Redner(in): Angela Merkel
Datum: 12.02.2007

Untertitel: am 12.Februar 2007 in der Bucerius Law School in Hamburg
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/02/2007-02-12-rede-merkel-philip-breuel-stiftung,layoutVariant=Druckansicht.html


Liebe Frau Breuel,

lieber Herr Breuel,

liebe Familie Breuel,

verehrte Senatorinnen und Bürgerinnen und Bürger der Hansestadt Hamburg,

sehr geehrter Herr Professor Schmidt!

Wir befinden uns hier an einem interessanten Ort. Ich freue mich, dass ich heute hier bei Ihnen sein darf. Das ist eine Veranstaltung, die ein wenig aus dem Rahmen des normalen politischen Programms fällt. Und ich freue mich, dass mit mir so viele der Einladung der Philip Breuel Stiftung gefolgt sind. Schon allein daran lässt sich ermessen, welche große Wertschätzung die Arbeit dieser Stiftung findet.

In dieser Stiftung geht es um Kinder. Wir alle sind uns einig, dass jedes Kind in unserer Gesellschaft die Chance habe sollte, sich nach seinen Fähigkeiten und Neigungen zu entwickeln, um so einer guten Zukunft entgegenzusehen. Das ist die Theorie. Wenn wir darüber sprechen, dass wir eigentlich zu wenige Kinder haben, sollte man denken, dass wir diese Chance auch jedem Kind geben können. Dennoch zeigt sich, dass das in der Praxis alles andere als einfach ist.

Deshalb ist dieses Engagement für die "KinderKunstKlubs", die drei K, so schön, so beachtlich und so bemerkenswert. Das ist eine so wichtige Arbeit. Denn Sie richten wie Frau Breuel es eben gesagt hat Ihr Augenmerk auf Kinder in sozialen Brennpunkten. Ich finde es auch sehr gut, dass Sie diese Angebote für Kinder unter zehn Jahren machen. Denn wir alle wissen, dass Kinder später sehr viel mehr Mühe haben, Dinge überhaupt noch wahrzunehmen, sich zu ändern und Dinge aufzunehmen. Kreativität wecken, zu Leistung motivieren wir wissen, das schaffen leider zu viele Eltern nicht mehr.

Ich war von 1990 bis 1994 Jugendministerin. Damals kam ich frisch "wiedervereinigt"

aus der ehemaligen DDR. Alles, was zu Bildung von Kindern unter sechs Jahren gesagt wurde, rief im Allgemeinen ein gewisses Stirnrunzeln hervor, weil man der Meinung war: Bestenfalls Betreuung. Mit der Bildung von Vorschulen war man hier im Westen wenn ich das so sagen darf recht zögerlich. Irgendwie habe ich dann versucht, mich wortmäßig anzupassen, um nicht als jemand zu gelten, der noch beim Bewundern ehemaliger sozialistischer Kinderkrippen stehen geblieben ist. Aber ich sage Ihnen voller Freude: Ich freue mich, dass wir inzwischen eine andere Diskussion über das haben, was mit kleinen Kindern, mit Kindern vor der Schule, mit Kindern in den ersten Schuljahren stattfindet, denn ich glaube, dass wir dadurch noch sehr viel mehr Chancen für Kinder entdecken werden können.

Da ich dafür zaghaften Beifall bekomme, fühle ich mich ermutigt, noch eine Begebenheit zu erzählen, die auch mit dieser Meinung zusammenhängt und ich sage selbstkritisch: auch in meiner Partei. Einmal wurde ich zu zugegebenermaßen schon etwas älteren Jugendlichen in Baden-Württemberg geführt, die auf Rathausstufen sozusagen vor sich "hinsaßen". Es waren drogenabhängige Jugendliche. Keiner wusste so richtig etwas mit ihnen anzufangen. Man führte mich als Jugendministerin dahin und ich wusste ehrlich gesagt nicht, was man von mir wollte. Ich habe mich mit ihnen unterhalten und es war auch ganz angenehm. Hinterher habe ich dann gefragt: Was glauben Sie jetzt, was wir, Sie und ich, tun sollten? Sie guckten mich an und meinten: Finden Sie nicht auch, dass wir einfach schreckliche Eltern haben? Ich sagte, dass ich glaube, dass wir insgesamt eine Verantwortung haben und dass die Eltern vielleicht aus verschiedensten Gründen nicht die Kraft hatten, ihre Kinder so zu erziehen, wie es vielleicht ihrem Ideal entsprochen hätte, und dass das nicht nur davon abhängt, ob jemand aus armen Verhältnissen kommt, sondern dass Erziehungskraft und Erziehungsmöglichkeit, auch das Gelingen von Kindererziehung etwas ist, was sich durch alle Bevölkerungsteile zieht.

