Redner(in): Angela Merkel
Datum: 12.07.2007

Untertitel: am 11. Juni 2007
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/07/2007-07-12-bkin-besuch-hochschule-juedische-studien,layoutVariant=Druckansicht.html


Sehr geehrter Herr Professor Bodenheimer,

sehr geehrter Herr Professor Hommelhoff,

Herr Oberbürgermeister,

Herr Professor Korn,

Herr Minister,

liebe Studentinnen und Studenten,

liebe Freunde der Hochschule für Jüdische Studien,

ich möchte mich zuerst einmal bei Professor Korn für die Einladung und für das herzliche Willkommen bedanken, auch bei Ihnen, Herr Professor Bodenheimer, und natürlich auch dafür, dass wir in den Genuss kommen, hier in dieser wunderbaren Aula der Heidelberger Universität diese Veranstaltung zu absolvieren, und dass ich mich davon überzeugen kann, dass Sie eine gute Gemeinsamkeit haben, die ja so wichtig, glaube ich, für beide Institutionen ist.

Ich darf Sie, Herr Professor Hommelhoff, beruhigen oder Ihnen zumindest in aller Klarheit sagen: Für den Ruhm der physikalisch-chemischen Branche Ihrer Universität kann ich nichts tun. Die Kenntnisse in solchen Fachgebieten veralten schnell. Aber ich werde die Universität selbstverständlich in guter Erinnerung behalten. Damit will ich aber nicht sagen, dass ich nie mehr wiederkomme. Aber bitte setzen Sie keine falschen Hoffnungen in mich.

Es ist mir eine Freude und Ehre, in der ältesten Universität Deutschlands zu sprechen. Die Universitätsstadt Heidelberg ist das, was man mit dem Wort "ehrwürdig" verbindet. Der ehrwürdige Ort der Wissenschaft ist auch dadurch gekennzeichnet, dass von Anfang an Religion und Kultur prägend waren. Die Professoren dieser Universität haben den Heidelberger Katechismus verfasst. Sie beeinflussten damit den Humanismus ganz maßgeblich. Und so glaube ich, dass gerade das Thema Toleranz, über das wir heute gemeinsam nachdenken wollen, eines ist, das an diesem Ort in ganz besonderer Weise Gewicht hat.

Ich komme heute auf dieses Thema zurück, weil ich mich mit dem Thema auch intensiv während der Vorbereitung auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beschäftigt habe. Damals habe ich mich gefragt: Was macht eigentlich das Große, das Einzigartige, den Kern dessen aus, was Europa ist? Was hält Europa im Innersten zusammen? Ganz ohne Zweifel: Wenn wir diese Frage stellen, dann denken wir sicher zuerst an die Vielfalt, die Europa prägt. Es ist ja auch so: Die Unterschiede zwischen unseren Nationen, zwischen den Regionen Europas, die Vielfalt der Sprachen, Mentalitäten und Religionen, all das macht Europa aus. Europa, so kann man sagen, lebt von seiner Vielfalt.

Die Voraussetzung, dass diese Vielfalt gelebt werden kann, ist die Freiheit, und zwar die Freiheit in all ihren Ausprägungen. Dazu gehört die Freiheit, die eigene Meinung öffentlich zu sagen, auch wenn dies andere stört, die Freiheit, zu glauben, die Freiheit des unternehmerischen Handelns oder die Freiheit des Künstlers, sein Werk nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Diese Freiheit brauchen wir wie die Luft zum Atmen. Wo sie eingeschränkt wird, da verkümmern wir. Diese Freiheit das wissen wir ist nicht selbstverständlich. Sie ist nicht losgelöst, sie ist nicht bindungslos. Sie ist untrennbar mit Verantwortung verbunden.

Wenn wir in diesem Sinne von Freiheit sprechen, dann sprechen wir tatsächlich immer auch von der Freiheit des anderen. Oder wir können es mit den berühmten Worten Voltaires sagen: "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst." Meine Damen und Herren, ich finde, mit diesem Satz zeigt Voltaire das, was Europa ausmacht. Das ist für mich der Umgang mit unserer Vielfalt.

Dieser Umgang mit unserer Vielfalt führt uns dann auch zu unserem Thema des heutigen Tages, dieser Diskussion hier. Denn die Eigenschaft, die uns zu diesem Umgang mit Vielfalt befähigt, die uns zur Freiheit in Verantwortung befähigt, ist die Toleranz. Deshalb bin ich bei den Vorbereitungen auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft seinerzeit zu dem Ergebnis gekommen: Das, was Europa ausmacht, was seine Seele ist, um es wie Jacques Delors zu sagen, ist die Toleranz.

