Redner(in): Michael Naumann
Datum: 11.05.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/79/11279/multi.htm


Gestern durften Christoph Stölzl, der neue Berliner Kultursenator, und ich dem Kulturausschuss des Deutschen Bundestages unsere verschiedenen Ansichten über die zukünftige Kulturförderung der Hauptstadt Berlin durch den Bund vortragen. Das Ziel der Veranstaltung - so durfte ich der Vorausberichterstattung entnehmen - sei es, Harmonie und Einvernehmen, also jene Form des Glücks zwischen Bund und Land herzustellen, die nicht unbedingt das Merkmal der bisherigen öffentlichen kulturpolitischen Diskussion war. Trotz der angestrengten therapeutischen Bemühungen der Vorsitzenden des Kulturausschusses, die allerdings am Ende der Sitzung unter gewisse Redaktionsschluss-Terminzwänge zu geraten schien - man kennt das aus den Woody-Allen-Filmen, bei denen der Therapeut immer öfter auf die Uhr schaut, während der Patient auf der Couch gerne weiterreden möchte - , ließ sich der harmonische Dauerton, der ihr vorgeschwebt haben mag, beim genauen Hinhören nicht vernehmen. Was Wunder? Die Fragmente der Berliner Kulturhaushaltspolitik fügen sich nicht automatisch zu einem hübschen Bild zusammen, nur weil man eine Pressekonferenz anberaumt hat. Die Verhältnisse sind anders. Sie sind - so der von mir sehr geschätzte Kollege Stölzl aus bayerisch-liberaler Perspektive - preußischen Ursprungs. Doch wer Preußens Geschichte und die Geschichte seines Herrscherhauses kennt und schätzt, wird neben allerlei aufgeklärtem Absolutismus, großer ethischer, architektonischer, rechtsphilosophischer und ästhetischer Anstrengungen im politischen Raum und ihrer hegelianischen Überhöhungen in der Idee des sich selbst als Vollendung der Geschichte wissenden Staates einige ausgeprägte Spuren von Wahnsinn entdecken. Auch diese Spuren sind nicht völlig getilgt. In Christoph Stölzls Darlegungen war viel von preußischem Erbe und davon die Rede, dass dieses reiche, aber auch teure kulturelle Vermächtnis der Stadt Berlin von nationaler Bedeutung sei. Wer will das bestreiten. Doch selbst dann, wenn wir dem Rat der Ausschussvorsitzenden folgend auf eine juristische Definition dessen stoßen sollten, was nationale Bedeutung in der Kultur heißen mag - wir sind also wieder bei Hegel, der übrigens nicht weit von hier seine Vorlesungen hielt und von dem die wenigsten wissen, dass er dabei sehr viel Schnupftabak genoss, der mit etwa 20 Prozent Cannabis versetzt war - , wüssten wir nicht, was diese nationale Bedeutung den deutschen Steuerzahler in den nächsten Jahren kosten darf, geschweige denn in 50 Jahren. Ein in und um Berlin herum, aber sonst nicht bekannter Lokalpolitiker hat kürzlich wieder dargelegt, dass er sich ungern von "Bundesschlaumeiern" in die unterfinanzierte Kulturpolitik seiner Stadt hineinreden lasse, zumal dann nicht, wenn der Bund - so sagt er - lediglich 100 Millionen DM per annum zur Verfügung stelle. Ich finde, das ist ganz schön viel Geld. Einige Berliner Abgeordnete mögen das auch so sehen. Aber die Fakten sind ganz anders: Der Bund überweist in diesem Jahr 474 Millionen DM in die Haushalte von Berliner Kulturinstitutionen. Mit den Worten des erstaunten Herrn Lammert während der Kulturausschusssitzung ausgedrückt heißt das: eine schlappe halbe Milliarde Mark. Das sind übrigens 126 Millionen DM mehr als im Jahr 1998. In der Zunahme der Berliner Kulturförderung manifestiert sich auch die kulturpolitische Verantwortung dieser Regierung gegenüber der Hauptstadt. Es wäre angesichts seiner darbenden kulturellen Institutionen nur schön zu beobachten, wenn ein ähnliches zunehmendes finanzielles Verantwortungsgefühl des Berliner Senats zu spüren wäre. Tatsächlich hat Berlin ein großes Erbe aus preußischer Zeit angetreten, dessen Pflege nicht allein dem Land auferlegt werden kann. Der Bund hat dem längst Rechnung getragen. Er finanziert den größten Komplex in der