Deshalb finde ich es wiederum gut, dass wir heute auch darüber sprechen, wie wir Eltern, wie wir Kindern und zum Beispiel auch Lehrern helfen können, die oft sehr allein mit all den Problemen dastehen. Also: Die "KinderKunstKlubs" sind eine gute Sache. Das erst einmal zur Einführung.

Nun sind die "KinderKunstKlubs" und die Philip Breuel Stiftung nur ein Teil vieler Aktivitäten, die unter der Überschrift Bürgersinn eingereiht werden können. Deshalb beschäftigt sich die Veranstaltung heute ja auch nicht nur mit dieser Stiftung, sondern wir denken über Bürgersinn für unser Land nach.

Ich glaube, man darf sagen, dass es ohne Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen von Menschen in unserer Gesellschaft diesen Bürgersinn nicht gäbe. Ohne Disziplin und Fleiß, ohne Rücksicht auf andere und ohne Kompromisse das wissen wir zumindest auch wieder theoretisch kann eine Gesellschaft nicht funktionieren. Wir brauchen eine lebendige Bürgergesellschaft. Deshalb fand ich sehr schön, dass auf der Einladungskarte der Philip Breuel Stiftung steht, dass wir uns in unsere Gesellschaft einbringen sollten, weil es unsere Gesellschaft ist, in der wir leben. Ich glaube, das muss man sich immer wieder vor Augen führen. Wir haben alle und jeder nur ein Leben, das wir gestalten können und bei dem wir nicht darauf warten sollten, was andere unternehmen, sondern wir sollten uns selbst einbringen, mitgestalten und damit auch mitbestimmen das sind grundlegende Elemente unserer Demokratie.

Wenn man sich für einen solchen Bürgersinn, für ein solches Projekt entscheidet, ist vielleicht das Schwierigste daran, dass man sich nicht mit den Ungerechtigkeiten im Allgemeinen aufhält, dass man keinen Schuldigen findet, nicht irgendetwas delegiert, sondern sich ganz bewusst im Rahmen der eigenen Fähigkeiten ein überschaubares und damit auch beschränktes Projekt vornimmt und in diesem Projekt bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten geht, damit aber auch immer wieder die Endlichkeit seiner eigenen Möglichkeiten spürt. Ich finde, in einer Gesellschaft, in der wir vieles anonymisiert haben, ist diese ganz bewusste Entscheidung für etwas Konkretes, in dem vollen Bewusstsein, viele andere Dinge nicht machen zu können, eine unwiederbringliche Fähigkeit, die wir unbedingt stärken sollten.

Wir haben richtigerweise vieles in Form von sozialen Sicherungssystemen vergesellschaftet. Das möchte ich auch nicht missen. Aber das darf nicht dazu führen, dass sozusagen die individuelle Verantwortung an anonyme Systeme delegiert wird, sondern es muss weiter die Fähigkeit zum eigenen Bürgersinn möglich sein. Zum Glück kann man sagen, dass es so etwas in unserem Land millionenfach gibt. Wir wissen, dass sich in unserem Land 23 Millionen Menschen ehrenamtlich auf die eine oder andere Weise engagieren: In einem Verein oder einer Hilfsorganisation, in einer Selbsthilfegruppe oder in der Nachbarschaftshilfe. Im letzten Jahr sind etwa 2,4 Milliarden Euro von Bürgerinnen und Bürgern über verschiedene Altersgruppen hinweg für viele Projekte gespendet worden.