Sie brauchen keine Sorge zu haben, meine Damen und Herren, ich will jetzt hier keine Sonntagsrede halten. Wir alle kennen im Übrigen nur zu gut die Geschichte Europas, die Geschichte der letzten Jahrhunderte bis hin zur jüngsten Vergangenheit. Um zu verstehen, was die Bedeutung der Toleranz ausmacht, haben wir in Europa unzählige Katastrophen durchlitten. Wir haben uns gegenseitig verfolgt und vernichtet, wir haben unsere Heimat verwüstet. Die schlimmste Periode von Hass, Verwüstung und Vernichtung also der im deutschen Namen begangene Zivilisationsbruch der Schoah liegt noch kein Menschenleben hinter uns.

Wahr ist also: Die jahrhundertelange Geschichte Europas berechtigt Europa wahrlich nicht zum Hochmut nicht zum Hochmut gegenüber den Menschen und Regionen auf der Erde, die sich heute mit dem Umgang mit Toleranz schwer tun. Aber wahr ist auch: Diese jahrhundertelange Geschichte Europas verpflichtet uns dazu, überall in Europa und auf der ganzen Welt Toleranz zu fördern und allen zu helfen, Toleranz zu üben.

Räumen wir gleich zu Beginn mit einem Missverständnis auf: Toleranz, so wie wir sie verstehen, hat nichts mit Beliebigkeit und Standpunktlosigkeit zu tun. Toleranz ist vielmehr äußerst anspruchsvoll. Sie wird ständig herausgefordert. Wir dürfen niemals auch nur das geringste Verständnis für Intoleranz haben. Die Toleranz zerstört sich selbst, wenn sie sich nicht vor Intoleranz schützt. Oder mit den Worten Thomas Manns gesagt: "Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt."

Es muss also klar sein, wo Toleranz endet und wo intolerantes Verhalten beginnt. Dieses intolerante Verhalten darf unter keinen Umständen geduldet werden weder bei Gewalt und Extremismus noch bei Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus. Bei all dem darf es keine Indifferenz und keine Toleranz geben. Hier muss unmissverständlich klar sein: Derartiges Verhalten wird geächtet und bekämpft. Dabei dürfen wir es nicht nur mit Worten bewenden lassen. Diese Haltung muss auch in eine entsprechende Rechtsordnung gekleidet sein für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Sie muss in eine Rechtsordnung gekleidet sein, die auf der einen Seite Intoleranz maßregelt und auf der anderen Seite Toleranz gewährt und fördert.

In diesem Zusammenhang gilt ein grundlegendes Prinzip, ein Prinzip der allgemeinen Menschenrechte: Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat oder Herkunft, wegen seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden. Wir dürfen niemals darin nachlassen, für dieses grundlegende Prinzip einzutreten und zu kämpfen. Es ist auch die Basis der Nichtdiskriminierung auf der Grundlage der Religion.

Und doch wissen wir: Ungeachtet unseres funktionierenden Rechtsrahmens geschehen Verbrechen. Intoleranz existiert, sie existiert in unserer Gesellschaft. Dagegen brauchen wir auch in Zukunft klare und eindeutige politische Ziele Zielsetzungen, wie sie etwa 2004 in der "Berliner Erklärung" der OSZE-Konferenz gegen Antisemitismus niedergelegt wurden. Dort heißt es unter anderem: "Die OSZE-Staaten verpflichten sich dazu, die Bemühungen zu verstärken, Antisemitismus in allen seinen Erscheinungsformen zu bekämpfen und Toleranz und Nichtdiskriminierung zu fördern und zu stärken." Ich sage für die Bundesregierung: Wir stehen zu dieser Verantwortung. Sie geht uns alle an und sie ist unverbrüchlich.

Meine Damen und Herren, Sie alle kennen Lessings berühmte Ringparabel. In ihr erzählt Nathan der Weise vom Streit dreier Brüder. Bei diesem Streit geht es darum, wer der wahre Erbe des väterlichen Rings und damit der religiösen Wahrheit ist. Dieses Erbe lässt sich nur durch gute Taten zeigen. Darin sollen sich die Brüder übertreffen. Für mich ist die schönste Stelle des Stückes ein Wunsch des Sultans an Nathan. Über alle trennenden Glaubensgrenzen hinweg bittet der Moslem den Juden: "Sei mein Freund." In diesem Satz, so finde ich, begegnet uns in wunderbarer Weise der Geist der Toleranz. Er begegnet uns darin, dass wir im friedlichen Miteinander und im Füreinander nach dem Besten suchen.

