Redner(in): Angela Merkel
Datum: 11.03.2007

Untertitel: am 11. März 2007 in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Professor Geremek, sehr geehrter Herr Erzbischof, liebe Freunde und Förderer des Neuen Kreisau, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/03/2007-03-11-rede-merkel-moltke,layoutVariant=Druckansicht.html


sehr geehrte, liebe Gräfin von Moltke,

ich freue mich? es ist für mich sehr bewegend? , dass ich Sie heute, vor Beginn der Veranstaltung, kurz persönlich kennen lernen konnte. Es ist mir eine große Ehre, heute, am 100. Geburtstag Ihres Mannes, Helmuth James Graf von Moltke, an dieser Feierstunde teilnehmen zu dürfen.

Wir sind heute hier zusammengekommen, um mit Ihnen eines Mannes zu gedenken, der wie wenige andere für Überzeugungen im Widerstand gegen das Naziregime eingetreten ist. Seine Entschiedenheit, seine Bereitschaft, im Kampf gegen den nationalsozialistischen Terror auch Opfer zu bringen, bleibt uns immerwährend in Erinnerung.

Mehr noch, die freiheitlich-demokratischen Ideale und die europäischen Visionen von Helmuth James Graf von Moltke haben auch heute, am 11. März2007? ich sage als Europäische Ratspräsidentin: ganz besonders heute, 100Jahre nach seiner Geburt am 11. März 1907? nichts an Aktualität eingebüßt. Sie sind uns immer wieder Mahnung, sind uns vor allen Dingen auch Auftrag.

Helmuth James Graf von Moltke wuchs als Ältester von fünf Geschwistern in Kreisau auf. Er hatte als angehender Jurist viele Kontakte zu Politikern und Intellektuellen. Er übte? sein Mut ist gar nicht hoch genug einzuschätzen, wenn man sich in die Zeit der Diktatur versetzt? Kritik an Hitlers Aufstieg. Er verzichtete auf die Richterlaufbahn, um nicht der NSDAP beitreten zu müssen.

Seit 1940 sammelten sich entschiedene Gegner des NS-Regimes um ihn und seinen Freund Peter Graf Yorck von Wartenburg und entwickelten? man muss sich dies immer wieder vorstellen? in einer Zeit der gesellschaftlichen Finsternis konkrete Konzepte für ein demokratisches Deutschland nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur.

Der Kreisauer Kreis, wie diese Widerstandsgruppe später genannt wurde, gehörte zu den Ersten, die konsequent europäisch dachten. Man ging im Denken über Deutschland hinaus, man dachte europäisch. Deutschland wurde in diesen Gedanken Teil eines föderativen Bundesstaates Europa, eines geeinten Europa, in dem christlich-ethische und sozialreformerische Gesichtspunkte die Politik bestimmen sollten.

Meine Damen und Herren, wenn ich mir heute als Präsidentin des Europäischen Rates? gerade von einer Ratssitzung zurückgekehrt? vor Augen halte, dass bereits zwischen 1940 und 1945 diese Gedanken ganz konkret Gestalt annahmen, dass man Visionen hatte, und wenn wir dann darüber nachdenken, wie viel von diesen Visionen Realität wurde und wie kleinkariert wir im Vergleich dazu heute denken, dann sollte das, was ich eben als Auftrag genannt habe, uns auch immer wieder leiten, wenn es um das Finden von Kompromissen geht.

Lieber, sehr geehrter Herr Professor Geremek, Sie kennen es aus der Perspektive des Europäischen Parlaments und ich kenne es aus der Perspektive des Rates: Dieses Europa ist unsere Zukunft. Das hat Helmuth James Graf von Moltke schon damals gewusst. Das ist die große Vision, die uns auch weiter beschäftigen wird.