Zum Beispiel gibt es die Initiative "SCHÜLER HELFEN LEBEN". Dort gibt es die Möglichkeit, dass Schüler einen Tag im Jahr von der Schulbank in einen Job wechseln. Ihr Arbeitslohn fließt in Jugend- und Ausbildungsprojekte auf dem Balkan. Jahr für Jahr beteiligen sich etwa eine halbe Million Kinder an der Sternsinger-Aktion. Einige von ihnen kommen auch immer wieder ins Kanzleramt. Auch das ist eine wunderschöne Tradition. Da lernen Kinder, Verantwortung für Kinder in anderen Ländern zu übernehmen. Es gibt viele Seniorinnen und Senioren, die heute ihr Wissen als Mentoren an junge Menschen weitergeben. Es gibt Ältere, die vorlesen und mit Kindern das Lesen üben. Es gibt große Spenden-Galas, Sie wissen das. Und wir wissen, dass gerade bei Katastrophen immer wieder eine unglaubliche Bereitschaft zu großem Engagement besteht. Ich glaube, das ist Ausdruck von Freiheit und Solidarität.

Weil ich hier in Hamburg spreche: Hier ist ja sogar das Parlament eine Bürgerschaft und erinnert daran, was Bürgersinn bedeutet. Die Freie und Hansestadt hat in dem, was wir heute besprechen, eine lange Tradition. Ich war letzten Freitag der erste weibliche Ehrengast auf einer Veranstaltung in einer anderen Hansestadt. Dort war die ganze Zeit spürbar, obwohl das schon die 463. Schaffermahlzeit war, dass Hamburg irgendwie immer sozusagen als kleiner Vorläufer Bremens galt. Man hat jedenfalls dauernd Bezug auf Hamburg genommen nicht immer nur freundlich und ohne Unterton, aber immerhin. Ich kann nur sagen, dass es schon etwas ganz Besonderes ist, die 463-jährige Geschichte einer Stiftung, die sich um Menschen in Not kümmert, zu sehen, wenn man sieht, auf welche Tradition das in Deutschland trifft. Es ist etwas ganz Besonderes, wenn man hört, wie die Schaffermahlzeit zur Reformationszeit ablief, wie sie im Dreißigjährigen Krieg ablief und wie wenige Jahre es gab, in denen man diesem Stiftungszweck nicht huldigen konnte.

Hamburg hat Sie können stolz darauf sein nicht wie Bremen 270 Stiftungen, sondern sogar 1.000 Stiftungen; und die Tendenz steigt. Ich glaube, Stiftungen sind ein Ausdruck von Bürgersinn, deshalb haben sie seit dem Mittelalter bei uns eine lange Tradition. Wir wissen, dass durch zwei Weltkriege vielen Stiftungen herbe Zäsuren zugemutet wurden, dass viel Kraft aufgewendet werden musste, um manches Historische weiterleben zu lassen. Wir können uns freuen, dass heute eigentlich wieder ein Stiftungsboom zu beobachten ist: 2006 sind 899 neue Stiftungen privaten Rechts in Deutschland gegründet worden. Das ist mehr als je zuvor. Allein in Hamburg waren es 46. Es gibt heute in Deutschland 14.400 Stiftungen, von denen fast die Hälfte in den letzten 10 Jahren entstanden ist. Auch wenn wir immer wieder darüber reden, was alles nicht funktioniert, gibt es gerade auf diesem Gebiet einiges Gute zu berichten.

Wir müssen darauf achten, dass sich diese Tradition auch in den neuen Bundesländern entwickelt. Sie ist dort noch sehr viel weniger ausgeprägt. Aber immerhin fand der letzte Deutsche Stiftungstag im Mai 2006 in Dresden statt. Er hat sich vor allen Dingen mit dem Thema des Stiftens in Zeiten des demografischen Wandels beschäftigt. Viele Menschen denken, dass sie mit einer Stiftung etwas bewegen können, etwas, was sie über ihren eigenen Tod hinaus weitergeben, auch dann, wenn es gar keine Erben gibt.