Gelingen kann das das ist meine Überzeugung, wenn wir die Fähigkeit haben, auch mit den Augen des anderen zu sehen und zu denken. Es gibt für mich kaum etwas Spannenderes, als mit den Augen des anderen, mit den Augen der vielen Völker und Kulturen unseres Kontinents die Vielfalt unseres Lebens zu entdecken die Vielfalt unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen, Weltsichten, konkurrierender Wahrheitsansprüche. Wenn sie aufeinandertreffen, dann kommt die Toleranz ins Spiel, dann muss sie sich beweisen. Denn zwischen verschiedenen Religionen und Weltanschauungen, Meinungen und Interessen müssen wir stets aufs Neue einen Ausgleich herstellen, und zwar durch Dialog und demokratische Willensbildung.

Dieser Ausgleich das kennen wir alle ist mitunter mühsam und langwierig. Ich weiß im Übrigen, wovon ich rede. Oft scheinen sich Positionen unversöhnlich gegenüberzustehen, doch es kann kein Zweifel bestehen: Wir sind auf einen friedlichen Interessenausgleich angewiesen. Gerade angesichts der Komplexität unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens ist dies unverzichtbar.

Stellen wir uns also genau dieser Aufgabe und lassen wir uns dabei vom Umgang mit unserer Vielfalt, den Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten leiten. Lassen wir uns dabei also vom Geist der Toleranz leiten. Denn die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen, vor denen wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen, sind wahrlich groß und sie sind sehr konkret.

Wir erleben die Spannungen zwischen Moderne und Fundamentalismus. Wir erleben Gewalt im Namen von Religion. Ohne Zweifel: Unsere Freiheit ist auf neue Art bedroht. Schauen wir zum Beispiel nur auf die Bedrohung durch den Iran, dessen Präsident den Staat Israel auslöschen will und den Holocaust leugnet. Falsch verstandene Toleranz wäre hier nichts anderes als Beliebigkeit. Dieser Bedrohung kann nur mit Entschlossenheit und Geschlossenheit der internationalen Staatengemeinschaft begegnet werden.

Wir sehen auch die Gefährdung, der unsere Umwelt ausgesetzt ist. Wir wissen um die Anforderungen der Wissensgesellschaft. Wir wissen um die Notwendigkeiten, die sich aus dem demographischen Wandel ergeben. Wir alle spüren die weitreichenden Konsequenzen dessen, was wir Globalisierung nennen. Die Globalisierung ist in den Augen vieler Menschen eindeutig mit mehr Risiken als mit mehr Chancen verbunden, denn sie konfrontiert sie mit Unbekanntem, mit Fremdem und sie erschüttert Gewissheiten. Ich sehe sehr viele Chancen, denn für mich ist die Globalisierung auch ein Schlüssel zur Zukunft und übrigens auch zur Toleranz, weil sie eine weltweite Öffnung politischer, wirtschaftlicher und kommunikativer Grenzen mit sich bringt. Sie verstärkt Mobilität und Vernetzung ebenso wie den Wettbewerb. Sie verändert die Verteilung von Armut und Reichtum zwischen Ländern und innerhalb von Ländern. Sie schärft das Bewusstsein, in einer gemeinsamen Welt zu leben.

Meine Damen und Herren, ich bin zutiefst davon überzeugt: Globalisierung ist keine Naturgewalt, sie ist eine von Menschen gemachte Entwicklung, die wir gestalten müssen, die wir auch gestalten können. Die Alternative wäre Isolation. Und das ist keine menschlich verantwortbare Alternative.

Also arbeiten wir daran, die Globalisierung zu gestalten, zum Beispiel indem wir uns für die Erhaltung und Entwicklung unseres europäischen Sozialmodells einsetzen. Damit sichern wir uns Wohlstand, Wachstum, Beschäftigung und soziale Sicherheit. Aber natürlich stehen wir dabei vor einer großen Herausforderung: Waren am Anfang des 20. Jahrhunderts noch 25Prozent der Menschen auf der ganzen Welt Europäer, das heißt also jeder Vierte, so werden es am Ende des 21. Jahrhunderts nur noch 7Prozent sein; das heißt, nur einer von 14 wird Europäer sein. Wir müssen also viel Überzeugungskraft aufbringen, um weltweit Menschen davon zu überzeugen, dass unsere Art zu leben die Art ist, in der Freiheit, auch die Freiheit des anderen, am besten geschützt ist.