In Berlin nutzte von Moltke seine Stellung als Sachverständiger für Kriegs- und Völkerrecht beim Oberkommando der Wehrmacht zum individuellen Widerstand. Ihr Mann, liebe Gräfin von Moltke, verhinderte die Erschießung von Geiseln und die Misshandlung von Kriegsgefangenen.

Im Januar1944 warnte er einen Freund vor der drohenden Verhaftung. Daraufhin wurde er selbst festgenommen. Am 23. Januar1945 wurde Helmuth James Graf von Moltke in Berlin-Plötzensee im Alter von nur 37Jahren hingerichtet. Aus der Haft schrieb er in einem letzten Brief an Sie, verehrte Gräfin von Moltke? ich darf daraus zitieren: "Mein Leben ist vollendet. Ich kann von mir sagen: Er starb alt und lebenssatt. Das ändert nichts daran, dass ich gern noch etwas leben möchte, dass ich Dich gerne noch ein Stück auf dieser Erde begleitete. Aber dann bedürfte es eines neuen Auftrages Gottes. Der Auftrag, für den mich Gott gemacht hat, ist erfüllt."

Ja, meine Damen und Herren, sein Auftrag war erfüllt. Aber dieser Auftrag war ein Auftrag, der weiter trug und der weiter trägt, bis heute und? ich sage ganz bewusst? über den heutigen Tag hinaus. Dass er von Ihnen, Gräfin von Moltke, so konkret im Neuen Kreisau fortgesetzt wird, zeigt, dass das nicht nur irgendwelche Worte sind, sondern Gestalt angenommen hat. Deshalb entstand 1989/90? Sie wissen es alle? die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung.

Auch hier will ich wieder sagen: Wir wissen? gerade in diesen Tagen, in diesen Jahren? , wie wichtig es ist, dass europäische Verständigung immer wieder erarbeitet werden muss, wie schnell Vorurteile wieder an Bedeutung gewinnen können und wie wichtig es ist, alles zu tun, dass diese Vorurteile nicht verfestigt werden. Begegnung ist die beste Möglichkeit, sich an Vorurteilen nicht festhalten zu können. Am leichtesten lässt sich der Andere in einer verzeichneten Art und Weise darstellen, wenn man ihm nie Auge in Auge gegenübertritt. Deshalb ist es so wunderbar, dass Polen und Deutsche, aber auch viele Mitglieder aus anderen Ländern gemeinsam diese internationale Jugendbegegnungsstätte bauten und die Europäische Akademie in Kreisau leben lassen.

Was kann? dies ist eben schon gesagt worden? eine solche Stunde besser unterstreichen als das heutige Konzert des "Jungen Klangforums Mitte Europa" ? Dieses außergewöhnliche Jugendorchester praktiziert in seinem künstlerischen Wirken genau das, worauf unser heutiges Europa gründet: die Versöhnung, Verständigung und Förderung des Miteinanders über Grenzen hinweg. Genau dies sind auch die Brücken zu einer friedlichen und gedeihlichen Zukunft unseres Kontinents.

Wenn wir in diesem Hause hier sind, das lange Zeit als auf der Ostseite von Berlin gelegen bezeichnet wurde, in einer Stadt, die die Teilung überwunden hat, wenn wir heute in einem Europa der 27Mitgliedsstaaten miteinander um Kompromisse ringen, wissen wir, was Brückenbauen bedeutet. Ich weiß, dass wir noch viele Brücken in Europa zu bauen haben. Unser Kontinent hat viel erreicht, aber wenn wir einmal nach Südosteuropa, in Richtung Westbalkan denken, wissen wir, wie viele Brücken noch zu bauen sind. Deshalb ist das Vermächtnis von Helmuth James Graf von Moltke so wichtig auch für uns heute, die wir Verantwortung tragen und die wir zu dieser Gesellschaft beitragen: ein Vermächtnis für Frieden, für Freiheit, für Toleranz, für Achtung der Menschenrechte und ein Vermächtnis für persönlichen Mut.

Herzlichen Dank, dass ich heute hier sein darf.