Natürlich brauchen wir für das Stiften und die Stiftungen günstige Rahmenbedingungen. Wir werden in diesen Tagen über ein Gesetz zum bürgerschaftlichen Engagement und zu seiner weiteren Förderung beraten. Ich sage Ihnen aber an dieser Stelle auch, wie schwierig die Gratwanderung zwischen der Förderung und der Materialisierung ist. Wir diskutieren in diesen Tagen an unterschiedlichen Stellen sehr, sehr viel darüber ob das in der Pflege ist, bei der Frage der Kindererziehung oder beim bürgerschaftlichen Engagement: Wie kann ich Anreize setzen, ohne anschließend denen, die an solchen Anreizen nicht in vollem Umfang teilnehmen, ein schlechtes Gewissen zu machen oder den Eindruck zu geben, dass ihre Arbeit weniger gewürdigt wird?

Wir haben heute lange an einer Stelle darüber diskutiert, wie das eigentlich mit der Subventionierung der Kinderbetreuung und der Frage des Zuhauseerziehens ist. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht einzelnes ehrenamtliches Engagement besser fördern zum Beispiel die Betreuung älterer Menschen, von pflegebedürftigen Menschen als andere Prioritäten. Und auch bei der häuslichen Pflege und der Pflege im Heim haben wir immer wieder die Diskussion: Wo beginnt der Anreiz, wo endet er und wo geht er in einen Rechtsanspruch über, der wieder genau das Gegenteil von freiwilligem Engagement bedeuten würde? Ich möchte all diejenigen auffordern, die hier sind, uns, den Politikern, an dieser Stelle aus persönlicher Erfahrung heraus zu helfen, weil es eine schwierige Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass einerseits die Rahmenbedingungen stimmen und andererseits keine Ansprüche anonymer Art entstehen.

Wir haben natürlich dennoch vor, die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts durchzuführen und wir wollen sie in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext stellen, wo einerseits das Steuerrecht betroffen ist, wo wir andererseits aber vielleicht in Zukunft auch noch ganz neue Wege für diejenigen gehen müssen, die sich engagieren, was zum Beispiel das berufliche Fortkommen angeht und noch vieles mehr. Unserer Phantasie sind dabei durchaus weite Flure geöffnet. Dazu gehört die Frage, ob man zum Beispiel über so etwas wie ein Bürgerkonto nachdenken sollte, das in Zeiten des demografischen Wandels auch bestimmte Zuwendungen der Gesellschaft im Alter ermöglicht. All diese Dinge sind aus meiner Sicht noch nicht bis zum Ende durchdacht. Es geht also nicht nur um Steuervorteile, sondern vielleicht auch um ein ganzes Stück neues Denken.

Wenn wir das miteinander besprechen und überlegen, dann müssen wir uns natürlich fragen: Aus welchem Gesellschaftsverständnis heraus kommt das? Unsere Gesellschaft lebt ja bekanntlich das ist oft gesagt worden von Voraussetzungen, die sie sich selber nicht schaffen kann. Ich glaube, es ist unbestreitbar, dass die Quelle dieser Voraussetzungen in unserer Zeit manchmal etwas verblasst und vielen gar nicht mehr so recht bewusst ist. Ich finde, dass der heutige Papst in seiner Zeit als Kardinal sehr interessante Ausführungen über die Auswirkungen der Säkularisierung in Europa gemacht hat. Es war sicherlich richtig, Kirche und Staat zu trennen und auch die christlichen Kirchen sind nicht die einzigen Quellen unserer Werte, sie sind aber ein wesentlicher Bestandteil. Aber mit der sozusagen immer weiteren Entfremdung von Kirchen und Staat ist vielen Menschen in unserer Gesellschaft gar nicht mehr die Quelle unseres Werteverständnisses und unseres Menschenbildes bewusst. Darüber zu reden, könnte eine gemeinsame Aufgabe von Stiftern und Stiftungen sein, um deutlich zu machen, dass eine Gesellschaft diese Triebkräfte braucht, von denen sie lebt, da sie sie sich nicht einfach von selbst wieder schaffen kann.