Wir müssen Globalisierung gestalten. Deshalb war es auch so wichtig, dass die Europäische Union jetzt die Selbstbeschäftigung überwinden konnte, sich einen Handlungsrahmen geben konnte und sich nunmehr wieder den Problemen widmen konnte, die uns alle angehen. Damit sind wir wieder in die Lage versetzt, geschlossen und entschlossen zu agieren in der Klimapolitik, in der Energiepolitik, in der transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft und in der Bekämpfung von Kriegen und Auseinandersetzungen.

Wir brauchen den Abbau von Handelsbarrieren und unnötiger Bürokratie, wir brauchen Patentrecht, Schutz des geistigen Eigentums, wir brauchen Wettbewerbsfähigkeit. All das ich kann es hier nur kurz anschneiden gehört dazu, Globalisierung zu gestalten. Gleichzeitig dürfen wir Fragen wie die Freiheit der Medien nicht ausklammern. Das Miteinander von Religionen und Kulturen im Geist der Toleranz zu gestalten, bedarf unverzichtbar der Freiheit des Wortes. Sie ist das Lebenselixier einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung.

Meine Damen und Herren, der Toleranzgedanke hat eine lange Geschichte. Der Begriff der Toleranz taucht im 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Konfessionsspaltung und den blutigen Religionskriegen in der Folge der Reformation auf. Friedliche Koexistenz sollte durch Toleranzedikte weltlicher Herrscher gewährleistet werden. Die Forderung nach Toleranz war in jener Zeit die Forderung an einen Souverän, etwas zu erlauben, was er nicht zu garantieren vermochte. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang folgendes Zitat von Montesquieu: "Sobald sich die Gesetze eines Landes mit der Zulassung mehrerer Religionen abgefunden haben, müssen sie diese untereinander zur Toleranz verpflichten. Daher ist es zweckmäßig, dass die Gesetze von unterschiedlichen Religionen nicht nur fordern, dass sie den Staat nicht beunruhigen, sondern auch, dass sie untereinander Ruhe halten."

Der Gedanke der Verpflichtung des Staates zur Toleranz entstand also aus der Rivalität großer Konfessionen. Der Westfälische Friede beschritt den Weg der Duldung der Andersgläubigen durch die Obrigkeit. Das war ein Weg, der mit dem Begriff "Gewissensfreiheit" belegt wurde. Es sind diese historischen Wurzeln, aus denen sich dann die moderne Toleranzidee entwickelt hat. Sie wurde befördert durch die Aufklärung in Form von Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit. Am Anfang stand also die Duldung. Ein eigenständiges Grundrecht, eingebettet in einen Kanon von Menschenrechten, entwickelte sich dann schrittweise daraus. Heute besteht unser Verständnis von Religionsfreiheit aus Achtung der Religion bzw. des Gläubigen als Träger dieses Grundrechts.

Ich bin sehr froh, dass der Begriff der Toleranz nun auch Teil der Grundrechtecharta im neuen EU-Reformvertrag ist. Toleranz betrifft das Regierungshandeln ebenso wie die Bildungseinrichtungen, die Medien, die Wirtschaft und die gesamte Zivilgesellschaft. Sie wird Tag für Tag in Vereinen und Verbänden vorgelebt. Wir brauchen also so etwas wie eine Bildung in Toleranz. Damit meine ich das Einüben und Wissen um andere Ansichten, Weltanschauungen und Religionen. Wir brauchen eine stärkere interkulturelle Öffnung und Vernetzung in Staat und Gesellschaft. Das ist ein guter Weg, zum Beispiel auch in der Integrationspolitik.

