Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 25.05.2000

Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/49/10549/multi.htm


der 11. Deutsche Jugendhilfetag hat sich ein anspruchsvolles Motto gegeben:

Leben gestalten

Zukunft fordern

Innovation wagen. Sie treffen mit diesem Motto das Lebensgefühl der jungen Menschen in unserem Land:

Jugendliche erwarten von Erwachsenen Unterstützung. Sie erwarten, dass man sie bei der Realisierung ihrer Lebensziele nicht alleine lässt. Aber sie erwarten auch, dass Ihnen Perspektiven eröffnet werden, dass sie Chancen für die Zukunft ergreifen und nutzen können. Dafür sind sie bereit, auch innovative Wege zu gehen.

Das Motto beschreibt auch zutreffend die Politik der Bundesregierung:

Wir schaffen mit unserer Politik neue Gestaltungsmöglichkeiten und eröffnen Zukunftsperspektiven. In nur 16 Monaten haben wir viel erreicht. Es gibt in Deutschland einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung, der alle Branchen erfasst hat und der Export und Binnenmarkt gleichermaßen belebt.

Der Erfolg ist nicht von selbst gekommen, sondern wir haben gehandelt:

Erstens: Die Bundesregierung hat die Steuerreform auf den Weg gebracht und zu großen Teilen bereits durchgesetzt. In der Steuerpolitik geht es darum, dass die breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung in unserem Land und die Familien wieder mehr von ihrem Verdienst übrig haben. Und es geht darum, bessere und verlässlichere Bedingungen für die Unternehmen in Deutschland zu schaffen, damit sie hier in Arbeitsplätze investieren. Genau dies, die Verknüpfung von Angebots- und Nachfragepolitik, haben wir mit unserer Steuerpolitik geleistet. Die Reaktionen von Wirtschaft und Konsumenten zeigen uns, dass unser Weg richtig ist.

Ich sage daher an die Adresse derjenigen, die die Steuerreform blockieren wollen: Wer diese Steuerreform blockiert, blockiert den weiteren Aufschwung, der verhindert den weiteren Abbau der Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt: der zerstört die Zukunftschancen vieler junger Menschen in unserem Land.

Zweitens: Wir machen Ernst mit der Haushaltskonsolidierung. 1,5 Billionen DM Schulden, 82 Milliarden DM Zinszahlungen im Jahr sind nicht länger hinnehmbar.

Niemand bestreitet, dass Sparen oft schmerzhaft ist. Aber angesichts der gigantischen Zinsbelastung gibt es zu der konsequenten Politik der Konsolidierung keine vernünftige Alternative. Denn nur dadurch verschaffen wir uns überhaupt erst wieder Handlungsspielräume. Und nicht zu vergessen: Wir wollen und wir dürfen nicht länger auf Kosten künftiger Generationen wirtschaften und leben.

Drittens: Wir haben das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit ins Leben gerufen und dort schon viel erreicht. Dieses Bündnis ist zu einem Markenzeichen der Regierung geworden und ein Glücksfall für unser Land.

Die Ergebnisse der diesjährigen Tarifrunde, die den Aufschwung und den Abbau der Arbeitslosigkeit unterstützen, wären ohne das Bündnis kaum möglich geworden.

Wir haben im Bündnis einen Ausbildungskonsens hergestellt, damit alle Jugendlichen, die fähig und willens sind, eine Ausbildung zu machen, auch einen Ausbildungsplatz erhalten.

Meine Damen und Herren,

unsere Politik trägt erste Früchte. Zweifel sind nicht erlaubt: Der Aufschwung hat alle Bereiche der Wirtschaft erfasst und gewinnt weiter an Dynamik.

Das Wichtigste dabei ist: Der Aufschwung hat inzwischen den Arbeitsmarkt erreicht. Im April war die Zahl der Arbeitslosen gegenüber dem Vorjahr um 159.000 zurückgegangen. Sie lag damit unter der 4-Millionen-Grenze.

Genauso wichtig: Nach den Prognosen der wirtschaftlichen Institute bestehen gute Chancen, dass es Ende der Legislaturperiode weniger als 3,5 Millionen Arbeitslose sein werden.