Ich glaube, dazu gehören einige Grundwerte wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Ich finde, der meiste Diskussionsbedarf so erlebe ich es jedenfalls besteht über den Begriff der Freiheit. Freiheit wird von vielen heute als etwas Bedrohliches empfunden, als etwas, was jemanden allein stehen lässt. Dies ist ein sehr verengter, um nicht zu sagen ein völlig falscher Freiheitsbegriff. Bei Freiheit geht es ja nicht darum, dass man frei von etwas ist das ist sozusagen die trivialisierte, magere Variante der Freiheit, sondern Freiheit ist die Möglichkeit, für etwas einzutreten: Freiheit zu etwas, für die Übernahme von Verantwortung. Freiheit ist immer auf den Mitmenschen gerichtet so jedenfalls mein Verständnis. Dieser Freiheitsbegriff hängt eben elementar mit der Möglichkeit und Bereitschaft zusammen, Verantwortung zu übernehmen: Verantwortung für mich, für den einzelnen Menschen, um den es geht, aber auch für den anderen, denn meine Freiheit findet immer in dem Freiheitsanspruch des anderen ihre eigenen Grenzen. Die Diskussion über unser Freiheitsverständnis halte ich für eine ganz, ganz wesentliche, ohne die wir vielleicht nicht wieder auf die Frage zurückkommen, warum eine Gesellschaft ohne ehrenamtliches, bürgerschaftliches Engagement nicht leben kann.

Natürlich hat das auch etwas mit Solidarität zu tun, denn die Solidargemeinschaft, die Gemeinsamkeit von Menschen, beinhaltet auch immer die Akzeptanz, dass es Menschen gibt, die in Not geraten unverschuldet, schicksalhaft und die die Unterstützung anderer brauchen, um eben wenigstens auch mit gleichen Ausgangschancen ausgestattet zu sein oder eine Chance zu haben, gemäß ihrer Würde leben zu können. Unsere Sozialversicherungen basieren genau auf diesem Gedanken, dass es eine solche Solidarität gibt. Aber ich habe schon von der Anonymität dieser Solidarität gesprochen. Daneben muss eine Solidarität der Gemeinschaft, auch individueller Bürger, treten. Die gibt es in der Familie auf eine naturgegebene Weise, weil hier Generationen dauerhaft füreinander Verantwortung übernehmen, aber die muss es auch zwischen Menschen geben, die nicht durch familiäre Bande miteinander verbunden sind.

Dann die Gerechtigkeit. Wie gestalten wir eine Gesellschaft gerecht und was ist das Ergebnis von Gerechtigkeit? Das Ergebnis von Gerechtigkeit ist mit Sicherheit nicht die Gleichheit aller, dazu sind die Menschen zu unterschiedlich beschaffen. Aber Gerechtigkeit bedarf im Grunde schon der gleichen Chancen. Jedem die gleichen Chancen einzuräumen, davon sind wir noch ein ganzes Stück weit entfernt. Natürlich gehört zur Gerechtigkeit auch Recht, der Rechtsstaat mit seinen Ansprüchen, die jedermann gegenüber seinem Staat hat. Aber zur Gerechtigkeit gehört auch wieder die individuelle Verwirklichung von Gerechtigkeit in dem, was jeder einzelne in seiner Umgebung vorfindet.

Und es zeigt sich, dass wir in einem Spannungsverhältnis dieser Werte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit leben, dass sie aber nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, dass sie eng zusammen hängen. Ich wünsche mir, dass wir über diese Werte auch eine umfassende Diskussion führen.

Nun ist es vor diesem Publikum müßig, darüber zu sprechen, wie wichtig auch eigene Verantwortung ist, wie wichtig das Streben des Einzelnen ist, in seinem begrenzten Leben, so wie es jeder von uns hat, ein Stück von diesen Werten immer wieder zu verwirklichen. Und in dieser Umgebung, hier an der Bucerius Law School, ist es wiederum müßig, darüber zu sprechen, dass es viele Institutionen gibt, die das auch immer wieder versuchen. Denn die Bucerius Law School als private Hochschule für Rechtswissenschaften ist in Deutschland eine herausragende Institution. Die Berufsaussichten der Absolventen hier sind exzellent und diese Bucerius Law School ist eben auch eine Einrichtung einer der sehr großen Hamburger Stiftungen. Deshalb ist es sehr schön, dass die Philip Breuel Stiftung sich diese Hochschule hier als Ort für die Veranstaltung ausgesucht hat. Wir haben hier mit der Bucerius Law School eine Einrichtung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. In Hamburg über Gerd Bucerius zu sprechen, das hieße, Eulen nach Athen zu tragen das ist klar. Aber auch hier lag einem Ehepaar die Förderung von Wissenschaft, Bildung und Kultur ganz besonders am Herzen. Hier geht es um junge Menschen, bei der Philip Breuel Stiftung um Kinder.

