Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 24.05.2000

Anrede: Sehr geehrter Herr Professor Plattner, meine sehr geehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/10/10410/multi.htm


dieser Kongress fällt in eine Zeit des rasanten Strukturwandels - eines Strukturwandels, der von Unternehmen und Arbeitnehmern gleichermaßen neue Orientierungen verlangt. Die Menschen spüren die großen Chancen, die die stürmische Entwicklung von E-Business, Internet und Multimedia, aber auch der Medizin- und Biotechnologie bietet.

In der Neuen Ökonomie entstehen neue Arbeitsmöglichkeiten? und vor allem auch neue Arbeitsplätze.

Auf längere Sicht, das wissen wir alle, wird eine neue Qualität der Wirtschaftsstruktur entstehen: Mit neuartigen Arbeitsbeziehungen, mit veränderter Unternehmensorganisation und mit rasch sich wandelnden Anforderungen an Bildung und Qualifikation.

Aber die Vorstellungen der Menschen von der Neuen Ökonomie sind durchaus verschieden: Auf der einen Seite ist eine fast ungezügelte Euphorie zu beobachten: Für viele scheint sich die Industriegesellschaft gleichsam in ein Internet-Paradies zu verwandeln - mit Traumzahlen in den Unternehmensbilanzen. Auf der anderen Seite trifft man auf Skepsis bei jenen, denen das rapide Wachstum der Neuen Ökonomie nicht ganz geheuer ist.

Das sind ja ganz reale Bedenken und Ängste. Gerade in den Informationstechniken ist das Wissen von heute oft schon morgen veraltet - wenn wir nicht aufpassen und gegensteuern, bleiben bei dieser Beschleunigung Menschen mit ihren Begabungen und Möglichkeiten am Wegesrand stehen.

Und man muss auch kein Kulturpessimist sein, um sich zu fragen, ob es auf Dauer vernünftig ist, wenn sich mit ein paar Mausklicks an der Online-Börse das Monatsgehalt eines gut bezahlten Angestellten verdienen lässt. Unabhängig von solchen - oft durch persönliche Erfahrungen geprägten - Sichtweisen steht eines fest: Die technologischen Entwicklungen in den neuen innovativen Wirtschaftsbereichen werden in jedem Fall den Wandel von der Industriegesellschaft hin zur wissensbasierten Informationsgesellschaft beschleunigen.

Welches Kriterium man auch nimmt - Börsenkapitalisierung, Umsatzwachstum oder Beschäftigung: Immer mehr Unternehmen aus der Informations- und Telekommunikationsbranche wachsen in den Kreis der großen Weltfirmen hinein.

Und ich will an dieser Stelle auch gleich auf etwas anderes hinweisen, das mir wichtig ist: Wir haben es ja nicht nur mit neuen Techniken zu tun, sondern auch mit Ansätzen einer neuen Unternehmens- und Arbeitskultur.

Wirtschaftspolitik wird in Zukunft vielleicht noch mehr als in der Vergangenheit Gesellschaftspolitik sein. Die Neue Ökonomie ist noch mehr als manche traditionellen Wirtschaftszweige auf eine Gesellschaft angewiesen, in der die Menschen ihre Fähigkeiten ausbilden und nutzen können. Und in der sie teilhaben am erwirtschafteten Wohlstand, aber auch an den Entscheidungen.

Die Neue Ökonomie kann sich umständliche Hierarchien gar nicht leisten. Der Zwang zur effizienten Teamarbeit schlägt auf die Gesellschaft insgesamt durch. Aber ich finde es auch besonders wegweisend, dass in vielen Firmen der Neuen Ökonomie die Beteiligung der Mitarbeiter am Betriebskapital und -gewinn selbstverständlich ist. Damit kann die Neue Ökonomie auch zu einem Motor der Modernisierung unserer Teilhabegesellschaft werden.

Meine Damen und Herren,

aber all die Erfolge der Neuen Ökonomie dürfen nicht zu einer Vernachlässigung der klassischen Wirtschaftsbereiche - Verarbeitendes Gewerbe, Baugewerbe, Handel und Handwerk - führen. Man muss deshalb gelegentlich daran erinnern, dass von den rund 36 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland dann doch nur rund 1,7 Millionen ihren Lebensunterhalt in der Informations- , Telekommunikations- und Medienwirtschaft verdienen, also gerade 5 Prozent.

