Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 16.02.2007

Untertitel: Anläßlich der Ehrenpromotion von Prof. Dr. h .c. mult. Marcel Reich-Ranicki am 16. Februar 2007 in der Humboldt-Universität zu Berlin würdigteStaatsminister Bernd NeumannReich-Ranickis Werben für die deutsche Sprache und die deutsche Literatur angesichts der Verfolgung durch Deutsche.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/02/2007-02-16-rede-neumann-reich-ranicki,layoutVariant=Druckansicht.html


Dies ist ein großer Tag für mich und zugleich, ich bin dessen sicher, für jeden der hier Anwesenden "so begann Marcel Reich-Ranicki 2005 seine Rede in der Lübecker Marienkirche aus Anlass des 50. Todestages von Thomas Mann, den er, wie er selbst sagt, wie" keinen Autoren seit 1832 " verehrt.

Dies, meine Damen und Herren, ist ein großer Tag nicht nur für Marcel Reich-Ranicki und für viele der hier Anwesenden - dies ist ein großer Tag auch für die Kulturnation Deutschland und für alle Menschen deutscher Sprache, ob sie nun in Frankfurt, Augsburg oder Lübeck, in Wien, Zürich oder Berlin geboren sind. Heute haben sich nach 69 Jahren jene Pforten weit geöffnet, die Marcel Reich-Ranicki 1938 verschlossen wurden. Ich bitte um Aufnahme als ordentlicher Student an die Philosophische Fakultät der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin "schrieben Sie handschriftlich auf ein Gesuch an diese preußischste aller preußischen Universitäten. Darunter steht ein militärisch knappes" abgelehnt. 7.4.38 ".

Der Grund der Ablehnung aber war kein militärischer, auch kein preußischer. Es war der braune Ungeist, der auch die Universitäten durchdrungen hatte und sich hinter den drei mit Bleistift geschriebenen Buchstaben "jüd." verbirgt. Was dann folgte, weiß eine nach Hunderttausenden zählende Leserschaft aus ihrer bewegenden Autobiografie.

Von der Güntzelstrasse bis Unter den Linden sind es nur wenige Kilometer. Aber es war ein weiter, zu weiter Weg von der Wohnung des Gymnasiasten Reich-Ranicki in Berlin-Charlottenburg bis in die Aula der Universität. Wohin Ihr Weg führte, haben Sie in "Mein Leben" sehr bewegend beschrieben.

Wir alle sind vorhin über die Stufen der Eingangshalle, vorbei an einem mit Bronzelettern in Marmor eingelassenen Satz zu diesem Saal gekommen. Es ist einer der für das zurückliegende 20. Jahrhundert folgenreichsten Sätze deutscher Sprache gewesen. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern ", schrieb Karl Marx 1845 in der letzten seiner Feuerbach-Thesen. Ihr Leben, Herr Reich-Ranicki war über Jahrzehnte geprägt von dem mörderischen Versuch, diesem Postulat Geltung zu verschaffen. Wenn auch der Sozialismus mit dem Zusatz" National " sich natürlich nicht auf den Juden Marx berief, so hat er aber doch damit ernst gemacht, die Welt nicht mehr nur zu interpretieren, sondern mit äußerster und brutalster Gewalt nach seinen Vorstellungen zu ändern.

Man muss Karl Marx dabei zugute halten, dass er für seine Exegeten und Testamentsvollstrecker nicht haftbar gemacht werden kann. Jedenfalls vergaben sich weder die stalinistischen noch die nationalsozialistischen Weltveränderer etwas in ihrer gnadenlosen Verfolgung von freiem Geist und seiner Schwester, der Kritik.

Wie konnte einer das aushalten, der wie sie nichts anderes gelernt hatte als Sprache und Kritik? Ihr Lebenswerk gibt darauf eine Antwort.

Die Universität, die Sie damals abwies, verleiht heute einem Mann die Würde eines Ehrendoktors der Philosophischen Fakultät, der nach eigenem Bekunden später nie mehr an einer Universität studiert hat.

Wir werden gleich noch ausführlicher die Begründung für diese hohe Ehrung erfahren. Erlauben Sie mir aber dazu aus der Sicht des Kulturstaatsministers einige Worte zu sagen. Kaum einer hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr für die deutsche Sprache und Literatur getan als Sie, dem die Deutschen so viel Leid zugefügt haben.

Sie schildern in Ihrer Biographie mit bewegenden Worten die Erinnerung an Ihre Deportation von Berlin nach Polen: "Aber ich hatte noch etwas auf die Reise mitgenommen, was freilich unsichtbar war. Ich konnte damals nicht ahnen, welche Rolle in meinem künftigen Leben diesem unsichtbaren, diesem, wie ich befürchtete, jetzt unnützen und überflüssigen Gepäck dereinst zufallen würde. Denn ich hatte aus dem Land, aus dem ich nun vertrieben wurde, die Sprache mitgenommen, die deutsche, und die Literatur, die deutsche."

Beides haben Sie bewahrt in Ihrem Herzen und Ihrem Wirken; beides haben Sie uns nach dem Krieg als Geschenk zurückgegeben. Was immer Sie seit 1958 in Deutschland sagten, sagten Sie mit dem einen Ziel: zu werben für die deutsche Sprache und die deutsche Literatur. Sie taten dies mit allen zu Gebote stehenden Mitteln und das waren wiederum vor allem die Mittel unserer Sprache. Das war durchaus ein Wunder. Dieses Wunder hat Hilde Domin in ihrem Essay "Mein Judentum" kurz, treffend und bewegend formuliert: "Das Wunder besteht auch darin, schreiben zu können: auf Deutsch."

War Thomas Mann für Sie, lieber Herr Reich-Ranicki, der größte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, so war Goethe für Sie der größte überhaupt. Ihr Aufsatzband mit dem Titel "Goethe noch einmal" belegt dies eindrucksvoll. Enthalten sind in diesem Band auch die Interpretationen dreier Goethe-Gedichte, von denen man annehmen darf, dass es für Sie zentrale Gedichte sind."Freudvoll und Leidvoll" ist das dritte von Ihnen überschrieben. Am Ende heißt es in diesem Gedicht: "Glücklich allein ist die Seele, die liebt"."Glücklich, trotz der schwebenden Pein", von der im Gedicht vorher die Rede ist, fragen Sie? Und Sie geben gleich selbst die Antwort: Nein, nicht trotz, sondern dank der unentwegten Furcht, das Einzigartige des Glücks könne so plötzlich zu Ende gehen, wie es begonnen hat.

Über die großen Lieben des Marcel Reich-Ranicki wollen wir hier nicht spekulieren. Immerhin legt der Schluss von "Mein Leben" eine Antwort nahe. Wenn man sich aber erinnert, was deutsche Sprache und Literatur Ihnen lebenslang bedeutet und wie sie Ihr Leben tief geprägt haben, wie Sie mit ihr gerungen haben, wie man nur als Liebender ringt, dann müssen wir uns Marcel Reich-Ranicki doch, alles in allem, als glücklichen Menschen vorstellen.

Ich gratuliere Ihnen zu der hohen Auszeichnung und bin ebenso dankbar wie alle hier im Saal, heute miterleben zu dürfen, wie sich ein weiter Kreis schließt und etwas zum Ende kommt, dessen Anfang weiter zurückreicht als der Geburtstag der meisten hier anwesenden. Denn 69 Jahre sind eine lange, eine sehr lange Zeit.