Redner(in): Angela Merkel
Datum: 13.03.2007

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/03/2007-03-13-bk-auf-sozialstaatskongress,layoutVariant=Druckansicht.html


Lieber Herr Sommer,

liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Kongresses!

Ich möchte mich bei der Hans-Böckler-Stiftung und beim Deutschen Gewerkschaftsbund bedanken, dass Sie diesen Kongress hier durchführen. Ich bin sehr gern hierher gekommen, nachdem wir bereits in der letzten Woche im Vorfeld des EU-Rates den "sozialen Dialog", wie das so schön heißt, mit den Sozialpartnern geführt haben. Herr Sommer und ich sind uns eigentlich auch einig, dass wir diesen regelmäßig stattfindenden Austausch zwischen Arbeitnehmervertretern, Arbeitgebern, der Kommission und dem Rat vielleicht noch etwas lebendiger gestalten können, damit er nicht nur ritualisiert abläuft, sondern auch in der Sache etwas bringt. Vielleicht können wir uns einfach einmal zusammensetzen und aus der deutschen Ratspräsidentschaft heraus einen Vorschlag für die nachfolgende portugiesische Präsidentschaft machen. Denn wir haben jetzt immer diese Dreierpräsidentschaften. Dadurch nehmen drei Länder gemeinsam über anderthalb Jahre ein Stück Verantwortung wahr. Es besteht die Chance, vielleicht ein Thema auszuwählen, mit dem man sich dann anderthalb oder zwei Stunden lang befasst. Ich wäre jedenfalls dazu bereit.

Das Kongressmotto "Europa sozial gestalten!" zeigt natürlich, dass Sie sich mitten in die europäische Diskussion begeben haben. Denn die Fragen "Was ist ein soziales Europa? Was ist ein sozial gestaltetes Europa und wie kann man es erreichen?" treiben, glaube ich, alle um. Das Motto ist nicht einfach nur als Motto dargestellt. Es hat ein Ausrufungszeichen. Das heißt, es besteht aus Ihrer Sicht Handlungsbedarf. Auch das kann ich bestätigen.

Die Frage ist: Wie ist Europa eigentlich von Anfang an angelegt? Gab es immer so etwas wie das soziale Momentum in Europa? Wir haben in der Vorbereitung des 50. Jahrestages der "Römischen Verträge" auch mit den Staats- und Regierungschefs sehr ausführlich darüber gesprochen. Ich glaube, dass wir schon so etwas wie ein europäisches Modell haben, dass die Frage, worin sich das Leben oder die Lebensprinzipien in der Europäischen Union von denen in den Vereinigten Staaten von Amerika oder in anderen Ländern unterscheiden, schon sehr eindeutig beantwortet werden kann.

Es ist ganz interessant, dass sich auch historisch eine rote Linie der sozialen Dimension Europas findet. 1957 gab es bereits im EWG-Vertrag die Absicherung des Rechts auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Vorschriften zur Koordinierung der sozialen Sicherung der Mitgliedstaaten sollten erlassen werden. Das gab es damals schon. Gleiches Entgelt für Männer und Frauen bei gleichwertiger Arbeit ‑das war damals schon festgeschrieben, was auch immer man von der Erfüllungsrate heute halten mag. Zudem wurde sehr früh der Europäische Sozialfonds eingerichtet, um auch die Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitskräfte im Binnenmarkt zu verbessern. Also es ist nicht eine Erfindung der neuen Zeit, dass wir uns mit der sozialen Dimension, mit dem sozialen Gesicht Europas, befassen.

Die Europäische Union hat im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch einen ganzen Sockel verbindlicher Mindeststandards im Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie im Arbeitsrecht verabschiedet. Diese Standards gelten für alle Arbeitnehmer in der EU gleichermaßen. Die Mitgliedstaaten können natürlich darüber hinaus gehen. Aber 20 Tage Jahresurlaub, Grundlagen für den Kündigungsschutz und gewisse Arbeitszeitregelungen sind immer schon Teil der Verträge. Die Europäische Union hat auch Regeln für die Beteiligung der Arbeitnehmer und die Mitwirkung der Sozialpartner geschaffen. Der Europäische Betriebsrat gehört heute ebenso dazu wie der schon erwähnte "soziale Dialog".

Nun mag man sagen: Das alles ist nicht ausreichend. In vielen Teilen gehen deutsche Regelungen auch darüber hinaus. Aber es gibt schon ein Grundgerüst an sozialen Verpflichtungen.