Gewiss: Ihr Anteil wird rasch weiter steigen, aber er wird noch auf lange Zeit keinen so großen Wertschöpfungs- und Beschäftigungsbeitrag leisten wie die klassischen Industrien. Die engen Wechselbeziehungen zwischen den sogenannten "alten" und den "neuen" Industrien lassen es allerdings ohnehin müßig erscheinen, eine scharfe Trennlinie ziehen zu wollen.

Die neuen Informations- und Telekommunikationstechnologien sind schon heute für die klassischen Zweige des verarbeitenden Gewerbes, von der Automobilproduktion bis zur Spielzeugherstellung, wie auch für traditionelle Dienstleister unverzichtbar.

Gleichzeitig bilden die traditionellen Industrien aber überhaupt erst die ökonomische Basis, auf der sich die neuen Industrien entwickeln können.

In den Unternehmen der "Neuen Ökonomie" machen sich die Arbeitskräfte mit innovativen Entwicklungen vertraut, lernen neueste technologische Verfahren kennen, arbeiten sich in fortschrittliche Informationstechnologien ein. Von diesen Qualifikationen profitieren, durch ganz normale Fluktuation, auch wieder Firmen des verarbeitenden Gewerbes.

Meine Damen und Herren,

diese engen Wechselbeziehungen machen deutlich: Wer Engpässe bei den IT-Arbeitskräften beseitigt, schafft dadurch die Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in der gesamten Wirtschaft - nicht nur in einzelnen Branchen.

Die Bundesregierung hat dies erkannt und einen ganzen Katalog von gezielten Maßnahmen ergriffen.

Die Initiative der Bundesregierung, eine begrenzte Zuwanderung im IT-Bereich zuzulassen, ist nur einer von vielen Schritten zur Beseitigung des kurzfristigen Mangels an IT-Fachkräften.

Die Bundesregierung kann sich übrigens - wenn man schon den Begriff "Green-Card-Initiative" hierfür verwendet - auf das Erfolgsmodell der USA berufen. Viele der IT-Firmen im Silicon Valley sind von Einwanderern gegründet worden. Und immer noch deckt die größte Wirtschaftsmacht der Welt ihren Bedarf an IT-Fachpersonal zum großen Teil durch Zuwanderung - trotz ihrer praxisorientierten Bildungseinrichtungen und ihrer weltweit hochgelobten Technikfreundlichkeit. Warum eigentlich soll dieser pragmatische Weg für Deutschland nicht geeignet sein?

Und bei der Diskussion um die "Green Card" muss immer wieder daran erinnert werden: Die bereits getroffenen oder eingeleiteten Maßnahmen des Staates und der Wirtschaft zur Beseitigung des Mangels an IT-Fachkräften sind sehr viel umfassender: Die Wirtschaft hat sich bereit erklärt, bis zum Jahr 2003 insgesamt 60.000 zusätzliche Ausbildungsplätze in den IT-Berufen bereitzustellen. Die Bundesanstalt für Arbeit unternimmt Qualifizierungsmaßnahmen, damit Deutschland den Fachkräftebedarf mittelfristig aus eigener Kraft decken kann. In den letzten Jahren sind verschiedene Ausbildungsordnungen für neue Berufe im Bereich der Informations- und Telekommunikationswirtschaft geschaffen worden? so zum Beispiel IT-Systemelektroniker und IT-Systemkaufleute. Wir streben die flächendeckende Ausstattung aller Schulen, der beruflichen Ausbildungsstätten und der Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen Weiterbildung mit PCs und Internet-Anschlüssen bis zum Jahr 2001 an.

Mit diesen Maßnahmen wird es auf Dauer gelingen, die Lücke zwischen Nachfrage und Angebot bei den IT-Fachkräften zu schließen. Und es wird gelingen, den Einstieg in die Informations- und Wissensgesellschaft zu beschleunigen. Wir sehen dabei auf die Öffnung des Marktes für Telekommunikationsdienste und die effiziente Beaufsichtigung des Marktgeschehens durch die Regulierungsbehörde.

Der anhaltende Rückgang der Preise für Telefon- , Fax- und Internetdienstleistungen ist ein gutes Ergebnis dieser Politik. Denken wir an das Aktionsprogramm "Innovationen und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts" der Bundesregierung, mit dem wir konkrete Zielmarken anstreben.

Hierzu gehören die signifikante Erhöhung der Zahl der Internet-Abonnenten und der Ausbau des Deutschen Forschungsnetzes ( DFN ) zum Hochgeschwindigkeitsnetz. Besonders hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang die Initiative D 21, die als Public-Private-Partnership Projekte und Aktionen für eine beschleunigte Nutzung von IT-Technologien entwickelt.