Sie haben sich ganz bewusst Kinder in sozialen Brennpunkten als Zielgruppe ausgesucht, Kinder, die durch die Arbeit der Stiftung gefördert werden sollen, damit sie gute Schulabschlüsse erreichen und eine Ausbildung machen können, so dass sie ein Stück Selbstbewusstsein entwickeln können, um dem Teufelskreis zu entrinnen, in den man so schnell gerät den Teufelskreis von sozialer Benachteiligung, mangelnder Bildung und Abhängigkeit von sozialen Transferleistungen. Man kann vieles machen, aber die "KinderKunstKlubs" bieten eine ganz besondere Möglichkeit, Kreativität zu entwickeln und dabei etwas zu schaffen, was Kindern durch theoretische Vermittlung gar nicht zu geben ist: Selbstdisziplin, vor allen Dingen ein Stück Selbstbewusstsein, das Erkennen der eigenen Fähigkeiten, den Spaß, die eigenen Fähigkeiten zu nutzen und vielleicht diesen Spaß auch mit in die Familien zu tragen, in denen eben all das nicht zum Alltag gehört.

Wir wissen, dass wir in unserem Land selbstbewusste Menschen brauchen, die an ihre Kräfte glauben und aus ihrem Leben etwas machen, die ihren Weg gehen können. Für mich ist es immer wieder ganz schwer mitanzusehen, wenn Ausbilder zu jungen Menschen am Ende der Schulzeit sagen, sie sind für die Berufsausbildung nicht geeignet, sie schaffen das nicht. Ich glaube, dass diese Stiftung vielleicht ein Stück das Auge dafür öffnet, dass jedes Kind mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten seine Chance braucht.

Nun weiß ich, dass die Arbeit im Einzelfall natürlich sehr viel schwieriger ist. Denn jeder von uns sehnt sich nach den Erfolgsbeispielen. Immer wieder ich sehe die Senatorin an müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass bei allem guten Willen nicht alles zu einem Erfolg geführt werden kann. Auch damit fertig zu werden, dass viele eine Chance bekommen und sie nutzen, aber manche Chancen nicht nutzen können, gehört vielleicht zu dem, über das wir ganz offen sprechen sollten. Schnell wird heute immer gefragt: Na, haben Sie auch Misserfolge zu vermelden? Ich glaube, auch darüber muss die Gesellschaft offen reden, denn nur daraus kann der Ansatz für einen zweiten Anlauf erwachsen.

Ich sage noch einmal, ich habe als Jugendministerin so viele 15- , 16- oder 17-Jährige erlebt, bei denen es um ein so Vielfaches schwieriger wird, noch etwas in ihre Herzen und Köpfe hineinzubringen, dass ich gerade für die Wahl der Zielgruppe der bis zu Zehnjährigen sehr dankbar bin. Wir dürfen auch bei den Älteren nicht aufgeben, aber es wird einfach sehr viel schwieriger.

Wir müssen schauen, dass wir in unserer Gesellschaft erkennen, dass viele Kinder von zu Hause aus eben nicht die Chancen mitbekommen, die wir uns für sie wünschen würden, weil sie aus zerrütteten Familienverhältnissen stammen; weil sie zu Hause keinen geregelten Tagesablauf haben; weil Eltern oft schon in jungen Jahren nicht die Kraft haben, sich mit ihren Kindern auseinander zu setzen, ob ferngesehen wird oder etwas anderes gemacht wird; weil Migrantinnen und Migranteneltern oft mit der Sprache nicht klarkommen und die Kinder deshalb das wichtigste Mittel, was ihnen in unserer Gesellschaft Möglichkeiten eröffnet, nicht ausreichend mitbekommen.

Hier haben Sie nun, liebe Mitglieder der Philip Breuel Stiftung, ganz bewusst angesetzt und gesagt: Wir machen etwas und wir versuchen, gerade Kindern mit Migrationshintergrund beim Malen, beim Musizieren, beim Theaterspielen, über die Kunst etwas beizubringen. Ich kann nur sagen: Ich wünsche mir, dass möglichst viele Kinder dabei Spaß und Erfolg haben.