Gleichzeitig wissen wir: Toleranz so zu vermitteln, löst gelegentlich die Sorge aus, dass es dabei um Gleichmacherei, um eine Relativierung des Religiösen oder gar um Zurückdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Raum gehe. Ich sage hier ganz klar: Darum geht es nicht. Unser in Deutschland breit verstandenes und akzeptiertes Konzept der Religionsfreiheit steht nicht zur Disposition genauso wenig das damit verbundene historisch gewachsene Verhältnis zwischen Staat und Kirche sowie den Religionsgemeinschaften. Die Eigenständigkeit der Religionsgemeinschaften ist ein hohes Gut. Aus ihr folgt gleichzeitig Mitverantwortung der Religionen für das Gemeinwohl. Umgekehrt stellt uns das vor die Aufgabe, der existierenden Vielfalt der Religionen den notwendigen Raum zu geben. Sie ist für ein gedeihliches Miteinander erforderlich.

Religionsfreiheit besteht für alle Religionen in Deutschland. Anders als zu Zeiten Lessings haben wir heute in Deutschland und Europa die richtigen Rahmenbedingungen, um die drängenden Fragen einer religiösen Integration zu lösen. Wir haben rechtsstaatliche Ordnungen, die die Religionsfreiheit nicht nur gewähren, sie fördern sie auch in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Dazu gehören auch die Trennung von Staat und Kirche und die weltanschauliche Neutralität des Staates. Damit wird anerkannt, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Der Staat erkennt die Autonomie der Religionen an, einschließlich ihrer sinnstiftenden Rolle. Er beurteilt Religionen nicht nach ihren Glaubensinhalten. Eine Bewertung etwa konkurrierender Wahrheitsansprüche der monotheistischen Religionen ist dem Staat verwehrt. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass heute in Deutschland ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Kirchen und Staat und zwischen den Religionsgemeinschaften gelebt werden kann.

Dieses partnerschaftliche Verhältnis lebt aus der Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen, in die Gefahr einer Ideologisierung von Politik. Kaum etwas vermag für mich die Grenze politischer Allzuständigkeit schöner zu markieren als die Präambel unseres Grundgesetzes. Denn sie lässt transzendenten Ausrichtungen und unterschiedlichen Gottesbildern Raum. So gibt also unser Verhältnis zwischen Staat und Kirchen den Religionen breiten Spielraum zur Entfaltung und zum öffentlichen Wirken. Aber das ist keine Einbahnstraße, denn es erfordert von den Religionen ihrerseits das Bekenntnis, keinen weltlichen Gestaltungsanspruch anzustreben und die politische Ordnung ohne Einschränkungen zu respektieren.

Kurzum: Religionsfreiheit bedeutet nicht mehr und nicht weniger als das Recht auf die eigene Glaubenspraxis. Hierzu gehört auch die religiöse Unterweisung in der staatlichen Schule, wenn die Glaubensgemeinschaft eine relevante Größe hat und dies wünscht. Ich begrüße daher ausdrücklich die intensiven Bemühungen der Länder, neben dem etablierten christlichen und jüdischen auch islamischen Religionsunterricht in deutscher Sprache einzurichten. Die Ausbildung entsprechender Lehrer sowie Geistlicher gehört für mich ebenso dazu.

Religion als handlungsleitende und lebensorientierende Größe ist für viele Menschen von großer Bedeutung. Für ein gedeihliches und friedliches Miteinander in einer gelebten Vielfalt ist für mich deshalb entscheidend: Die unterschiedlichen Kulturen und Religionen müssen Raum haben, sich zu entwickeln und sich einander zu begegnen. Es ist entscheidend, dass es Foren gibt, die dazu beitragen, Vorurteile abzubauen, Unterschiede anzuerkennen und Wertschätzungen zu entwickeln. Aus Sicht der Bundesregierung genießt der Dialog der Religionen und Kulturen deshalb große Aufmerksamkeit in der Innen- genauso wie in unserer Außenpolitik.

Dies kann und will natürlich nicht den originären Dialog zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften ersetzen. In diesem Gespräch zwischen den Religionen muss es nach meiner Überzeugung gerade auch um die Toleranzfähigkeit der Religionen gehen. Hierbei ist das Ziel nicht Toleranz um der Toleranz willen. Das Ziel ist vielmehr ein Miteinander der Religionen im Geiste der Toleranz.

Hinzu sollte aber deshalb auch die Verantwortung kommen, sich kritisch mit den Quellen von Fundamentalismus in jeder Glaubensgemeinschaft auseinander zu setzen. Sicher wird dafür auch das Jahr des interkulturellen Dialogs 2008 der Europäischen Union Begegnungen in vielen Formen ermöglichen. All diese Initiativen können einen Beitrag für gelebte Toleranz leisten.

