Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 24.05.2000

Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Jens Stoltenberg, sehr geehrter Herr Bürgermeister Per Ditlev-Simonsen, liebe Ruth Brandt, lieber Holger Börner als Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung, lieber Thorvald Stoltenberg als Vorsitzender der Deutsch-Norwegischen Willy-Brandt-Stiftung, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/31/10431/multi.htm


Es ist ein besonderer Augenblick, heute in diesem Saal zu Ihnen zu sprechen, in dem jedes Jahr der Friedensnobelpreis verliehen wird.

Mit dieser hohen Auszeichnung wurde 1971 Willy Brandt für seine "Ostpolitik" geehrt, mit der er die Versöhnung Deutschlands mit den Staaten und Völkern des damaligen Warschauer Paktes in Gang gesetzt und die Spannungen in Europa erheblich vermindert hat.

Die Folgen dieser "Ostpolitik" reichen bis heute. Darauf können wir Sozialdemokraten, darauf können alle Deutschen stolz sein. Wenn ich mich hier umsehe, fällt mein Blick auf das große Wandgemälde, das an die Nazi-Barbarei erinnert.

Ja, wir können auf Willy Brandt auch stolz sein, weil er wie viele andere Sozialdemokraten der Nazi-Diktatur widerstanden hat, weil er ein Vertreter des "anderen Deutschlands", des "besseren Deutschlands", gewesen ist, das sich zu einem großen Teil nur in der Emigration hat entfalten können.

Und hier ist in besonderer Weise Norwegen zu danken, das vielen Flüchtlingen, wie auch Willy Brandt, Zuflucht vor der Nazi-Barbarei geboten hat. Die Exiljahre in Norwegen - wie auch in Schweden - waren, wie wir wissen, entscheidende Jahre für Willy Brandt. Hier lernte er die offene skandinavische Demokratie kennen und erfuhr wesentliche Prägungen, die Stil und Inhalt seiner Politik für die weitere Zukunft bestimmen sollten. Norwegen blieb aber für den vom Nazi-Regime ausgebürgerten Willy Brandt nicht nur ein Asylland oder ein Gastland. Norwegen wurde zu seinem zweiten Vaterland, dessen Volk er sich innerlich genauso verpflichtet fühlte wie dem eigenen.

Dass Willy Brandt als bekennender Patriot immer auch Europäer und Weltbürger war, hat hier vielleicht seinen biographisch entscheidenden Ursprung.

Für mich und für meine Generation war Willy Brandt ein faszinierender Mensch und ein beeindruckender Politiker. Wie ein anderer großer Sozialdemokrat, wie Friedrich Ebert, kam er aus kleinen, engen Verhältnissen und arbeitete sich mit Intelligenz, Einfühlungsvermögen und Tatkraft, trotz mancher Krisen und vieler Anfeindungen, hoch bis an die Spitze seines Landes und seiner Partei.

Wir Vertreter einer unruhigen Jugend stimmten keineswegs in allem mit seiner Politik überein, wir drängten bisweilen in vielem weiter, als er wollte. Und doch fühlte jeder von uns: Da war ein Mann, der in Partei und Regierung an der Spitze stand und doch bereit war, uns, die Jugend, ernst zu nehmen.

Das bedeutete für ihn nicht etwa politische Beliebigkeit - ganz im Gegenteil. Seine Lebenserfahrungen und seine Biographie hatten seine Überzeugung bestimmt:

dass über alle politischen Unterschiede der Demokraten hinweg der demokratische Rechtsstaat entschlossen verteidigt werden muss, dass Rassenhass und Intoleranz kompromisslos entgegenzutreten ist, dass unser Gemeinwesen das politische, soziale und kulturelle Engagement seiner Bürger braucht oder mit anderen Worten, dass eine "zivile Bürgergesellschaft" entwickelt werden muss, dass die Politik von Augenmaß und von Weitblick bestimmt sein muss. Was uns an Willy Brandt auch heute noch beeindruckt, war seine ungewöhnliche Fähigkeit, zunächst widersprüchlich Scheinendes in seiner Person zu vereinen:

Gestaltung aktueller Politik und Denken über den Tag hinaus, konkrete Sachpolitik und weitreichende Visionen, Patriotismus und Internationalismus, nationales Denken und Weltbürgertum. Willy Brandts Politik war im Kleinen und im Großen geprägt durch ein unbeirrbares Bemühen um Frieden, um Freiheit von Unterdrückung, Ausbeutung und Not, um Gerechtigkeit und um Solidarität zwischen den Menschen, Gruppen und Völkern.

Einen Wesenszug Willy Brandts, der mir persönlich besonders wichtig ist, möchte ich noch hervorheben: Es war seine Offenheit gegenüber neuen Denk- und Politikansätzen. Zugleich besaß Willy Brandt aber auch die Fähigkeit, der Sozialdemokratie in Deutschland und in der Internationale neue politische Horizonte zu weisen:

ein neues, verändertes Fortschrittsdenken, eine Bindung des ökonomisch Machbaren an das ökologisch zu Verantwortende sowie einen neuen Blick für die Verantwortung der Industrieländer gegenüber den Völkern der Dritten Welt. Tradition und Modernisierung gehören zusammen - das hat Willy Brandt häufig deutlich gemacht.

Er hat davor gewarnt, die Tradition zu einer Fessel werden zu lassen. Statt dessen ermahnte er kurz vor seinem Tode im September 1992 die Sozialistische Internationale sich darauf zu besinnen,"dass jede Zeit eigene Antworten will."

Und so muss es in der Tat sein: Modernisierung und Erneuerung auf der Basis der unvergänglichen Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität!

Meine Damen und Herren,

wenn wir heute engere Beziehungen zwischen Deutschland und Norwegen befördern wollen, so gibt es keinen idealeren Anknüpfungspunkt als Willy Brandt.

Kein anderer Politiker hat in der Nachkriegszeit so entscheidend zur Wiederherstellung des Vertrauens zwischen Norwegen und der neuen, demokratischen Bundesrepublik Deutschland beigetragen.

In Deutschland haben wir mit großem Interesse die Arbeit an der "Deutschland-Strategie" der norwegischen Regierung verfolgt, mit der Sie die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern einer umfassenden Bestandsaufnahme unterzogen und ein ehrgeiziges Programm für den weiteren Ausbau insbesondere der zwischengesellschaftlichen Zusammenarbeit entwickelt haben. Eines der ersten konkreten Resultate dieser Arbeit ist die Stiftung zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen Norwegen und Deutschland, die künftig den Namen "Norwegisch-Deutsche Willy-Brandt-Stiftung" tragen soll.

Ihnen, Herr Bürgermeister Ditlev-Simonsen, danke ich auch im Namen der Friedrich-Ebert-Stiftung dafür, dass wir für diese Ausstellung und die heutige Veranstaltung die schönen Räumlichkeiten des Osloer Rathauses nutzen dürfen.

Die Ausstellung "Willy Brandt ein politisches Leben" ist von der Friedrich-Ebert-Stiftung geschaffen und bereits in vielen deutschen Städten gezeigt worden. Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist in ihrer Arbeit von Willy Brandt nachdrücklich geprägt worden. Sie hat ihrerseits diesen großen sozialdemokratischen Staatsmann bei der Verwirklichung seiner Politik nach Kräften unterstützt. Dass die Ausstellung nun zum ersten Mal im Ausland präsentiert wird, dafür haben wir der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Berlin, dem Goethe Institut Oslo und dem deutschen Botschafter Peter Metzger in besonderer Weise zu danken.

Zur Besichtigung der Ausstellung im Anschluss an diese Veranstaltung lade ich Sie im Namen der Veranstalter herzlich ein.