Redner(in): Angela Merkel
Datum: 16.03.2007

Untertitel: am 16. März 2007
Anrede: Sehr geehrte Frau Rektorin, liebe Frau Chalasi?ska-Macukow, sehr geehrte Frau Stadtpräsidentin, Frau Gronkiewicz-Waltz, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Mazowiecki, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Dorn, Exzellenzen, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/03/2007-03-16-rede-merkel-warschauer-universit_C3_A4t,layoutVariant=Druckansicht.html


ich freue mich, und ich darf das auch im Namen meines Mannes, Herrn Prof. Sauer, sagen, dass wir heute hier in der Warschauer Universität zu Gast sein können und dass ich hier in der Aula Adam Mickiewicz zu Ihnen, den vielen Gästen des heutigen Tages und den vielen Studenten, sprechen kann.

Als Adam Mickiewicz geboren wurde, war Polen gerade zum dritten Mal geteilt worden und existierte als Staat nicht mehr. Adam Mickiewicz war schon zu Lebzeiten eine Symbolfigur? eine Symbolfigur für den unbedingten Freiheitswillen der polnischen Nation und eine Symbolfigur mit Strahlkraft weit über Polen hinaus.

Sie wissen: Ich bin in der früheren DDR aufgewachsen, in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze, in Brandenburg, in der Uckermark. Aus Polen bezogen wir viele Inspirationen: die Musik von Frederic Chopin, die Bücher und Schriften von Andrzej Szczypiorski oder die Filme von Andrzej Wajda. Als Physikerin habe ich mich natürlich mit den Arbeiten der hier in Warschau geborenen zweifachen Nobelpreisträgerin Marie Sk? odowska-Curie intensiv beschäftigt. Das heißt, Polen war für mich in meinem Leben in jeder Hinsicht präsent? geographisch, politisch und kulturell. Ich erinnere mich natürlich auch an viele gemeinsame wissenschaftliche Veranstaltungen mit polnischen Freunden. Und ich freue mich auch, dass einige von ihnen heute hier dabei sind.

In den 80er Jahren wurde Polen für uns in der früheren DDR immer mehr zum Hoffnungsträger. Denn die Gründung der freien Gewerkschaft Solidarno?? 1980 war ein großartiges Signal. Dieses Signal hat uns allen damals gezeigt: Veränderung ist möglich. Neue Wege zu gehen, ist möglich. Freiheit des Wortes, der Rede, der Versammlung? das ist möglich. Doch wissen wir auch: Der Weg von der Gründung der Solidarno?? bis zur Freiheit Polens war noch schwer und steinig. Aber was den Volksbewegungen 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei noch nicht gelingen konnte, das gelang der Solidarno?? : Am Ende führte der Weg in die Freiheit? für Polen und für Mittel- und Osteuropa insgesamt. Für Deutschland hat Polen damit gleichzeitig das Tor zur Überwindung der deutschen Teilung aufgestoßen. Wenn ich sage, dass Polen das Tor zur Überwindung der deutschen Teilung aufgestoßen hat, darf ich auch den Präsidenten Kwa? niewski hier ganz herzlich begrüßen.

Ohne die Freiheitsbewegung in Polen, ohne die Solidarno?? wäre auch mein persönlicher Lebensweg ganz anders verlaufen. Ich könnte mit Sicherheit heute hier nicht als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland vor Ihnen stehen. Nie sollten wir Freiheit und Demokratie als etwas Selbstverständliches nehmen. Sie sind ein Schatz, den es zu hüten und zu verteidigen gilt. Das wissen wir, zumindest diejenigen, die die Unfreiheit erlebt haben.

Meine Damen und Herren, Polen bildet einen zentralen Punkt im politischen Denken und Handeln eines jeden deutschen Bundeskanzlers. Das war bei meinen Vorgängern so, und das ist natürlich auch bei mir so. Papst Johannes PaulII. hat es einmal so auf den Punkt gebracht: "Es sei Gottes Wille, der Deutschland und Polen zu Nachbarn gemacht hat. Es sei deshalb unsere gemeinsame Aufgabe und Verantwortung, gut miteinander zu leben." Doch ich weiß, dass mein Land, Deutschland, insbesondere in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts dieser Verantwortung in keiner Weise gerecht geworden ist. Im Gegenteil: Im deutschen Namen ist Polen unendlich viel Schmerz und Leid zugefügt worden. In der ganzen Zeit des Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkrieges, der mit dem Angriff Deutschlands auf Polen begann, haben mehr als 6Millionen Polen durch Deutsche ihr Leben verloren.