Ernsthafter Dialog braucht einen eigenen Standpunkt und die Bereitschaft, auf allen Seiten Geduld und langen Atem aufzubringen. Das beschreibt auch der Philosoph und Theologe Jonathan Sacks, Oberrabbiner der United Hebrew Congregations of the Commonwealth in seinem Buch "Wie wir den Krieg der Kulturen noch vermeiden können". Darin appelliert er an uns alle, die Kunst des Gesprächs zu lernen eines Gesprächs, in dem wir unsere eigene Weltsicht durch die Anwesenheit anderer erweitern lassen, die anders denken, handeln und die Wahrheit anders deuten als wir. Denn, so sagt der Oberrabbiner,"es gibt viele Kulturen, Zivilisationen und Religionen, aber Gott hat uns nur eine einzige Welt gegeben, in der wir miteinander leben sollen und sie wird immer kleiner." Wir sind also auf Gedeih oder Verderbwobei mir das Erste lieber ist aufeinander angewiesen.

Meine Damen und Herren, der amerikanische Wissenschaftler Richard Florida hat untersucht, unter welchen Bedingungen sich Regionen der Welt am erfolgreichsten entwickeln. Er ist dabei auf drei Faktoren gestoßen: auf Technologie, Talente und Toleranz. Er macht deutlich, dass es nur dann gelingt, in Zukunftsfeldern nachhaltig zu wachsen, wenn alle drei Faktoren zusammenkommen Technologie, Talente und Toleranz. Was für eine gute Nachricht für uns. Was für eine gute Maxime für unser Handeln. Wir leben von Technologie, von Talenten und von Toleranz. Wir leben von der Innovation, wir leben vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt, vom wirtschaftlichen Fortschritt und vom sozialen Fortschritt.

Wir leben das lässt sich in der ältesten Universität Deutschlands gut sagen immer wieder von der Neugier. Dafür haben wir Europäer eine großartige Erfindung gemacht: Die Universitäten, wie zum Beispiel auch diese Hochschule hier. Die Universität ist der Ort der freien Entfaltung der Neugier. Die Voraussetzung dafür, dass das möglich ist, ist natürlich Toleranz. Denn nur wer seine eigene Meinung nicht für absolut überlegen hält, der kann Interesse daran haben, den Standpunkt des anderen kennen zu lernen. Nur wer dem anderen kluge Gedanken, eine moralische Haltung und verantwortungsbewusstes Handeln zugesteht, der ist auch bereit, vom anderen zu lernen. Dabei kann er gewinnen, das führt zu neuer Erkenntnis zu neuer Erkenntnis für kulturelle Schöpfungen, für politische Konzepte, für geistige Ideen. Deshalb ermuntere ich uns, dass wir im Geiste der Toleranz unsere Neugier erhalten, weil wir daran glauben, dass die Welt um uns herum auch im 21. Jahrhundert gestaltbar ist.

Meine Damen und Herren, die Hochschule für Jüdische Studien ist gerade vor diesem Hintergrund ein großartiger Ort des akademischen Lernens und des akademischen Forschens. Dieser Ort steht jüdischen wie nichtjüdischen Studentinnen und Studenten offen. Wohl nirgends in Europa können Studierende das Fach Jüdische Studien in vergleichbarer Breite studieren. Wer sich vertieft mit dem Judentum beschäftigten will, mit jüdischer Geschichte, dem Talmud, der Philosophie und Religionspädagogik bis hin zu jüdischer Literatur und Kunst, der wird hier den geeigneten Ort zum intensiven Studium finden.

Die jüdische Gemeinschaft braucht Orte wie diese Hochschule. Mehr noch: Unsere Gesellschaft insgesamt braucht Orte wie diese Hochschule, und zwar für die Bildung von Identität, für die Vermittlung und Weitergabe von Wissen und für die Forschung. Die jüdische Hochschule ist ein unverzichtbarer Standort für ein wachsendes Judentum in Deutschland. Sie ist vernetzt mit wichtigen internationalen Standorten jüdischen akademischen Lebens. Die Studierenden kommen aus vielen Ländern der Welt. Sie leben Weltoffenheit und Toleranz beispielhaft vor.

Ich weiß, diese Schule hat gute Freunde und sie hat große Pläne für die Zukunft. Dazu wünsche ich ihr, den Lehrenden und Studierenden, den Partnern und Freunden allen Erfolg und sage: Auch die Bundesregierung möchte ein Freund dieser Hochschule sein.

Herzlichen Dank.