Die Lissabon-Strategie ‑also die Strategie, in der es darum geht, Europa zu einem wirtschaftskräftigen und dynamischen Kontinent zu machen, wobei der Anspruch sogar lautet, ihn zum dynamischsten Kontinent weltweit zu machen‑ verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Beschäftigungs- und Sozialpolitiken besser zu koordinieren.

Die Koordinierung hat über die Lissabon-Strategie ein ganz starkes Momentum bekommen. Wir können auch sehen, dass diese Methode wirkt. Denn wir haben uns durch die Lissabon-Strategie in den verschiedenen Räten seit dem Jahre 2000 jährlich bestimmte Vorgaben gesetzt, die Schritt für Schritt besser umgesetzt werden, z. B. die Beschäftigungsquote von Älteren mit einem europäischen Zielwert von 50 % im Jahre 2010, was für Deutschland laut Statistik der Europäischen Union mit beinahe 49 % schon fast erreicht wird. Ich sage hinzu: Wir können mit der Beschäftigung Älterer in Deutschland trotzdem nicht zufrieden sein.

Wir können also festhalten: Es gibt durchaus einen Sockel sozialer Standards, Regeln für die Beteiligung von Arbeitnehmern, Regeln für die Koordinierung der sozialen Sicherheit, finanzielle Hilfen zur Unterstützung der sozialen Kohäsion und europäische Ziele im Bereich der Koordinierung der Beschäftigungs- und Sozialpolitiken. Damit haben wir schon einen gewissen Instrumentenkasten. Und wir kommen immer weiter an die Fragestellung heran: Wie weit soll ein soziales Europa auch aus sozialen Regelungen auf der europäischen Ebene bestehen?

Ich glaube, da sind wir, Herr Sommer und ich, uns einig, dass es bei der Ausgestaltung der sozialen Dimension nicht in allen Fragen um eine Verlagerung der Kompetenz von der nationalen auf die europäische Ebene, also auf die Ebene der Kommission, geht, sondern dass viele soziale Regelungen auf der nationalen Ebene bestehen bleiben sollen, auch wegen der in ihrem Aufbau und ihrem Gewachsensein sehr unterschiedlichen Strukturen der Sozialsysteme.

Ich sage hinzu ‑wir haben das neulich intensiv mit den Vertretern des Europäischen Gewerkschaftsbundes diskutiert: Das ist nicht ohne jede Spannung. Denn natürlich haben sehr unterschiedliche nationale Regelungen ‑ z. B. in Deutschland die in hohem Maße an den Faktor Arbeit gekoppelten sozialen Sicherungssysteme‑ auch ihre Wettbewerbsauswirkungen, die einen durchaus verzerrenden und für Deutschland manchmal nachteiligen Charakter haben. Deshalb sage ich voraus, dass die Frage, was europäisch geregelt werden muss und was in der nationalen Zuständigkeit bleiben kann, noch nicht abschließend diskutiert ist, wenngleich ich heute auch zu dem Ergebnis komme: Gerade im Bereich der sozialen Sicherungssysteme sollten wir nationale Regelungen und nationale Kompetenz erhalten.

Wir brauchen angesichts gewachsener Mobilität aber immer wieder neue Mindeststandards. Das zeigt sich jetzt z. B. an der Richtlinie, die zur Portabilität betrieblicher Renten und Pensionen erarbeitet wird ‑ein ganz wichtiger Punkt, um Mobilität überhaupt möglich zu machen und Arbeitnehmern auch bestimmte Grundrechte zu ermöglichen. So werden wir an vielen anderen Stellen noch damit konfrontiert werden.

Was ist jetzt der Ursprung dessen, dass trotz all dem, was geregelt ist, ein verbreitetes Unwohlsein besteht, dass die Dinge nicht ausreichend sind? Ich glaube, das sind zwei Dinge.

Das eine ist, dass es unter den Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Meinungen darüber gibt, wie weit man über die soziale Dimension Europas sprechen soll. Wir haben das jetzt wieder bei den Verhandlungen zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates bezüglich der Lissabon-Strategie gemerkt. Der Rat der Sozialminister unter der Leitung von Herrn Müntefering hat hier Schlussfolgerungen erarbeitet, die auch in die Lissabon-Strategie aufgenommen wurden. Aber das sind unglaublich umkämpfte Formulierungen.