Besonders erfreulich ist für mich der Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit. Von 1998 auf 1999 sank sie um 9 Prozent. Verglichen mit dem Rückgang der allgemeinen Arbeitslosigkeit konnte die Jugendarbeitslosigkeit um mehr als das Doppelte verringert werden. Das ist ein zentraler Erfolg dieser Bundesregierung.

Meine Damen und Herren,

diesen Erfolg konnte es nur geben, weil wir entschlossen gehandelt haben. Unmittelbar nach Übernahme der Regierung haben wir 1998 schnell und unbürokratisch das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt.

1999 haben bis zum Jahresende rund 179.000 Jugendliche an Maßnahmen des Sofortprogramms teilgenommen. Mehr als vier Fünftel von ihnen waren vorher arbeitslos, davon viele schon länger als ein halbes Jahr. Ihnen hatte bis dahin niemand eine Chance gegeben.

Und in diesem Jahr werden erneut 2 Milliarden Mark bereitgestellt. Denn der Erfolg zeigt: Wir sind auf dem richtigen Weg. Bereits im vergangenen Jahr hat das Sofortprogramm bewirkt, dass die Jugendarbeitslosigkeit um über 40.000 gesunken ist. Zugleich sank die Zahl der unversorgten Lehrstellenbewerber.

Wir werden diese Politik konsequent fortsetzen. Vor allen Dingen im Osten unseres Landes. Hier gibt es im Vergleich zu den alten Bundesländern insbesondere im Mittelstand weniger Betriebe. Deshalb gibt es auch weniger betriebliche Ausbildungsplätze.

Die Bundesregierung hat dieser besonderen Situation Rechnung getragen: 40 Prozent der Mittel aus dem Sofortprogramm setzen wir in den ostdeutschen Bundesländern ein. Zusätzlich werden dort 17.500 weitere Ausbildungsplätze durch das Ausbildungsplatzprogramm Ost finanziert.

Ich will erreichen, dass die Jugendlichen in den neuen Bundesländern auch eine Perspektive im eigenen Land, in der eigenen Region bekommen.

Meine Damen und Herren,

dieser Erfolg wird ganz wesentlich auch von den jungen Menschen selbst getragen. Die Jugendlichen in unserem Land sind doch in ihrer großen Mehrheit bereit, sich anzustrengen, Leistung zu erbringen und sich ernsthaft auf die Zukunft vorzubereiten - ganz besonders übrigens die jungen Frauen in den neuen Bundesländern, wie die jüngste Shell-Jugendstudie herausgefunden hat. Im Übrigen habe ich den Eindruck, dass dieser Leistungswille bei jungen Menschen immer vorhanden war, allen plakativen Charakterisierungen wie "Null-Bock" - oder "Spaß" -Generation zum Trotz.

Meine Damen und Herren,

diejenigen, die heute einen Ausbildungs- oder Studienplatz brauchen, müssen auch heute eine Chance bekommen.

Wer heute nichts tut, darf sich auch nicht über Probleme von morgen wundern: über Fachkräftemangel in einzelnen Branchen, über Abwendung von der Politik oder gar über Jugendkriminalität.

Die Ausbildung der Jugend ist darum die wichtigste und beste Investition in die Zukunft unseres Landes. Arbeit und Qualifizierung sind von herausragender Bedeutung für die Verteilung individueller Chancen. Kinder und Jugendliche wissen darum. Insbesondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit spüren sie, welche Bedeutung ihre berufliche Zukunft für ihr Leben hat. Und sie engagieren sich entsprechend.

Meine Damen und Herren,

die meisten Schulabgängerinnen und Schulabgänger eines jeden Jahrgangs streben eine betriebliche Ausbildung an. Dies ist ein großer Vertrauensbeweis für unser duales Ausbildungssystem. Gleichzeitig ist es Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen.

Im Bündnis für Arbeit haben wir daher einen Schwerpunkt auf die Aus- und Weiterbildung gesetzt. Mit den Verabredungen dort ist es uns gelungen, die Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft zu stärken.

Die Bundesregierung setzt aber nicht nur auf andere, sondern geht mit gutem Beispiel voran:

Der Bund selbst - also Ministerien und Bundeseinrichtungen - hat sein Ausbildungsangebot im laufenden Ausbildungsjahr um rund 12 Prozent erhöht.