Frau Breuel hat sich eben extra melden lassen: Ich danke auch denjenigen, die sich dieser Stiftungsarbeit öffnen. Denn selbst Sie als Stiftungsmitglieder können nicht jedes Kind einzeln in Hamburg auswählen, sondern sie sind auf das Mitmachen angewiesen.

Wenn sich Birgit und Ernst Breuel für die Kunst entschieden haben, haben Sie das natürlich auch in Erinnerung an ihren verstorbenen Sohn Philip getan, der Kunst studiert hat. Auf der Homepage der Philip Breuel Stiftung kann man ein Bild von ihm sehen.

Ich möchte der Philip Breuel Stiftung danken und ich möchte der Hansestadt Hamburg sagen: Sie kann sich glücklich schätzen, dass sie so viele solcher Initiativen hat. Für die Bundesregierung möchte ich sagen, dass wir uns bewusst sind, dass unsere Politik ohne Stiftungen, ohne Bürgersinn, ohne die Verantwortung für die Gemeinschaft von Millionen von Menschen, ihre Wirkung überhaupt nicht entfalten könnte.

Gerade wenn man sich auf einen solchen Abend vorbereitet, wird einem wieder mir ging es jedenfalls so bewusst, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind: Sie sind auf der einen Seite darauf angewiesen, dass Politik sich bemüht, Entscheidungen zu fällen, die in den Augen der Bürger nachvollziehbar sind. Ich weiß um die Defizite, die da noch bestehen. Ich weiß auch, dass wir noch eine intensive Diskussion darüber führen müssen, wie in einer immer komplizierter werdenden Welt auch nicht ganz einfache Sachverhalte nachvollziehbar zu den Menschen gebracht werden können. Es gibt Fragen, die kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten und es gibt auch Fragen, die kann man nicht in zehn Sekunden beantworten da kann man noch so viel mahnen und das verlangen.

Auf der anderen Seite glaube ich, dass sich Politik auch ganz bewusst beschränken muss. Ich habe manchmal bei Veranstaltungen zum Beispiel mit Eltern harte Auseinandersetzungen, die sagen: Wer von den Politikern kann ein Vorbild für mein Kind sein? Es ist so, dass es keine Vorbilder mehr unter ihnen gibt. Dann sage ich meistens: Wenn das in Ihren Augen so ist, ist das bedauerlich, dann nehme ich das so zur Kenntnis. Aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, ihr Kind in Depressionen aufwachsen zu lassen. Dann gucken Sie sich bitte in ihrem Familienkreis, in Ihrer Straße oder sonst wo in der Gesellschaft um und finden Sie jemanden, der Vorbild ist. Wenn Sie keinen finden, ist auch mit Ihnen etwas nicht in Ordnung.

Ich glaube und plädiere dafür, dass jeder in seinem Verantwortungsbereich das tut, was ihm möglich ist und das mit bestem Wissen und Gewissen. Aber ich plädiere auch dafür, dass uns dabei immer bewusst ist: Wenn wir in einer demokratischen, einer freien, in einer offenen und pluralen Gesellschaft leben wollen, wird es immer verschiedene Kraftzentren, Gruppen, Initiativen, Aktivitäten geben, die gleichermaßen zum Gelingen dieser Gesellschaft beitragen. Das ist keine Ausrede einer Politikerin, die keine Lust hat, sich um alles zu kümmern, sondern es ist meine tiefe Überzeugung, dass nur so eine vielfältige Gesellschaft gedeihen kann. Deshalb all denen, die viel Kraft und Elan aufbringen, um ihren Beitrag zum Gelingen dieser Gesellschaft zu leisten, ein herzliches Dankeschön!

Und wenn es gar zu sehr gegen den gesunden Menschenverstand geht, was das Ausfüllen von Scheinen, Rechnungen, Abgaben und so weiter anbelangt, dann dürfen Sie sich bei uns melden das ist Ihr gutes Recht, dann versuchen wir, es besser zu machen.

Herzlichen Dank, dass ich heute Abend hier sein durfte!