Auszahlen wird sich dieses Konzept nicht nur für die Firmen der Neuen Ökonomie, sondern für die gesamte Wirtschaft. Denn es tut dem Wirtschaftswachstum insgesamt gut, wenn wichtige Querschnittsbranchen wie die IT-Wirtschaft besonders dynamisch wachsen.

Meine Damen und Herren,

die positiven Impulse, die die Neue Ökonomie für Wachstum und Beschäftigung bringt, sind nicht zu bestreiten. Das wirtschafts- und finanzpolitische Konzept der Bundesregierung zielt daher darauf ab, das produktive Miteinander traditioneller und neuer Branchen durch faire Rahmenbedingungen für alle zu fördern. Die im Zukunftsprogramm 2000 angelegten steuerlichen Entlastungen und Maßnahmen der Haushaltskonsolidierung stehen dabei im Mittelpunkt. Sie zielen auf eine gleichzeitige Verbesserung der Angebots- und Nachfragebedingungen ab.

Mit dem Steuerentlastungsgesetz haben wir in erster Linie kleine und mittlere Einkommen entlastet und so die gesamtwirtschaftliche Kaufkraft gestärkt. Dies ist der nachfrageseitige Aspekt des Wachstumsprozesses, den wir angestoßen haben.

Mit der Steuerreform 2000 folgt der zweite große Reformschritt mit dem Schwerpunkt auf der Angebotsseite. Er sorgt dafür, dass auch bei den Investitionen Deutschland international wettbewerbsfähig bleibt. Die Eckpunkte dieser steuerpolitischen Konzeption, die wir schrittweise bis zum Jahr 2005 umsetzen, sind klar definiert: Bei der Einkommensteuer, die die Personengesellschaften betrifft, vermindern wir den Eingangssteuersatz von fast 26 Prozent im Jahr 1998 auf 15 Prozent im Jahr 2005.- Gleichzeitig heben wir den Grundfreibetrag von derzeit 13.500 DM auf 15.000 DM an. Und wir reduzieren den Spitzensteuersatz von 53 Prozent im Jahr 1998 auf 45 Prozent im Jahr 2005.- Aber auch Kapitalgesellschaften werden deutlich entlastet. Die zukünftige durchschnittliche Gesamtbelastung einer Kapitalgesellschaft wird bei rund 38 Prozent liegen - als Summe aus Körperschaftsteuersatz in Höhe von 25 Prozent zuzüglich Gewerbesteuer.

Von diesen Maßnahmen profitiert in besonderer Weise die mittelständische Wirtschaft. Und das nicht etwa deshalb, weil der Spitzensteuersatz gesenkt wird. Sondern weil wir den Eingangssteuersatz herabsetzen und den Grundfreibetrag erhöhen.

Denn Tatsache ist: 78 Prozent der Steuerpflichtigen mit überwiegend gewerblichen Einkünften erzielen ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von weniger als 100.000 DM. Diese Unternehmen werden kräftig entlastet: Bei einem zu versteuernden Jahresgewinn von 100.000 DM zahlt ein verheirateter Unternehmer ab 2005 nur noch 19.100 DM Steuern statt 25.300 DM in 1998. Ein verheirateter Personen-Unternehmer wird erst bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 400.000 DM die künftige Durchschnittsbelastung einer Kapitalgesellschaft in Höhe von 38 Prozent erreichen.

Dieses Einkommens-Niveau überschreitet lediglich eine Minderheit des Mittelstands. Und auch diese Betriebe lassen wir nicht im Stich. In der Summe ergibt sich für den Mittelstand ein Entlastungsvolumen von netto 20 Milliarden DM zwischen 1999 und 2005. Meine Damen und Herren,

im spöttischen Volksmund heißt es ja häufig: "Eher legt ein Hund einen Wurstvorrat an, als dass der Staat spart oder Schulden abbaut".

Für frühere Regierungen mag dieser Vorwurf berechtigt gewesen sein. Mit der von Hans Eichel initiierten, konsequenten Sparpolitik hat die rot-grüne Bundesregierung diesem Vorwurf die Grundlagen entzogen.

Und ich unterstreiche auch hier: Selbst bei einer erfreulichen, konjunkturbedingten Zunahme des Steueraufkommens und zu erwartenden Erlösen aus der Versteigerung von Mobilfunklizenzen werden wir an unserem Ziel festhalten und die zusätzlichen Einnahmen zur Rückführung öffentlicher Verschuldungen einsetzen.