Wenn Deutschland und Polen heute und in Zukunft im Sinne des Auftrags von Papst Johannes PaulII. ein gutes Leben miteinander führen wollen und können, dann gehört dazu vor dem Hintergrund der schrecklichsten Zeit unserer geschichtlichen Erfahrungen für mich unwiderruflich eine Lehre: Nur indem wir, die Deutschen, unsere Vergangenheit zu jeder Zeit voll und ganz annehmen, können wir gemeinsam die Zukunft gestalten? nur so und nicht anders.

Lassen Sie mich offen sagen: Als deutsche Bundeskanzlerin verstehe und unterstütze ich, dass die Deutschen, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges mit Flucht und Vertreibung aus ihrer Heimat selbst Leid ertragen mussten, ihres Schicksals würdevoll gedenken können. Würdevoll wird ein solches Gedenken für mich dann, wenn nicht nur die deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge, sondern auch die anderen, natürlich auch die polnischen Vertriebenen, an ihr Leid erinnern können und wenn vor allem eines klar wird: Es kann keine Umdeutung der Geschichte durch Deutschland geben. Ich füge hinzu: Es wird auch keine Umdeutung der Geschichte durch Deutschland geben. Deshalb sage ich auch: Die Klagen der so genannten "Preußischen Treuhand" haben keinerlei Unterstützung meiner Bundesregierung. Sie werden sie auch nie bekommen.

Meine Damen und Herren, wir spüren, dass wir uns jederzeit aufs Neue bemühen müssen, dass alte Ängste und Sorgen? manchmal sind es auch Vorurteile? endgültig verschwinden. Aber, um mit Andrzej Szczypiorski zu sprechen: "Viel Arbeit liegt hinter uns." Ja, ich glaube, er hat Recht: Viel Arbeit liegt bereits hinter uns. Ein neues Fundament für eine bessere, eine gute gemeinsame Zukunft ist geschaffen. Die Erklärung der polnischen Bischöfe von 1965, die Anerkennung der bestehenden Grenzen und der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag 1991 sind nur wenige Meilensteine der Arbeit, die im Sinne Szczypiorskis bis heute geleistet wurde. Sie haben die deutsch-polnischen Beziehungen grundlegend verändert, und zwar zum Guten.

Heute haben über 1, 5Millionen Jugendliche an Austauschprogrammen des Deutsch-Polnischen Jugendwerks teilgenommen. Und ich sage, es sollten mehr werden. Heute erfüllen Bürgerinnen und Bürger über 600 deutsch-polnische Städtepartnerschaften mit Leben. Heute ist die deutsche Minderheit fest in Polen verankert. Sie leistet einen wertvollen Beitrag zum Leben der polnischen Gesellschaft. Wir sind dankbar, dass sich ihre Lage seit der Wende deutlich verbessert hat. Heute sorgen unzählige Künstler, Gelehrte, Wissenschaftler und Touristen für einen regen Austausch zwischen unseren Gesellschaften. Die Vielzahl deutsch-polnischer Initiativen und Projekte hat dazu beigetragen, dass über die Jahre ein festes und? davon bin ich überzeugt? inzwischen auch unzerstörbares Netz zwischen Polen und Deutschland entstanden ist, ein Netz von guten Beziehungen zwischen unseren Ländern, vor allem auch ein Netz von guten Beziehungen zwischen den Menschen in unseren Ländern. Dieses Netz auch in Zukunft immer enger zu knüpfen, darauf sollten wir unsere ganze Energie richten.