kulturellen Landschaft dieser Stadt, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu 75 Prozent. Wir helfen Berlin bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen auch dadurch, dass wir uns bereit erklärt haben, die in Brüssel zu akquirierenden EFRE-Mittel in Höhe von 25 Millionen DM als genuinen Anteil Berlins an der Stiftung Preußischer Kulturbesitz anzuerkennen. Das ist etwas, das - da bin ich bei aller haushaltspolitischen Vorsicht ganz sicher - der Vorgänger von Hans Eichel nicht gemacht hätte. Auch bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten ist der Bund der größte Geldgeber. Dem muss freilich auch die Bereitschaft Berlins entsprechen, seinen eigenen Verpflichtungen in gemeinsam getragenen Institutionen verlässlich nachzukommen. Es gibt in Berlin aber über diejenigen Preußens hinaus noch weitere Erbschaften, vor allem diejenigen, die uns die DDR hinterlassen hat. Vor zehn Jahren sind hier zwei Hauptstädte verschmolzen. Einen Masterplan über die zukünftige finanzielle Ausstattung, eine Art kulturpolitische Architektur, in der haushaltspolitische Stabilität, programmatische Abstimmungen oder gar institutionelle Verschmelzungen zum planerischen Vorteil aller Beteiligten vorgelegt worden wären, hat es nicht gegeben. Den gab und gibt es nicht. Die Vorgängerin von Christoph Stölzl, Frau Christa Thoben, warf einen kurzen Blick in die Kulturverwaltung - oder besser: in die Abgründe der Kulturverwaltung - dieser Hauptstadt und wandte sich mit Grausen ab. Christoph Stölzl hat die Rolle des Sisyphus übernommen. Und doch sollen wir uns vorstellen, dass er ein glücklicher Mensch sei. Im nächsten Haushaltsjahr fehlen ihm 29 Millionen DM. Das steht fest. Dass in der Zwischenzeit die Verhandlungen des Bundes mit der Stadt Berlin ein wenig ins Stocken geraten sind, wird er uns nicht anlasten wollen. Der Stein, den er nach oben wuchten sollte, ist nach Frau Thobens Abgang - und nicht durch unser Verschulden - wieder in die Talsohle der Berliner Haushaltspolitik zurückgerollt. Packen wir es also noch einmal an. Meinen Vorschlag, eine noch genau zu verabredende Zahl von Berliner Institutionen vollständig in Bundesfinanzierung zu übernehmen, möchte ich so verstanden wissen: Wir sind bereit, die Hauptlast der Finanzierung dieser Institutionen zu tragen, eben weil wir ihre überregionale Bedeutung anerkennen, so zum Beispiel das Jüdische Museum, das geplant und gebaut wurde, an dessen Betriebskosten man aber einfach nicht gedacht hat - man hat übrigens dieses riesige Haus unter der Bedingung gebaut, dass 300 Menschen pro Tag kämen, also die Klimaanlage und übrigens auch die sanitären Anlagen vergessen, was zu Nachbesserungskosten mal eben in Höhe von 9 Millionen DM führte - , die Festspiele, den Gropiusbau, das Haus der Kulturen der Welt. Auch das Berliner Philharmonische Orchester, ein besonderer Glanzpunkt der Hauptstadtkultur, aber mit einem jährlichen Zuschussbedarf in Höhe von 24 Millionen DM auch ein besonders teurer Glanzpunkt, könnte unter bundesfinanzierter Obhut weiter musizieren. Dem Orchestervorstand und dem designierten Dirigenten Sir Simon Rattle wäre das nur recht. Ebenso wenig wie die Landesregierung würde sich der Bund anmaßen, den Künstlern die Noten aufs Pult zu legen. Art. 5 des Grundge-setzes gilt unabhängig von Haushalts- und Kulturhoheitsfragen. Um Christoph Stölzl zu zitieren: "Das Orchester musiziert ja weiter in Berlin" - wie auch die Museumsinsel im Herzen dieser Stadt erneuert wird und die Festspiele, um die es auch geht, die Berliner Festspiele bleiben werden. Der Bund ist bereit, die Hauptstadt bei der Wahrnehmung ihrer kulturellen repräsentativen Pflichten zu unterstützen. Aber was in der Kultur repräsentativ ist, bestimmen in letzter Instanz nicht die Haushaltspolitiker, sondern die Autoren und Künstler, die Komponisten und Regisseure, die Intendanten. In ihrer Arbeit spiegelt sich nicht nur die