein Stück Ruhe und Konsistenz bekommt. - Noch einmal herzlichen Dank von meiner Seite für Ihr Kommen!