Meine Damen und Herren, wie aber kann das gelingen? Wie können wir die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen noch weiter stärken und vertiefen? Ich meine, indem wir uns auf die stärkste Kraft des Menschen konzentrieren: Die Kraft der Freiheit. Ich darf an dieser Stelle ein weiteres Mal Johannes PaulII. erwähnen. Er hat 1996 vor dem Brandenburger Tor in Berlin gesagt: "Der Mensch ist zur Freiheit berufen. Die Idee der Freiheit kann nur da in Lebenswirklichkeit umgesetzt werden, wo Menschen gemeinsam von ihr überzeugt und durchdrungen sind, in dem Wissen um die Einmaligkeit und Würde des Menschen und um seine Verantwortung vor Gott und den Menschen. Da? und nur da? , wo sie zusammen für die Freiheit einstehen und in Solidarität für sie kämpfen, wird sie errungen und bleibt sie erhalten."

Meine Damen und Herren, es ist genau diese Kraft der Freiheit des einzelnen Menschen, die den Diktaturen immer suspekt bleiben wird. Diktaturen wollen die Kraft des Geistes, die Freiheit des Geistes und des Herzens zumauern? buchstäblich, wie wir in der früheren DDR am eigenen Leibe bis 1989 erfahren haben. Sie gehen mit Panzern auf Demonstranten los, sie bespitzeln und verfolgen das eigene Volk, sie nehmen den Menschen ihre Freiheit. Und dennoch? das haben wir alle gemeinsam erlebt: Die Kraft der Freiheit ist stärker, denn die Würde des einzelnen Menschen ist stärker.

Ja, es ist wahr: Die Freiheit musste in Polen, im Osten Deutschlands und in den anderen Ländern Mittel- und Osteuropas mit viel Leid und mit viel Mut erkämpft werden. Aber wahr ist auch: Sie wurde erstritten. Der Traum von der Freiheit? ich darf hier sagen: unser gemeinsamer Traum von der Freiheit, mein ganz persönlicher und Ihr ganz persönlicher? ist Wirklichkeit geworden. Nicht jede Generation darf so etwas erleben. Wenn wir also im Bewusstsein dieser Vergangenheit die Zukunft bewerten wollen, dann wird für mich eines überdeutlich: Wie viel Anlass zu Zuversicht liegt in dieser historischen Perspektive für Deutschland und für Polen!

Deutlich wird für mich auch: Denkbar wurde all das am Ende, weil sich vor mehr als 50Jahren Frauen und Männer Europas auf den Weg gemacht haben, ein europäisches Friedenswerk ohne Beispiel zu begründen. Nach all den Jahrzehnten, Jahrhunderten von Kriegen, Feindschaften, Verfolgung und Vernichtung wussten diese Menschen vor 50 Jahren: Nur gemeinsam kann dem eigenen nationalen Interesse am besten gedient werden. Das war eine neue Einsicht. Gemeinsam kann dem eigenen Interesse am besten gedient werden. Nur gemeinsam können wir Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenrechte behaupten. Nur gemeinsam erreichen wir das Ziel: Nie wieder Blutvergießen, Verfolgung und Krieg.

Die deutsch-polnische Aussöhnung, Verständigung und Partnerschaft sind deshalb? wie schon die Aussöhnung Deutschlands mit Frankreich? nicht getrennt von der europäischen Einigung zu denken. Schließlich hat das Ende des Kalten Krieges für uns Deutsche die Einheit in Freiheit gebracht und für Polen die Rückkehr in die Mitte der freien Völker Europas. Die europäische Einigung seit 1989 ist für unsere beiden Völker ein gemeinsamer Wendepunkt, und zwar zu einer besseren Zukunft.

Die europäische Einigung eröffnet gerade uns Deutschen und Polen völlig neue Möglichkeiten. Zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges 1995 hielt Wladyslaw Bartoszewski vor dem Deutschen Bundestag eine, wie ich damals fand und wie ich heute finde, beeindruckende Rede. Unter anderem sagte er damals zu uns, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages: "Die Zusammenarbeit beider Staaten im geeinten Europa gehört heute zu den wichtigsten Zielen und Begründungen unserer bilateralen Beziehungen. Sie verleiht ihnen den Sinn und liefert dafür vielerlei Motivationen? mit Blick auf die junge Generation von Polen und die junge Generation von Deutschen, auf die, so walte Gott, glücklichen Menschen des 21. Jahrhunderts."