Selbstinterpretation unserer Gesellschaft wider, ihre Fantasie, auch ihr Trostbedarf, ihre Innovationskraft, sondern auch die Aufforderung zur Toleranz. Sie benötigt ein politisches Klima der Zuneigung, nicht ein Klima der verbissen geleisteten Subventionen. Politiker haben in Berlins Theatern, obwohl man das manchmal zu glauben scheint, kein Hausverbot, selbst wenn sie wie der Regierende Bürgermeister der Meinung sind, man müsse endlich damit aufhören,"abgetanzte und abgelatschte Künstler durchzufüttern". Derlei Sprache aus dem Bauch der Kulturfeindlichkeit richtet sich selbst. Berlins größte Schätze sind die Museen, die Universitäten, der freie Geist der Forschung und der Künste. Sie, nicht die Politik als solche, sind das Signum einer Hauptstadt. Sie bedürfen der kontinuierlichen Pflege aller, die sich für das politische Klima des Landes verantwortlich fühlen. Sich dabei einerseits auf den Bund zu verlassen und andererseits gleichzeitig mit dem Lokalpatriotismus von Kuhschnappel allerlei parteipolitische Büffelpossen aufzuführen, verträgt sich nicht mit dem Auftrag, Bundeshauptstadt zu sein. Kürzlich ist hier in Berlin eine Finanzsenatorin ausgeschieden, die sich der Politik der kontinuierlichen haushaltspolitischen Schilda-Streiche widersetzt hatte. Als sie ihren ersten Sanierungsplan vorlegte, fuhr ihr ein hierzulande, aber sonst nicht weiter bekannter Politiker in die Parade. Ich zitiere aus der "Süddeutschen Zeitung" - nicht widerlegt - : "Was soll der ganze Unsinn, was sollen wir hier mühsam konsolidieren? Wenn die Arbeitslosen erst auf den Stufen des Reichstages liegen, wird der Bund uns die Milliarden schon rüberkippen." So ging das zu in Berlin. Aber so geht es nicht weiter. Wenn rechtzeitig Geld in die maroden Theaterbauten im Ostteil der Stadt investiert worden wäre, dann sähe die Situation heute anders aus. Ich wiederhole: Ein strukturerhaltendes Konzept für die Kultur hätte Berlin bereits in den glücklichen Stunden der Wiedervereinigung vor einem Jahrzehnt gut getan. Und das betrifft beide Parteien, die hier regieren. Nun stehen wir vor den bröckelnden Fassaden und der veralteten Bühnentechnik und nur noch Notmaßnahmen können so manches kulturelle Erbstück vor dem endgültigen Verfall retten. Das Einzige, was in Berlin immer noch wie geschmiert funktioniert, sind die Drehbühnen der Berliner classe politique. Der Antrag der CDU / CSU wird in die Ausschüsse überwiesen werden. Zum Teil haben wir die dort aufgeführten Forderungen erfüllt, ich habe es eben erläutert. Über anderes kann man sehr gut streiten. Wir sind hier nicht auf der Titanic. Die Berliner Kultur wird nicht untergehen, aber - um im Bilde zu bleiben - wir können auch keine Kollisionen mit Eisbergen gebrauchen, deren Tücke, wie man weiß, darin besteht, dass sie zu sechs Siebteln unter der Wasseroberfläche verborgen sind. Christoph Stölzl, so höre ich, nimmt die Akten seiner Behörde mit ins Bett, wo sie ihm den Schlaf rauben. Dass er gleichwohl immer noch der aufgeweckte, offene Kulturpolitiker bleibt, als der er auch mir bekannt und von mir geschätzt ist, bleibt meine ehrliche Hoffnung. Ich wünsche ihm die Autonomie, die ein Kennzeichen des kritischen Geistes ist. Parteipolitische Solidarität in der Auseinandersetzung mit den Herren des Berliner Haushalts ist ein Tugend, aber sie greift erst dann, wenn er selbst die Solidarität jener erfahren hat, die ihn berufen haben. In der Zwischenzeit will ich gerne mit ihm die Sorge tragen und teilen, dass Berlins Kultur in geistiger und finanzieller Unabhängigkeit das leisten kann, was ihre Aufgabe ist: Ausgänge zu öffnen aus der öden Welt des Alltags und auch aus der öden Welt der Finanzierungsdebatten in die Welt der Künste, die immer noch der Ursprung von gesellschaftlichem Glück sein kann, wenn man es nur suchen will. Aber ich möchte mir Christoph Stölzl weiterhin als glücklichen Menschen vorstellen, wenn auch als Sisyphus.