Redner(in): Angela Merkel
Datum: 02.05.2007

Untertitel: am 2. Mai 2007 in Bremen
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident des Senats, sehr geehrter Herr Kommissionspräsident, lieber Kommissar Borg, Herr Kollege Tiefensee, verehrte Abgeordnete, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/05/2007-05-02-rede-merkel-meerespolitik,layoutVariant=Druckansicht.html


Nach der Bemerkung über die Bremer Stadtmusikanten eben stellt sich jetzt nur noch die Frage, wer welches Tier ist, bevor wir dann die Zusammenarbeit beginnen können. Darauf hat mich der Kollege Tiefensee gerade aufmerksam gemacht. Das wollte ich noch zu bedenken geben, wenn Sie in den nächsten Tagen hier in Bremen diskutieren.

Ich freue mich, heute hier anwesend zu sein, wenn die Europäische Konferenz zum Grünbuch Meerespolitik gemeinsam mit Ihnen eröffnen wird. Ich möchte der Kommission und der Bundesregierung für diese Initiative danken. Denn Meere und Ozeane sind etwas, das von den Menschen erobert wurde und das mit Entdeckungen zu tun hat. Wir waren gerade in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben dort etwas über die Entdeckung Amerikas gelernt und eine deutsche Karte, die Waldseemüllerkarte, an die "Library of Congress" übergeben die erste Karte, die Amerika erwähnt.

Meere haben die Welt zusammengeführt. Insofern ist dies ein sehr emotionales Thema. Das sieht man auch draußen auf dem Marktplatz. Dort sind viele Umweltorganisationen vertreten. Junge und ältere Menschen sind einfach von diesem Thema bewegt.

Rund 70Prozent der Erdoberfläche sind mit Wasser bedeckt. Gesunde Meere sind die Quelle für Ernährung, Beschäftigung und Wohlstand der Menschen. Die wunderschönen alten Segelschiffe, die wir hier über uns in diesem einzigartigen Rathaus sehen können, symbolisieren diesen Zusammenhang anschaulich.

Gleichzeitig sind die Meere auch ein wichtiger Lebensraum für Pflanzen und Tiere und ein ganz bestimmendes Element für das Klima der Welt. Angesichts der umfassenden Bedeutung der Ozeane und Meere für unser aller tägliches Leben ist klar: Wir brauchen eine Politik, die integriert, die einmal die verschiedenen Bereiche der Meerespolitik zusammenfasst und gleichzeitig die europäische Politik für den Bereich der Europäischen Union koordiniert.

Deshalb war es auch sehr weitsichtig, dass ein Kommissar die Aufgabe übernommen hat, die gesamte maritime Politik zu koordinieren. Bisher isoliert betrachtete Bereiche wie Fischerei, Schifffahrt, Meeresschutz,"Offshore" -Energie und Entwicklung der Küstenbereiche müssen zusammenhängend betrachtet werden. Das ist das Verdienst des Grünbuches. Damit ist das gemacht worden, was notwendig ist: ein einheitlicher Wirtschaftsraum und ein einheitlicher Naturraum ist definiert worden.

Unsere Grenzen bestehen zu zwei Dritteln aus Küste. Die Hoheitsgewässer aller EU-Mitgliedstaaten sind umfangreicher als unser kontinentales Hoheitsgebiet. Die Europäische Union ist im Grunde eine Halbinsel mit tausenden Kilometern Küste übrigens länger als die Küste der Vereinigten Staaten oder die Russlands.

Deswegen war es ein so bedeutender Schritt, dass vor knapp einem Jahr dieses Grünbuch entstanden ist.

Wir freuen uns, dass die Bundesregierung als EU-Ratspräsidentschaft diesen Prozess in einer ganz entscheidenden Phase begleiten und bereichern kann

das darf ich auch in Namen unseres Kollegen Tiefensee sagen. Auf dieser Konferenz werden ganz konkrete Themen und Fragen diskutiert werden: Was läuft schon gut? Was müssen wir verbessern? Wo liegen die Chancen Europas? Wo muss politisch reguliert werden, auch über die nationale Ebene hinaus?

Dabei wissen wir: Der maritime Bereich ist ein bedeutender Wirtschaftszweig der europäischen Volkswirtschaften. Deutschland zum Beispiel lebt von seinem erfolgreichen Außenhandel. Wir sind stolz darauf, Exportweltmeister zu sein. Mit über 54Milliarden Euro Gesamtumsatz hat die deutsche maritime Wirtschaft erneut einen ganz wesentlichen Beitrag zu diesem Titel des Exportweltmeisters geleistet.