Mehr denn je gilt: Europa bestimmt nicht nur unsere Gegenwart, sondern es ist auch entscheidend für unsere Zukunft! Denn für sich genommen ist jedes europäische Land allein zu schwach, um globale Herausforderungen wie Energiesicherheit und Klimawandel, Innovation und Wachstum, Kampf gegen Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu bewältigen. Für sich genommen ist jedes europäische Land zu schwach, um im wirtschaftlichen Wettbewerb z. B. mit China und Indien bestehen zu können. Deshalb kann es nur eine Antwort auf diese Herausforderungen unseres Jahrhunderts geben: Nicht für sich allein handeln, sondern in einem einigen Europa und damit in einem starken Europa, weil es um die Lebenschancen für uns alle in einer Welt geht, die sich um uns herum und bei uns dramatisch verändert.

Das Zeitalter der Globalisierung macht uns immer mehr klar: Die Entscheidung für Europa ist nicht nur die Entscheidung für Frieden und Wohlstand. Sie ist auch eine Entscheidung für eine ganz bestimmte Art zu leben, für ein bestimmtes Verständnis vom Menschen und für bestimmte Werte, die sich in der europäischen Staatenwelt widerspiegeln. Sie ist letztlich eine Entscheidung für unser gemeinsames europäisches Lebensmodell.

Ich bin überzeugt: Ohne die Europäische Union werden wir uns keinen gerechten Ordnungsrahmen für die globalisierte Wirtschaft schaffen können. Nur gemeinsam können wir auch auf internationaler Ebene wirtschaftliche und soziale Standards durchsetzen. Nur gemeinsam können wir unseren Wohlstand und unsere Werte sichern. Wenn wir uns also fragen, wie es mit Europa weitergeht, dann sollten wir uns immer wieder vornehmen: Nicht stehen bleiben, sondern vorangehen auf dem Weg der Integration und der Partnerschaft Europas. Nur dann schaffen wir ein starkes und auch zukunftsfähiges Europa. Das wiederum dient unserem eigenen Interesse, und zwar dem eigenen Interesse jedes Mitgliedstaates, in Polen genauso wie in Deutschland und in den anderen Ländern. Das sind für mich zwei Seiten einer Medaille.

Die Frage lautet nun: Was macht denn dieses starke, zukunftsfähige Europa aus? Bei der Vertragsunterzeichnung zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 sagte einer der Gründerväter Europas, Konrad Adenauer: "Eisen und Stahl hat in der Vergangenheit bei den Kämpfen der europäischen Völker gegeneinander eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Jetzt soll Eisen und Stahl die europäischen Völker zu einer Gemeinsamkeit des Handelns und des Denkens zusammenführen." Was für ein historischer Moment: Die Gründung der so genannten Montanunion unterstellte die für die Rüstungsindustrie notwendigen Rohstoffe Kohle und Stahl einer gemeinsamen europäischen Behörde. Krieg zwischen den europäischen Staaten wurde damit unmöglich. Dies war der Grundstein für die wichtigste Neuordnung des europäischen Staatensystems seit dem Westfälischen Frieden eine Neuordnung, die im Gegensatz zu allen anderen zuvor friedlich erfolgt ist.

Dieses Fundament wurde 1957 mit den Römischen Verträgen zu einem europäischen Haus ausgebaut. Mit den Römischen Verträgen haben sich zum ersten Mal in der europäischen Geschichte die Völker Europas aus freiem Willen eine gemeinsame Ordnung gegeben. Richtig ist natürlich, wenn ich das hier in Warschau sage, dass diese Ordnung viel zu lange nur für einen Teil Europas galt. Aber richtig bleibt auch: Diese Ordnung hat sich? inzwischen für alle, auch für Sie in Polen und für uns in der früheren DDR? mehr als bewährt.

Am 25. März, also in der nächsten Woche, können wir Bürger Europas deshalb mit großer Dankbarkeit auf 50Jahre zurückblicken, die Europa von der Zeit der nationalen Egoismen trennen, von heimlichen, gegeneinander gerichteten Allianzen und von Interessenskonflikten, die nicht friedlich in Institutionen, sondern auf dem Schlachtfeld ausgetragen wurden. Wir können auf 50Jahre zurückblicken, in denen Europa entdeckt hat, dass dem Menschen weitaus mehr gedient ist, wenn es seine Interessen als Ganzes definiert. Wir können auf 50Jahre zurückblicken, in denen die einst so selbstbezogenen Staaten gelernt haben, dass gemeinschaftliches Handeln unsere nationale Identität nicht in Frage stellt, sondern uns? im Gegenteil? stärker macht. Wir können auf 50Jahre zurückblicken, in denen wir erfahren haben, dass Kompromiss und Ausgleich nicht mit Niederlage gleichzusetzen sind, sondern? im Gegenteil? Grundvoraussetzungen für das Wohlergehen der Gemeinschaft insgesamt sind? Kompromisse, bei denen niemand sein Gesicht verlieren darf und muss, bei denen jeder auf den anderen zugeht und am Ende die Vorteile die Nachteile einer Einigung überwiegen.