Es gibt in Deutschland überhaupt keinen Parteienstreit darüber, dass man sagt: Wachstum, bessere Beschäftigung und soziale Sicherheit sind einander bedingende und gleichrangige Ziele der Entwicklung der Europäischen Union. ‑Ich habe damit keine Mühe, Sozialdemokraten auch nicht. Deshalb ist das aber noch lange nicht konsensfähig in der Europäischen Union. Das muss man wissen.

Es gibt dort Begriffe, die sich geradezu wie alte Streithähne entwickeln; manche sollten sie überhaupt nicht aussprechen, bei anderen ist es besser. Der Begriff der sozialen Kohäsion kommt irgendwie besser weg als der Begriff der sozialen Sicherheit‑ aus welchen historischen Untiefen das auch immer herrührt. Es ist ein ganz schwieriger Diskussionsprozess. ‑ Das ist der eine Punkt.

Der andere Punkt ‑ich glaube, er ist mindestens so gravierend‑ beruht darauf, dass der Wettbewerbsdruck auf ganz Europa viel stärker geworden ist durch das, was wir Globalisierung nennen. Das heißt, die Europäische Union ist plötzlich nicht nur gefordert, für sich selbst und in Bezug auf ihre Mitgliedstaaten zu beschreiben, wie sie denn ihre Soziale Marktwirtschaft ‑so würden wir es in Deutschland sagen‑ ausgestalten will, sondern der gesamte Ansatz‑ von den Verteilungsprinzipien bis hin zur Wahrung der Würde des Menschen‑ ist unter Druck geraten, weil die Wettbewerber ganz andere Ansätze verfolgen.

Ich glaube deshalb, dass es richtig und wichtig ist, uns vor allen Dingen auch der globalen Dimension zu widmen und zu fragen: Wofür will Europa international eintreten? Dazu bietet uns natürlich die G8 -Präsidentschaft eine hervorragende Möglichkeit. Dabei war es wieder wichtig, dass Arbeitsminister Müntefering einen Kongress zu der Frage "Was ist denn die Rolle internationaler Organisationen und wie ist dort das europäische Auftreten?" durchgeführt hat und das auch weiterführen wird.

Ich würde voraussagen, dass die Rolle der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation, an Bedeutung zunimmt und wir mit Hilfe solcher internationaler Organisationen dafür eintreten müssen, dass es Mindeststandards im sozialen und im Arbeitsbereich gibt.

Wenn andere Länder auf der Welt weder den Schutz des geistigen Eigentums achten noch sich zu einem Verbot von Kinderarbeit entschließen können und sie zudem Raubbau an den natürlichen Reserven in ihren Ländern betreiben, dann wird es unendlich schwer ‑auch bei bester Kreativität, Innovationskraft und besten Verteilungsprinzipien in Europa‑ , dafür Sorge zu tragen, dass wir mit unserem Modell auch weltweit reüssieren können.

Deshalb ist es umso wichtiger, dass Europa zu einer gemeinschaftlichen Auffassung kommt, wie es seine eigene Lebensweise definiert, wofür es gemeinsam bereit ist zu kämpfen, um dann im Rahmen der WTO, der ILO und anderer UN-Organisationen deutlich zu machen, für welche Mindeststandards wir eintreten. Wenn wir das nicht gemeinsam tun, dann wird das europäische Modell ‑so ist jedenfalls meine Vermutung‑ insgesamt unter einen solchen Druck geraten, dass wir viele Verwerfungen erleben, die wir nicht wollen. Das ist für mich auch eine der ganz wesentlichen Begründungen für die Existenz der Europäischen Union, weil sich einzelne Mitgliedstaaten die Auseinandersetzung mit China, Indien, Lateinamerika und zum Teil auch den Vereinigten Staaten von Amerika überhaupt nicht leisten können.

Ich glaube, dass hier den europäischen Gewerkschaften eine ganz wichtige Rolle zukommt, auch Motor für solche internationalen Positionsbestimmungen zu sein. Wir müssen die Foren und die Möglichkeiten, unsere Positionen einzubringen, sicherlich noch weiter entwickeln, um hier eine internationale Diskussion zu bekommen.