Wachstum und Wohlstand sind in einer globalisierten Welt keine Selbstverständlichkeit mehr

auch das wissen wir. Ressourcen, Potentiale und damit auch Arbeitsplätze können sich von einem Tag auf den anderen verschieben. Wir haben in Deutschland hier schwierige Erfahrungen gemacht: Die Beschäftigung auf den Werften zum Beispiel ist in den letzten 30Jahren von fast 500.000 Werftarbeitern auf heute 100.000 zurückgegangen. Zwei Drittel der europäischen Werften sind verschwunden.

Aber wir haben es ebenfalls geschafft

und wir haben darüber schon in diesem Jahr auf einer Konferenz in Hamburg diskutiert dass es wieder neue Zukunftsperspektiven für die Werften gibt. Dazu hat die Politik der Europäischen Union einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet.

Neuen Schub erhielt die europäische Schiffbauindustrie durch gezielte Förderungen und den politischen Schutz vor unfairer Konkurrenz. Gerade hier ist die Europäische Union auch gefragt, mit einer Stimme zu sprechen. Denn wir sind als Mitgliedsstaaten alleine gar nicht mehr in der Lage, gegenüber anderen auf der Welt unsere Interessen wirksam zu vertreten. Heute profitieren die Werften vom weltweiten Wachstum des maritimen Bereichs und natürlich auch davon, dass der Handel insgesamt zunimmt.

Neben dem Schiffsbau gibt es aber eine Vielzahl wichtiger maritimer Sektoren wie beispielsweise die Meerestechnik mit sehr großen Wachstums- und Beschäftigungsperspektiven. Das Thema Forschung und Innovation

es ist eben schon von Herrn Böhrnsen davon gesprochen worden

wird in Zukunft noch wichtiger werden. Ich glaube, Bremen kann stolz darauf sein, einen ganz erheblichen Beitrag dazu zu leisten.

Für die meeresbezogene Industrie sind drei Entwicklungen von besonderer Bedeutung:

Erstens: Die Tiefwasserförderung von Erdöl und Erdgas wird sich nach den Prognosen in einem Zeitraum von 2005 bis 2009 mehr als verdoppeln.

Zweitens: Öl- und Gasressourcen in den eisbedeckten Gebieten der Arktis werden in den nächsten Jahren eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Das ist eine große Herausforderung für Meerestechnik.

Drittens: Die "Offshore" -Windenergie wird in den nächsten Jahren insbesondere in der Nord- und Ostsee in ganz bedeutender Weise ausgebaut werden.

Dabei werden wir auch darüber zu sprechen haben, wie die Attraktivität der maritimen Berufe gesteigert werden kann. Wir sprechen im Kabinett oft davon, dass sich gerade in innovativen Energiebereichen ganz neue Berufschancen ergeben der Umweltminister sagt das. Deshalb sollten wir etwas dafür tun, dass junge Menschen das wissen. Denn die jungen Menschen kennen oft gar nicht die zukünftigen Berufsperspektiven.

Um unsere Chancen zu wahren, müssen wir natürlich auch dafür eintreten, internationale Abkommen zügig durch die jeweiligen Staaten umzusetzen. Ich denke hier vor allem an das im vergangenen Jahr verabschiedete Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation. Deutschland hat sich das Ziel gesetzt, dieses für die Arbeitsbedingungen im maritimen Bereich so wichtige Übereinkommen bis spätestens 2009 umzusetzen. Ich freue mich, dass es gelungen ist, für diese Diskussion hochrangige Vertreter der Sozialpartner zu gewinnen. Jeder sieht ein, dass gerade die Standards bei den Arbeitsbedingungen ein ganz wesentlicher Punkt sind.

Meine Damen und Herren, den großen ökonomischen Wert von Schifffahrt und Meer gilt es auch für die Zukunft zu schützen. Das heißt: Wir müssen den Wert des Meeres für die nachfolgenden Generationen erhalten. Ansonsten werden wir den ökonomischen Wert nicht mehr leben können. Das heißt, es darf bei der künftigen Meerespolitik der EU nicht nur um die Nutzung der Meere gehen, sondern gerade auch um ihren Schutz. Hier ist die Entwicklung so zu gestalten, dass wir im Bereich der maritimen Wirtschaft von einer ökologisch nachhaltigen Entwicklung sprechen können.

Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen: Ziel ist nicht nur der Schutz mit Blick auf die Nutzung der Meeresressourcen, sondern die Erhaltung der Meere ist auch ein Wert an sich. Nicht für alles ist der Mensch dabei der Maßstab. Wir sind Teil der Schöpfung. Wir dürfen gestalten. Aber gerade Meere und Ozeane geben uns auch Anlass, ein Stück Ehrfurcht vor den Grundlagen des Lebens zu zeigen.

Deshalb ist es richtig, dass neben der Lissabonstrategie, die sich auch mit den Wachstumschancen der maritimen Politik befasst, eine zweite Säule steht: der Schutz der Meeresumwelt. Daher ist es konsequent, dass sich das Grünbuch auf das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung stützt. Das bedeutet kurz und knapp, den Bedürfnissen der heutigen Generation Rechnung zu tragen, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen einzuschränken.

Das ist das Prinzip, das für alle Politikbereiche maßgebend ist. Die Europäische Union hat das in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie, die im Jahre 2006 auch vom Europäischen Rat bestätigt worden ist, noch einmal ganz deutlich gemacht.

Nachhaltige Entwicklung ist dringend erforderlich. Denn es tauchen natürlich neue Belastungen und neue Herausforderungen auf. Schadstoffe sind das, was uns viele Jahre beschäftigt hat. Die Auswirkungen des Klimawandels sind jetzt auch ganz klar nach vorne getreten. Man kann in allen Berichten der Internationalen Klimakommission sehen: Der Klimawandel verändert und schädigt die Meeresumwelt und die Küsten und ihre Regionen in ganz unglaublicher Weise. Die Folgen sind nicht genau vorhersehbar. Aber wir wissen, dass das maritime Ökosystem in vieler Art und Weise sehr sensibel auf Klimaänderungen reagiert.

Deshalb war es so wichtig, dass wir, wie der Präsident der Kommission schon erwähnt hat, beim Frühjahrs-Gipfel in Brüssel weitreichende Beschlüsse für den Klimaschutz gefasst haben. Nach Auslaufen des Kyoto-Protokolls, des internationalen Rahmens, der nur bis 2012 gilt, wollen wir so die Beschlussfassung der Europäischen Union Vorreiter beim Klimaschutz sein und unsere CO2 -Emissionen bis zum Jahr 2020 um 20Prozent verringern; wenn andere große internationale Partner uns folgen, auch um 30Prozent. Wir wollen die Energieeffizienz um 20Prozent und den Anteil erneuerbarer Energien am Energieverbrauch von heute 7Prozent auf 20Prozent steigern. Das sind ehrgeizige Ziele. Wir haben uns dies vorgenommen, weil Energiepolitik und Klimapolitik immer enger zusammenwachsen und weil Klimapolitik auch Meerespolitik ist.

Lassen Sie mich an einem Beispiel veranschaulichen, wie sehr der Schutz der komplexen Meeresökosysteme und ihre wirtschaftliche Nutzung Hand in Hand gehen müssen. Wenn wir den Bereich der Fischerei nehmen, dann wissen wir, dass die Fischbestände weltweit durch Überfischung und Meeresverschmutzung in vielen Regionen der Erde stark an manchen Stellen sehr stark gefährdet sind. Das Problem wird durch die illegale Fischerei noch verstärkt. Sie beutet heute weltweit bis zu 30Prozent der Fischbestände aus.

Die Auswirkungen des Klimawandels auf die Fischbestände sind bei Weitem noch nicht erforscht. Das ist auch ein riesiges Gebiet. Deshalb müssen wir genau hier unsere Forschungsanstrengungen intensivieren und vernetzen. Aber wir haben ganz klare Hinweise, dass Klimaveränderung und Fischbestände in einem sehr direkten Zusammenhang stehen.

Deshalb kann man sagen: Das Ziel einer nachhaltigen Fischerei lässt sich eben nur im Zusammenhang mit einer nachhaltigen Politik für das Ökosystem Meere umsetzen. Das heißt, man muss in einem kohärenten Ansatz auf das gleiche Ziel hinwirken und damit die verschiedenen Bereiche zusammenbringen.

In diesem Moment darf ich Kommissar Barrot begrüßen und damit schon den zweiten Vertreter aus einem anderen Bereich der Kommission.

Wenn wir das schaffen, können wir auch langfristig noch Nahrungsmittel aus dem Meer zur menschlichen Ernährung und damit auch zur Gesundheit verwenden. Wenn wir es nicht schaffen, wird es an dieser Stelle einen erheblichen Einbruch in den Ernährungsgrundlagen der Menschen geben.