Meine Damen und Herren, wir wissen: Diese Erfolgsgeschichte war nur möglich, weil uns Bürger Europas trotz der Unterschiede etwas Grundlegendes eint. Uns Bürger Europas einen unsere gemeinsamen Werte. Es ist wahr: Europa ist kein "Christenclub", wie manche es formulieren. Aber wahr ist auch: Wenn schon ein Club, dann ist Europa ein Grundwerteclub. Seine Grundwerte beruhen ganz wesentlich auf dem, was wir "christliches Menschenbild" nennen. Gerade hier in Polen kann man sehen, wie lebendig dieses gemeinsame christliche Fundament ist und wie wichtig es für eine menschliche Gesellschaft ist.

Auf dieser Grundlage ist ein historisch neues Miteinander von größeren und kleineren Staaten in Europa entstanden. Es ist ein Miteinander, das sich durch Vertrauen zueinander, durch Respekt füreinander und durch Toleranz auszeichnet. Europa ist der Kontinent der Toleranz. Um das zu lernen, haben wir Europäer Jahrhunderte gebraucht. Mit dieser Toleranz ist ein Miteinander entstanden, das Vielfalt eben nicht mehr als Bedrohung, sondern als Bereicherung versteht.

Polen und die anderen Staaten Mittel- und Osteuropas waren lange? viel zu lange? gegen ihren Willen von diesem Miteinander abgeschnitten. Die europäische Familie war ohne Polen, Tschechen, Ungarn und all die anderen einfach nicht vollständig? bis 2004, als sich das endgültig änderte. Da konnten sie endlich den Platz im Haus Europa einnehmen, der ihnen gebührt, willkommen geheißen von der überwältigenden Zustimmung aller Parlamente der EU-Mitgliedstaaten und mit der Zustimmung der eigenen Bürgerinnen und Bürger. Dieser feste Platz in der europäischen Familie? dies ist meine Überzeugung? liegt gerade auch im Interesse Polens. Die europäische Einigungsidee macht Hegemonialstreben im Europa von heute und morgen nämlich völlig unmöglich. Sie ist die Antwort für all diejenigen, die einen fairen Anteil an den Chancen von morgen erwarten.

Die heutigen Dimensionen der Europäischen Union? es ist wahr? sind atemberaubend und faszinierend: 27Länder, fast 500Millionen Menschen, die in Frieden, Freiheit und Sicherheit leben, mit demselben Pass der Europäischen Union, junge Deutsche und Polen, die in Spanien studieren können, in Frankreich Berufserfahrung sammeln, in Skandinavien Unternehmen gründen und dort sogar Bürgermeister und Gemeinderäte mitwählen können. Aber, meine Damen und Herren, wir sollten uns nicht täuschen: Die Welt wartet nicht auf Europa. Andere Weltregionen wie China und Indien entwickeln sich in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit. Deshalb braucht ein starkes und zukunftsfähiges Europa nicht zuletzt auch dies: Dynamik. Denn ohne Dynamik kein Wohlstand in Europa; und ohne Dynamik nach meiner festen Überzeugung auch immer weniger Solidarität in Europa. Dynamik bedeutet, Wachstum zu generieren und Beschäftigung zu schaffen. Dabei gibt es drei Schlüsselbereiche:

Erstens. In den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation lagen immer Europas Stärken. Sie an der Warschauer Universität wissen, wovon ich spreche. Universitäten wie diese, in der wir heute gerade sind, sind eine europäische Erfindung. Wesentliche technologische Entwicklungen der letzten Jahrhunderte wie der Buchdruck, die Dampfmaschine und das Automobil sind europäische Erfindungen. Deshalb bin ich davon überzeugt: Auch heute kann Europa nur mit Forschung und Innovation wirklich vorne sein.