Wenn wir uns die Sache noch einmal innereuropäisch ansehen, so können wir sagen: Es gibt eine Vielzahl von rechtsverbindlichen Aussagen, die in den Entwurf für den Verfassungsvertrag aufgenommen wurden. Wer sich einmal anschaut ‑ich habe mir das im Verfassungsvertragsentwurf angestrichen‑ , wie viele soziale Bestimmungen im Rahmen dieses Verfassungsvertragsentwurfes dazu gekommen sind, so ist dies ein deutlicher Fortschritt im Blick auf die soziale Dimension der Europäischen Union. Deshalb halte ich es auch für folgerichtig und deshalb bin ich auch sehr dankbar dafür, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund sehr intensiv den Verfassungsvertrag unterstützt und alles dafür tut, was in seinen Kräften steht, um den Prozess wieder in Gang zu bringen. Denn gegenüber "Nizza" und den bisherigen Verträgen haben wir hier eine ganz deutliche Verbesserung.

Ob alles schon so zusammengefasst ist, dass es für den normalen Bürger, der sich nicht jeden Tag mit der europäischen Rhetorik befasst, verständlich ist, das wage ich manchmal zu bezweifeln. Aber in den Grundrechten des Vertrages, die ja ein ganz wichtiger Teil sind, ist Folgendes aufgenommen: Die Nichtdiskriminierung, die Gleichstellung von Mann und Frau, die Rechte von Kindern und älteren Menschen sowie die Integration von Menschen mit Behinderungen. Dazu kommt das Recht auf Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit, gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Schutz bei ungerechtfertigten Entlassungen, Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz.

Ich halte den gesamten Teil des Verfassungsvertrages, der sich mit den Grundrechten befasst, für ein ganz wesentliches Dokument des europäischen Selbstverständnisses, aus dem auch die soziale Dimension unseres Lebensmodells, unseres europäischen Modells, hervorgeht.

In den allgemeinen Zielbestimmungen, die wir im Verfassungsvertrag haben, wird die nachhaltige Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft noch einmal hervorgehoben. Sie zielt auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt. Hinzu kommt die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung und die Solidarität zwischen den Generationen.

Die Solidarität zwischen den Generationen wird für Gesamteuropa eine der ganz großen Herausforderungen ‑einfach dadurch, dass wir einen demographischen Wandel haben und es eine veränderte Situation geben wird zwischen Älteren mit einer glücklicherweise längeren Lebenserwartung und Jüngeren, die leider weniger werden. Diese demographische Herausforderung wird eine der ganz großen Herausforderungen für Europa sein. Die Frage, wie wir in einer sozialen Art und Weise mit dem Verhältnis der Generationen untereinander umgehen, wird auch eine der entscheidenden Fragen für die Menschlichkeit und die Humanität unseres Kontinents sein.

Das heißt also, aus dem Blickwinkel "Wollen wir ein soziales Europa?" ist natürlich der Abschluss des Verfassungsvertrages absolut wünschenswert. Deshalb sind wir, glaube ich, einer Meinung: Der Vertrag von Nizza reicht nicht aus. Wir brauchen für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union ‑auch aus vielen anderen Prinzipien heraus‑ diesen Verfassungsvertrag. Nur so können wir sowohl unsere Identität beschreiben als uns auch für das wappnen, was wir an weltweitem Wettbewerb zu erwarten haben.

Was macht die deutsche Ratspräsidentschaft jetzt? Wir haben ‑so glaube ich, sagen zu können‑ am letzten Freitag als Europäischer Rat unsere Handlungsfähigkeit in einem wichtigen Thema gezeigt. Die Beschlüsse zu Energie und Klima können sich sehen lassen. Sie machen Europa weltweit zum Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel und schaffen uns eine gute Ausgangsbasis, damit wir in den G8 -Verhandlungen dann auch andere Länder überzeugen können. Denn Sie wissen: Europa hat nur einen Anteil von 15 % an den weltweiten Kohlendioxid-Emissionen, 85 % fallen woanders an. Die Entwicklung wird so sein, dass der europäische Anteil tendenziell abnimmt. Trotzdem ist die Vorreiterrolle wichtig, weil wir glauben, dass wir uns durch Innovation sowohl im Bereich der Energieeffizienz als auch im Bereich der erneuerbaren Energien auf Jahrzehnte Exportchancen in anderen Ländern erschließen und damit auch Arbeitsmärkte und Arbeitsplätze in Europa sichern.