Aber, meine Damen und Herren,

die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen ist nur die eine Seite der Medaille.

Ich erzähle Ihnen nichts Neues, wenn ich von der Notwendigkeit spreche, Berufsbilder ständig an neue Anforderungen anzupassen: für den Erhalt der hohen Qualität unserer dualen Berufsausbildung und somit zum Nutzen der Auszubildenden und Betriebe. Allein im Jahr 1999 sind deshalb 30 neue Ausbildungsordnungen in Kraft getreten.

Damit haben wir auf die gegenwärtigen und zukünftigen Veränderungen in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft reagiert. Die Anpassung bestehender Berufsbilder an moderner Erfordernisse ist das Eine. Ebenso wichtig ist die Schaffung völlig neuer Berufsbilder, um die Herausforderungen in unserer Wirtschafts- und Arbeitswelt erfolgreich zu meistern.

Ein Beispiel dafür ist der Beruf des Informationselektronikers. Ein Beruf, der in der Entwicklung hin zur Informationsgesellschaft entstanden ist. Er ist Ausdruck flexibler Anpassung der Arbeitsorganisation und der Arbeitsverfahren an neue Bedingungen. Die IT- und Medienbranche ist der Wachstumsbereich der Zukunft. Ich freue mich deshalb besonders über die Ausbildungsbilanz in diesem Bereich.

Es ist gelungen, die vorhandenen Ausbildungsstellen von 14.000 im Frühjahr 1999 auf 30.000 Ende 1999 zu erhöhen. Die Wirtschaft hat darüber hinaus zugesagt, insgesamt 60.000 Ausbildungsstellen bis zum Jahr 2003 zu schaffen.

Ein solcher Erfolg ist ohne die neuen IT-Berufe und ohne die vorübergehende Anwerbung von IT-Fachkräften aus dem Ausland nicht denkbar. Ich denke, dass gerade auch die Unternehmen hier in Bayern davon profitieren.

Meine Damen und Herren,

gerade Sie wissen, dass es junge Menschen gibt, die trotz aller Anstrengungen aufgrund ihrer persönlichen Probleme unterschiedlichster Art durch die genannten Maßnahmen nicht erreicht werden. Auch denen müssen wir Zukunftschancen bieten.

Die Bundesregierung tut das. Bundesjugendministerin Christine Bergmann hat das Programm "Entwicklung und Chancen" aufgelegt. Wir gehen damit neue Wege zur Qualifizierung dieser Jugendlichen.

Der Bund kann hier nur Modelle fördern, aber diese Anstoßfunktion ist wichtig, auch für die Weiterentwicklung Ihrer Arbeit.

Meine Damen und Herren,

wir wollen auch, dass wieder mehr Kinder aus einkommensschwachen Familien studieren können. Das ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, Begabungen ungenutzt zu lassen. Deshalb soll jeder junge Mensch, der zu einem Studium willens und fähig ist, die Möglichkeit dazu haben und dies unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.

Das ist für mich auch ein persönliches Anliegen, denn es hat auch etwas mit meinen eigenen Erfahrungen zu tun. Wir werden deshalb das BAföG erhöhen und im Bundeshaushalt dafür zusätzlich 500 Millionen DM bereitstellen.

Meine Damen und Herren,

auch in Europa muss der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit mit aller Entschiedenheit geführt werden. Deshalb hat die Bundesregierung in ihrer Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 dem Europäischen Rat das Memorandum "Jugend und Europa: Unsere Zukunft" vorgelegt.

Es wurde von den europäischen Staats- und Regierungschefs im letzten Jahr in Köln beschlossen. Jeder Jugendliche ohne Ausbildung oder Arbeit ist eine verlorene Chance - für unser Land und für Europa. Deshalb hat die Bundesregierung vor einem Jahr in Köln die Initiative ergriffen.

Meine Damen und Herren,

eine moderne Gesellschaft braucht qualifizierte, motivierte und kreative junge Menschen. Wir wollen, dass Jugendliche die Verantwortung für ihre individuelle und berufliche Zukunft übernehmen. Darum wollen wir bestmögliche Lebens- und Entwicklungschancen für junge Menschen.

Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, wie sehr die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen berührt und beeinflusst werden durch die Veränderung von Familienstrukturen, die geringer werdende Bindung an Kirchen, Gewerkschaften und andere wertevermittelnde gesellschaftliche Gruppen, die hohe Arbeitslosigkeit und damit einhergehend die immer höher werdenden Qualifikationsanforderungen.

Hier muss Kinder- und Jugendhilfe ansetzen. Trotzdem darf sie nach meiner Auffassung nicht als bloße Reparaturwerkstatt begriffen werden. Die Förderung junger Menschen muss im Vordergrund stehen. Das sind wir dieser Generation schuldig. Daher habe ich auch gewisse Schwierigkeiten mit dem Begriff Kinder- und Jugendhilfe.

Ist es für die von mir genannten Ziele eigentlich noch zeitgemäß, nur von Hilfe zu sprechen?

Stellen wir damit nicht doch den Aspekt der Reparatur in den Vordergrund?

Passt dieser Begriff zum Ziel der Förderung?

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch:

Wir brauchen heute und in Zukunft in der Kinder- und Jugendarbeit natürlich auch Hilfe.

Aber wenn Sie, wenn wir "Leben gestalten" wollen, muss die Kinder- und Jugendarbeit in erster Linie initiativ, nicht reaktiv ausgerichtet sein. Ich weiß, dass dies vielerorts bereits so ist.

Wenn Kinder und Jugendliche zu Recht "Zukunft fordern", brauchen sie Förderung von Anfang an.

Deshalb müssen wir Familien stärken - was die Bundesregierung mit Steuererleichterungen, der Erhöhung des Kindergeldes und den vorgesehenen Verbesserungen bei Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub massiv tut. Und wir müssen unser Ausbildungssystem festigen, vom Kindergarten an.

Wenn wir, damit meine ich die Gesellschaft insgesamt, diese Ziele erreichen wollen, müssen wir auch "Innovation wagen". Dazu müssen alle, die in der Kinder- und Jugendarbeit engagiert sind, neue Kooperationsmodelle eingehen.

Wir können uns weder ein Nebeneinander noch Doppelarbeit leisten. Ganz besonders in Zeiten knapper Kassen müssen die Mittel so effizient wie möglich genutzt werden.

Meine Damen und Herren,

wer nach den Chancen von jungen Menschen fragt, der denkt unmittelbar an die Beteiligung und Teilhabe von Jugendlichen in der Gesellschaft von morgen.

Und da kann es keinen Zweifel geben:

Wir brauchen ein neues Verhältnis von Staat und Gesellschaft, eine neue Balance aus sozialer Sicherung und Eigenverantwortung.

Anders ausgedrückt: Wir brauchen neue Impulse für eine zivile Bürgergesellschaft.

Wir brauchen wieder mehr politisches, soziales und kulturelles Engagement. Denn nur wer Verantwortung für sich übernimmt, kann sie auch für andere tragen.

Teilhabe und Mitgestaltung sind Ausdruck eines demokratischen Gemeinwesens. Teilhabe und Mitgestaltung stärken die Identifikation, die den Einzelnen an die Werte und Ziele der Gesellschaft bindet. Das geschieht vielfach in Verbänden und Vereinen, die bei der Integration Jugendlicher eine unersetzbare Rolle spielen.

Wer früh lernt, sich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen, wer sich in jungen Jahren freiwillig engagiert, der erfährt, dass Gesellschaft gestaltbar ist und steht ihr nicht ohnmächtig oder gleichgültig gegenüber.

Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements und das von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Jahr der Freiwilligen 2001 werden sicher neue Anstöße geben für die Stärkung der Zivilgesellschaft.

Meine Damen und Herren,

ich weiß, dass sich viel Positives aus Ihrer Arbeit berichten lässt und dass sich in unserem Land sehr Viele in unterschiedlichster Weise für junge Menschen einsetzen. Aber auch Gutes kann man noch verbessern.

Der 11. Jugendhilfetag - seine Fachveranstaltungen ebenso wie der Markt der Jugendhilfe - bieten hervorragende Gelegenheiten, Ideen auszutauschen, Modelle kennen zu lernen, Kontakte zu knüpfen.

In diesem Sinn wünsche ich diesem Jugendhilfetage einen guten, einen erfolgreichen Verlauf.