Um das zu schaffen, müssen wir zweitens die vorhandenen Energien der Bürger Europas freisetzen, statt sie zu behindern. Deshalb wollen wir den Binnenmarkt, den wir brauchen, vollenden und auch auf europäischer Ebene Bürokratie abbauen. Ich glaube, auch Sie haben schon leidvolle Erfahrungen mit dem gemacht, was man in der Europäischen Union den "acquis communautaire" nennt. Unsere Freunde in Kroatien, die gerade Beitrittsverhandlungen führen, haben mir aus der Perspektive eines kleinen Landes berichtet, dass sie im letzten Jahr 20.000 Seiten bei der Kommission abgeliefert haben und die Kommission damit aber noch nicht zufrieden ist.

Wir streben an, und das haben wir auch in der letzten Woche beschlossen, 25Prozent des bürokratischen Aufwandes in Europa abzuschaffen. Denn ich glaube, wir sind auch davon überzeugt, dass der Staat den Menschen nicht vorschreiben darf, wie sie zu leben haben. Vielfalt ist eben ein Kennzeichen der modernen Welt und auch der modernen Gesellschaften. Deshalb werbe ich für diese Vielfalt, diese Freiheit.

Zur Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft Europas gehört ein dritter Schlüsselbereich, nämlich die Energiepolitik. Europa muss Vorreiter bei erneuerbaren Energien und Energieeffizienz sein. Letzte Woche haben wir auf dem Europäischen Rat einen Aktionsplan dazu beschlossen. Er schafft die Voraussetzungen für eine sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung. Ich weiß, dass es Polen nicht leicht gefallen ist, die weit reichenden Ziele für die Förderung erneuerbarer Energien mitzutragen. Umso mehr weiß ich zu schätzen und danke ich Polen, dass es einen wichtigen Beitrag zur Einigung Europas geleistet hat.

Natürlich: Nationale Zuständigkeiten bleiben gewahrt. Ich ergänze: Sie müssen auch in einer Europäischen Union gewahrt bleiben. Aber untrennbar damit verbunden ist, dass gemeinschaftliche und einzelstaatliche Mittel und Fähigkeiten besser aufeinander abgestimmt und miteinander koordiniert werden müssen. Denn es ist klar: Nur gemeinsam können wir in einer Welt größeren Wettbewerbs das europäische Lebensmodell auch in Zukunft bewahren und Politik nach unseren Wertvorstellungen gestalten. Dafür brauchen wir Partner und Verbündete, und zwar weltweit.

Damit, meine Damen und Herren, bin ich bei einem weiteren Punkt für ein starkes und zukunftsfähiges Europa, nämlich unserer globalen Verantwortung. Ich glaube, dass die Globalisierung uns Europäer zwingt, sich in Zukunft noch stärker als bisher mit äußeren Einflüssen auseinander zu setzen. Das ist auch der Grund, warum eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik immer stärker an Bedeutung gewinnt. Dies gilt gerade auch im Verhältnis zu unserem Verbündeten, den Vereinigten Staaten von Amerika, und auch im Verhältnis zu unserem großen Nachbarn Russland.

Die enge, freundschaftliche Partnerschaft mit den USA und eine starke NATO bleiben unser fundamentales europäisches Interesse. Dies ist kein Gegensatz zu einer Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit. Es ist wiederum die andere Seite der gleichen Medaille. Denn globale Herausforderungen erfordern letztlich gemeinsame Antworten, und zwar der ganzen westlichen Staatengemeinschaft. Im Übrigen wird erwartet? nicht nur von unseren amerikanischen Freunden? , dass wir, die Europäer, entsprechend unserem Gewicht auch globale Verantwortung übernehmen? ob bei der Entschärfung regionaler Krisen oder der Gestaltung des Zusammenlebens auf unserem Globus. Auch diesbezüglich gibt es viele Beispiele gemeinsamen europäischen Handelns.