Damit komme ich zu einem Punkt, der auch nicht ohne Spannung ist. Ein nachhaltiges, umweltfreundliches Europa muss es gleichzeitig schaffen, ein arbeitsplatzfreundliches Europa zu sein. Ich will gar nicht darum herum reden. Für ein Land wie Deutschland ist das Zusammenbringen dieser Pole natürlich nicht in jedem Fall völlig harmonisch und einfach, sondern wir müssen darüber nachdenken und daran arbeiten.

Sie kennen die Diskussionen über die Zertifizierung der CO2 -Emissionen. Sie wissen, dass wir unsere Reduktionsverpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll umsetzen müssen. Es wird in der nächsten Periode von 2012 bis 2020 sicherlich nicht wieder so sein, dass Deutschland drei Viertel der CO2 -Reduktionen übernehmen kann. Deutschland hat aber die drei Viertel auch nur übernehmen können, weil es die Deutsche Einheit und den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft gab. Das heißt also, wenn man es ganz ehrlich betrachtet, dann hat die Europäische Union noch nicht sehr viel CO2 -Emissionen gesenkt. Von den 8 % , die wir bis 2012 schaffen müssen, sind es gerade einmal 0,9 % , obwohl Deutschland seinen Anteil schon fast geschafft hat. Das heißt also nichts anderes, als dass andere Länder zugelegt haben.

Was jetzt nicht passieren darf, ist, dass die einen alle Klimaschutzvorgaben erfüllen und vielleicht ihre Arbeitsplätze unter Druck bringen und die anderen in Europa dies nicht tun, sondern es muss um der Arbeitsplätze und der ökologischen Vorgaben willen eine faire Lastenverteilung geben. Auch das wird uns in den Diskussionen noch sehr beschäftigen.

Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt über den Verfassungsvertrag sprechen ‑deshalb bin ich auf den Rat gekommen‑ , dann ist es vor allen Dingen wichtig, dass Europa seine Handlungsfähigkeit wiederfindet. Wir werden in keiner einzigen Dimension ‑auch nicht in der sozialen‑ Fortschritte erreichen, wenn insgesamt die Handlungsfähigkeit in Frage gestellt wird. Für die Europäische Union ist es deshalb notwendig, den Verfassungsvertrag voranzubringen. Denn wenn wir auf der Grundlage des Vertrages von Nizza weiterarbeiten müssen, dann fehlen uns nicht nur all die genannten Fragen der sozialen Koordinierung, der Grundrechte und der Zielbestimmungen, sondern dann wissen wir noch nicht einmal, wie viele Mitglieder die Europäische Kommission nach der Europawahl hat. Im Nizza-Vertrag steht nämlich nur "weniger als 27". Das ist eine interessante Aussage. Wenn Sie so einen Vorstand wählen müssen, dann kommen Sie nicht weit. Im Zweifelsfall sagt man dann: 26. Das ist dann meistens die politische Lösung. Aber ich weiß nicht, ob das dann rechtlich bindend ist. Und welches das arme Land ist, das keinen Kommissar schicken darf, wäre in diesem Fall auch noch herauszufinden.

Wir haben keine Möglichkeit der Erweiterung. Wir führen im Augenblick Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und mit der Türkei. Bei Kroatien wird es eventuell etwas schneller gehen. Wir können kein einziges Land aufnehmen. Selbst wenn morgen die Schweiz sagen würde, sie möchte Mitglied der Europäischen Union werden, gäbe es keine Möglichkeit dafür, weil die vertragliche Grundlage nicht gegeben ist. ‑Sind Schweizer hier, die protestieren?

Ich sage nur: Die Schweiz erfüllt ja unbestrittenermaßen alle Kopenhagener Kriterien‑ da bräuchten wir nicht lange zu verhandeln. Die Schweiz koordiniert ihre Politik eng mit der Europäischen Union. Sie kann aber nach dem Nizza-Vertrag jetzt nicht mehr beitreten. Das heißt also, es gibt unglaublichen Handlungsbedarf. Wenn wir zur Europawahl vor die Menschen treten und für ein Europa der Wirtschaftlichkeit, der sozialen Dimension, der Beschäftigung und der Gerechtigkeit werben, dann wird dies ein sehr trüber Europawahlkampf, wenn wir nicht sagen können, wie es mit dieser Europäischen Union weitergeht. Weil wir die Akzeptanz der Menschen für diese Europäische Union brauchen ‑denn gegen die Bürgerinnen und Bürger geht das nicht‑ , ist es so wichtig, dass wir hier auch Ergebnisse erzielen.