Das heißt also: Wir müssen unsere ganzen Aktivitäten, die an vielen Stellen einzeln stattgefunden haben, koordinieren. Deshalb der Ansatz der Meerespolitik, der Meeresschutzstrategie. Ich freue mich, dass die Europäische Meeresschutzstrategie und ihre Richtlinie die Umweltsäule des Grünbuches bilden werden. Ziel ist es, wie es in der Strategie heißt, einen "guten Zustand der Meeresumwelt" Europas bis zum Jahr 2021 zu erreichen. Das ist sehr kohärent mit unseren wichtigen Schritten zum Klimaschutz.

Natürlich spielt die internationale Zusammenarbeit in der Meerespolitik eine ganz herausragende Rolle auch das wissen wir als Mitglieder der Europäischen Union. Deutschland engagiert sich seit langem in regionalen Meeresschutzorganisationen. Beispiele hierfür sind die Kommission zum Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantiks oder die Helsinki-Kommission zum Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebietes. Diese multilaterale Kooperationen sind ganz unabdingbar, denn Lebewesen und Lebensräume in den Meeren kennen eben keine nationalen Grenzen.

Daraus ergibt sich auch, dass eine integrative Meerespolitik von keinem Mitgliedstaat der EU alleine bewältigt werden kann wie im Übrigen viele andere globale Aufgaben auch nicht. Wir brauchen deshalb eine starke Europäische Union. Nur so können wir unsere Anliegen vorbringen und durchsetzen. Deshalb muss die Europäische Union in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt werden. Deshalb haben wir uns am 25. März 2007 anlässlich der 50-Jahr-Feier zu den Römischen Verträgen geeinigt, bis 2009 eine gemeinsame Grundlage für eine handlungsfähige Europäische Union zu erarbeiten.

Auf uns, auf die Präsidentschaft, kommt dabei gemeinsam mit der Kommission beim Juni-Rat die Aufgabe zu, einen Fahrplan zu bestimmen und im Bereich des Verfassungsvertrags zu sagen, wie es weiter geht. Ich bin fest davon überzeugt, dass gerade Bereiche wie die Meerespolitik, die diese handlungsfähige Europäische Union brauchen, davon in besonderer Weise profitieren werden.

Europa gelingt nur gemeinsam. Ich bin zuversichtlich, dass genau nach dieser Devise auf dieser Konferenz hier in Bremen eine integrierte europäische Meerespolitik umfassend diskutiert und auch vorangetrieben werden kann. Ich freue mich, dass die Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland dazu intensiv in ihrer Stellungnahme zum Grünbuch beigetragen haben. Hier haben die Küstenländer in ganz besonderer Weise zusammengewirkt.

Wir brauchen den intensiven Einsatz aller Beteiligten. Wir brauchen einen integrativen Ansatz, bei dem die Beteiligten neu lernen müssen, miteinander zu kooperieren und ganz unterschiedliche Bereiche zu vernetzen. Zum Teil sind es Akteure, die durchaus widersprüchliche Interessen vertreten, die sich aber wegen des gemeinsamen Ziels auch zusammenfinden.

Die Seerechtsexpertin und Kämpferin für die Ozeane Elisabeth Mann-Borgese hat dazu einmal gesagt: "Das Meer lehrt uns immer wieder neu zu denken." Das ist das, was uns inspirieren kann. Ich glaube, dass dieser Geist der Offenheit und der Kreativität angesichts der riesigen Herausforderungen, vor denen eine solche Meerespolitik steht, genau der richtige ist, um uns alle gemeinsam voranzubringen.

Ich möchte insbesondere dem Präsidenten der Kommission danken nicht nur dafür, dass er heute da ist, sondern dass er das Grünbuch Meerespolitik zu seinem persönlichen Anliegen gemacht hat, weil ihm Meerespolitik auch am Herzen liegt.

Angesichts der Bedeutung des Themas für unsere Zukunft begrüße ich, dass sich so viele für diese Konferenz engagiert haben und dass sich unser Verkehrsminister in ganz besonderer Weise entschieden hat, diese Konferenz auch zu einem Höhepunkt unserer Ratspräsidentschaft zu machen.

Nun müssen Sie, die Sie daran teilnehmen, das Ihrige dazu beitragen, damit wir nicht nur zur Eröffnung hoffnungsvolle Botschaften abgeben können, sondern nach Beendigung der Konferenz auch sagen können: Es waren gute Tage für die Meerespolitik. Ich finde, die Voraussetzungen sind mit Bremen und seinem Engagement für die Meere geschaffen. Ich wünsche Ihnen gute Beratungen, intensive Diskussionen und uns allen ein Gelingen einer integrativen Meerespolitik.

Herzlichen Dank!