Ich bin der festen Überzeugung: Es gibt im Verhältnis der Europäischen Union zu den Vereinigten Staaten von Amerika noch viel ungenutztes Potenzial. Wir dürfen nicht vergessen: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind der wichtigste Handelspartner der Europäischen Union. Wir sind füreinander der jeweils wichtigste Investitionspartner. Deshalb liegt die Vertiefung unserer Wirtschaftsbeziehungen in beiderseitigem Interesse. Ich glaube, das bietet Raum für neue Ziele wie die Begründung einer neuen transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft. Ich habe dabei vor allen Dingen? wir wollen darüber auf dem EU-USA-Gipfeltreffen Ende April sprechen? die vielen unterschiedlichen Normen und Standards in der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika im Auge, die unglaubliche Finanzmittel binden? ob es z. B. unterschiedliche Buchführungsvorschriften sind oder unterschiedliche Test- und Zulassungsverfahren für Autos, Medikamente und viele andere Produkte. Wenn wir uns überlegen, dass wir den entsprechenden Mehraufwand in Forschung und Innovation bzw. in einen weltweiten Kampf für den Schutz des geistigen Eigentums einfließen lassen könnten, dann hätten wir ihn nach meiner Auffassung besser investiert. Deshalb liegt eine engere transatlantische Wirtschaftspartnerschaft im gemeinsamen Interesse.

Natürlich ist auch die Partnerschaft mit Russland für Europa von strategischer Bedeutung. Deshalb wollen wir ein neues, breit angelegtes Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und Russland verhandeln. Dabei wird die Zusammenarbeit in Energiefragen eine zentrale Rolle einnehmen.

Hier, genauso wie in den Außenbeziehungen insgesamt, zeigt sich immer wieder, wie wichtig es ist, dass wir Europäer geschlossen auftreten. Dies betrifft z. B. auch die laufende Auseinandersetzung um polnische Agrarexporte nach Russland. Hier setzt sich der deutsche Ratsvorsitz gemeinsam mit der Kommission mit Nachdruck für eine rasche Lösung ein. Ich finde, dies ist auch ein Ausdruck jener europäischen Solidarität, die ein zentrales Wesensmerkmal der Europäischen Union ist. Jedes Mitglied der Europäischen Union muss sich auf diese Solidarität verlassen können.

Europa darf sich niemals spalten lassen, weder in Wirtschaftsfragen, wie etwa der Energieversorgung? das Ergebnis wäre mangelnde Versorgungssicherheit für alle? noch in Sicherheitsfragen. Geteilte Sicherheit wäre mangelnde Sicherheit. Ich bin davon überzeugt: Nur wenn Europa zusammensteht, kann es mehr sein als die Summe seiner Teile. Nur dann wird Europa auch von seinen Partnern in der Welt als Akteur wirklich ernst genommen.

Wir brauchen natürlich auch ein Europa, das handlungsfähig ist. Wenn die Europäische Union global Verantwortung übernehmen soll, dann braucht sie eine stabile Ordnung für sich selbst. Deshalb bin ich davon überzeugt: Die Europäische Union muss sich einen Rahmen geben, der ihre Handlungsfähigkeit auf Dauer wirklich sichert. Ihre innere Ordnung muss der neuen Größe mit 27Mitgliedstaaten angepasst werden. Sonst wird sie in der Welt von morgen eine immer kleinere Rolle spielen. Ich will an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa noch 23 oder 24Prozent der Weltbevölkerung lebten, heute sind es etwa 12Prozent und am Ende dieses Jahrhunderts werden es nur noch 6 oder 7Prozent sein. Das heißt, wenn wir etwas bewirken wollen und wenn wir uns für eine stabile Ordnung einsetzen wollen, dann tun wir gut daran, dies auch gemeinsam zu tun.

Nicht nur die EU als Institution muss deshalb gestärkt werden, sondern natürlich auch die europäischen Staaten selbst. Deshalb glaube ich, dass die Europäische Union z. B. eine Kompetenz in der Energiepolitik braucht, um die gemeinsame Versorgungssicherheit gewährleisten zu können. Ich glaube, dass die Europäische Union auch eine Kompetenz in der Außenvertretung braucht, um größere Kontinuität zu wahren und um in der Welt als Akteur wirklich wahrgenommen zu werden. Henry Kissinger? diese Frage ist ja berühmt? fragte danach: "Wen soll ich in Europa anrufen, wenn ich wissen will, was Europa denkt?" Irgendwann werden wir auf diese Frage eine Antwort geben müssen.