Deshalb, meine Damen und Herren, besteht für mich Handlungsbedarf ‑ich will es zum Abschluss zusammenfassen‑ in zwei Richtungen.

Das eine ist die Eigendefinition: Was wollen wir? Hier wird uns die Diskussion über die Frage, was in die europäische Kompetenz fallen soll und was nationalstaatlich geregelt werden soll, auch in den Jahren nach Verabschiedung eines Verfassungsvertrages weiter beschäftigen. Denn wir werden gerade in Deutschland immer die Frage zwischen Mindeststandard, der europäisch vereinbart werden kann, und eigenem Standard haben.

Nun würde Herr Sommer zur Frage des Mindestlohns sagen ‑wir verstehen uns doch, Herr Sommer, jedenfalls wenn es um die Benennung der Themen geht; das heißt aber nicht, dass es immer gleich um die Antworten geht‑ , eine Umsetzung, wie sie die Mehrheit der europäischen Länder vornimmt, wäre ihm recht, wenngleich die Mehrheit der europäischen Länder nicht diese starke Tarifautonomie hat, wie wir sie haben. Aber wenn es um die Frage von Arbeitszeitregelungen und anderen Regelungen geht, dann sind wir auch schnell dabei und sagen, dass dies in unserem Land aus unserer Sicht besser und günstiger geregelt ist. Deshalb wird dies ein Spannungsfeld bleiben.

Zweitens. Wir müssen uns entscheiden: Was wollen wir in der Methode des Voneinander-Lernens, der offenen Koordinierung, des Vergleichs, des "benchmarking", wie man heute so schön sagt, voneinander übernehmen? In dem Bereich könnten wir sehr viel offener sein. Ich habe die Kommission jetzt auch gebeten, einmal die Erfahrungen aus den einzelnen Mitgliedstaaten zusammenzutragen.

Es wurde eben das Elterngeld angesprochen. Wir tun uns ja nichts Schlimmes an, wenn wir auch einmal etwas aus anderen Ländern übernehmen oder andere etwas von uns.

Ich weiß ja, dass die Mehrheit, wenn wir hier abstimmen, für den Mindestlohn ist. Ich wollte jetzt auch keine langwierigen Ausführungen hierzu machen. Ich sage lediglich, dass es wiederum auch Bereiche gibt, in denen das ganz anders aussieht. Insofern ist es wichtig, voneinander zu lernen.

Aber unsere Hauptaufgabe wird darin bestehen, uns einmal in der globalen Dimension zu überlegen: Welche ordnungspolitischen Strukturen brauchen wir eigentlich oder stehen sie in Form der internationalen Organisationen ‑im Rahmen der UNO, der WTO, der ILO‑ ausreichend zur Verfügung? Welche solcher Strukturen brauchen wir, um unserem europäischen Modell des Lebens zum Durchbruch zu verhelfen und um dieses Modell nicht durch unakzeptable Standards in anderen Bereichen einem Druck auszusetzen, den es einfach nicht schaffen kann? Diese Frage ist für mich eine der Kernfragen, die ich auch gern mit der Hans-Böckler-Stiftung, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und internationalen Gewerkschaftern weiter diskutieren würde, weil sie an die Grundfeste des Modells der Sozialen Marktwirtschaft geht.

Wir sollten den Mut haben, für unser Modell einzutreten, das viel sozialen Frieden geschaffen und in Europa viele Widersprüche überwunden hat. Die Soziale Marktwirtschaft hat für eine lange Zeit die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit so weit eingedämmt, dass ein großer Teil der Bevölkerung gut leben konnte. Das Ganze kommt jetzt unter zunehmenden Druck.

Wenn wir überzeugt sind, dass dies eine vorbildliche Art des Wirtschaftens, Arbeitens und Lebens ist, dann wird Europa bereit sein müssen, global für diesen Ansatz zu kämpfen. Er ist nicht mehr alternativlos. Aus unserer Sicht ist er alternativlos. Aber er allein hat noch nicht die globale Hoheit gewonnen. Das wird eine der ganz großen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre sein. Deshalb finde ich es wichtig, erst einmal wieder im Sinne der Vorreiterrolle zu sagen: "Wir wollen Europa sozial gestalten." Dann gilt es zu überlegen, wie wir damit in die Diskussion mit anderen auf der Welt eintreten.

Herzlichen Dank. Ich wünsche Ihrem Kongress noch viele gute Diskussionen und der Sache viel Erfolg.