Denn der Bund gibt jährlich rund 82 Milliarden DM für Zinsen aus. Deshalb gibt es keine vernünftige Alternative dazu, zuerst die Verschuldung zurückzuführen.

Die dadurch erzielbaren Einsparungen bei den Zinslasten können dann für Investitionen in Bildung und Infrastruktur genutzt werden.

Die Eckpunkte unseres Konsolidierungskonzeptes liegen fest: Bereits im Bundeshaushalt 2000 werden Einsparungen in Höhe von 30 Milliarden DM wirksam. Im laufenden Jahr sinken die Ausgaben des Bundes gegenüber dem Vorjahr.

Unser längerfristiges Ziel ist schließlich ein ausgeglichener Haushalt ohne Neuverschuldung in der nächsten Legislaturperiode.

Damit entlasten wir die Kapitalmärkte dauerhaft und tragen dazu bei, dass der laufende Konjunkturaufschwung in einen anhaltenden Wachstumsprozess mündet.

Meine Damen und Herren,

die positiven Wirkungen dieses Kurses auf die Wirtschaftsentwicklung zeigen sich bereits heute.

Die Investoren und Konsumenten honorieren es, dass die Politik Ernst macht mit der Konsolidierung des Bundeshaushalts und der steuerlichen Entlastung.

Die Menschen sind wieder bereit, auf die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes zu bauen? mit Investitionen und Konsumentscheidungen.

Erst vor wenigen Wochen haben die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute ihr Frühjahrsgutachten mit einer nach oben korrigierten Wachstumsprognose vorgelegt. Demzufolge können wir im laufenden und im nächsten Jahr mit einer Zunahme des realen Bruttoinlandsprodukts um 2,8 Prozent rechnen. Mit dieser Wachstumsperspektive kommen wir unserem wichtigsten Ziel, dem schrittweisen Abbau der Massenarbeitslosigkeit, ein großes Stück näher.

Die Institute erwarten einen Rückgang der Arbeitslosigkeit auf deutlich unter 4 Millionen im Jahresdurchschnitt 2001. Ich will daran erinnern: Zu dieser positiven Entwicklung hat das Bündnis für Arbeit entscheidend beigetragen.

Arbeitgeber und Gewerkschaften haben tarifpolitische Weichenstellungen verabredet, die? das darf man nach den zukunftsorientierten Abschlüssen in der Chemie- und Metallindustrie sagen? eine neue Qualität bei der Kosten- und Planungssicherheit für die Betriebe bewirkt haben.

Die Anzeichen dafür, dass dieser Weg der beschäftigungspolitischen Vernunft auch künftig beschritten wird, sind gut. Hierfür spricht die Vertrauensbasis, die wir im Bündnis für Arbeit mittlerweile geschaffen haben, und auf die wir im nächsten Spitzengespräch im Juli aufbauen können.

Auch das hohe Maß an Preisstabilität trägt dazu bei, die Tarifpolitik auf einem beschäftigungsorientierten Kurs zu halten.

Meine Damen und Herren,

wir haben allen Anlass, optimistisch in die Zukunft zu blicken.

Es mag ja sein, dass manche Protagonisten der "New Economy" eher der Meinung sind, auf Politik und auf den Staat verzichten zu können? nach dem Motto: die neuen Märkte setzen sich schon alleine durch.

Ich halte das für einen gefährlichen Irrtum. Wer, wenn nicht eine demokratische Politik, soll denn die Teilhabe der Menschen in einer sich so rasant verändernden Gesellschaft sicherstellen? Ohne die Teilhabe der Menschen am Haben und Sagen in der Gesellschaft aber werden wir die Potenziale nicht nutzen, die Kreativität nicht ausschöpfen können.

Auch die "New Economy" wird sich nur in einer offenen, dynamischen Gesellschaft entfalten können, die auf Gerechtigkeit baut und niemanden ausgrenzt. Eine Gesellschaft, die Innovation, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung der Menschen fördert, die aber auch die Schwachen schützt und die Begabungen aller entwickelt.

Dieses Ziel einer modernen, zukunftsfähigen Zivilgesellschaft müssen wir im Auge behalten, auch und gerade wenn wir von "Visionen einer neuen Wirtschaft" sprechen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Der Erfolg wird uns Recht geben.