Die Europäische Union muss also klarer abgrenzen, wofür die Mitgliedstaaten zuständig sind und wofür die Gemeinschaft steht. Die Gemeinschaft? das füge ich hinzu? sollte nur für die Dinge stehen, die von den Mitgliedstaaten allein nicht ausreichend wahrgenommen werden können. Das heißt, die Gemeinschaft muss sich auf das Wesentliche konzentrieren und, wo immer möglich, die nationalen Eigenheiten der Mitgliedstaaten bewahren. Die EU muss außerdem sicherstellen, dass ihre Institutionen auch mit 27 und mehr Mitgliedstaaten effizient, demokratisch und nachvollziehbar funktionieren. Wir alle wissen: Nichts ist schlimmer als organisierte Verantwortungslosigkeit. Wenn keiner weiß, wen er für irgendeine Entscheidung haftbar machen kann, dann entsteht Verdruss hinsichtlich der Demokratie. Deshalb müssen Zuständigkeiten transparent und klar zugeordnet sein.

Deshalb braucht Europa Neuregelungen, die aus meiner Sicht im EU-Verfassungsvertrag enthalten sind. Das ist dann auch der Hintergrund, vor dem ich als Ratspräsidentin im Auftrag des Rates gemeinsam mit allen Partnern, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament einen Weg finden möchte, wie dieser Prozess bei allen Schwierigkeiten doch noch erfolgreich abgeschlossen werden kann. Europa hatte sich eine Phase des Nachdenkens verordnet. Diese Phase des Nachdenkens ist vorbei. Es kommt die Phase der Entscheidungen. Deshalb haben wir als deutsche Ratspräsidentschaft den Auftrag angenommen, bis zum Ende unserer Präsidentschaft einen Fahrplan zu entwickeln, wie es in Europa weitergehen soll.

Es liegt nicht nur im Interesse der Europäischen Kommission und vieler anderer Institutionen, sondern ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es auch im Interesse der Bürgerinnen und Bürger Europas liegt, dass wir ihnen zu den nächsten Europawahlen 2009 sagen können, wie es mit dieser Europäischen Union denn weitergehen soll. Ich stelle mir, ehrlich gesagt, einen Wahlkampf für das Europäische Parlament ziemlich schwierig vor, in dem wir weder sagen können, wie groß die nächste Kommission sein wird, noch sagen können, wie wir eine Erweiterung der Europäischen Union vornehmen können. Das und anderes könnten wir nicht, wenn wir uns auf der heutigen vertraglichen Grundlage bewegen würden. Das heißt also: Erneuerte Handlungsfähigkeit, globale Verantwortung und wirtschaftliche Dynamik sind die Voraussetzungen dafür, dass wir ein einiges und starkes Europa als Gewinn für uns alle empfinden.

Es ist wahr, und jeder, der einmal dabei war, weiß es: Fortschritte in Europa sind oft nur mühsam und sehr zäh zu erzielen. Aber vergessen wir dabei nicht: Die Europäische Union reduziert sich nicht auf Milchkühe und die Chemikalienrichtlinie. Sie ist, wenn wir zu ihrem Wesen vordringen, eine Union der Demokratie, der Freiheit, des Friedens, der Vielfalt und der Toleranz. Dieser gesellschaftliche Fortschritt ist alles andere als selbstverständlich. Er wurde in vielen Auseinandersetzungen mühsam erkämpft. Unser geistiges und kulturelles Erbe ist Auftrag und Verpflichtung zugleich, im 21. Jahrhundert weiter an einem Europa zu arbeiten, das das Wohl von uns Bürgern Europas, das Wohl jedes einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Deshalb sage ich: Lassen Sie uns, die wir heute an unterschiedlichen Stellen Verantwortung tragen, diesen Auftrag wahrnehmen. Lassen Sie uns gemeinsam das europäische Projekt vorantreiben? für Frieden und Freiheit, für Sicherheit und Wohlstand. Diese Werte lassen sich für die Menschen unseres Kontinents auf Dauer? das ist meine Überzeugung? nur mit einer starken, handlungsfähigen Union sichern.

Herzlichen Dank, dass ich zu Ihnen sprechen durfte!