Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 09.10.2007

Untertitel: Kulturstaatsminister Bernd Neumann ging in seiner Rede auf die DDR-Zeit und die Veränderungen in Deutschland in den Jahren 1989 und 1990 ein und wies auf den großen Verdienst der neuen Dauerausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig hin. Weiter sagte er, esist "meine politische Absicht, durch eine fundierte geschichtliche Aufarbeitung dazu beizutragen, dass es nicht zu einer Verklärung und Bagatellisierung der politischen Verhältnisse in der DDR kommt."
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/10/2007-10-09-neumann-forum-leipzig,layoutVariant=Druckansicht.html


ich freue mich, heute, am 9. Oktober, mit Ihnen die neue Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu eröffnen. Der 9. Oktober ist ein ganz besonderer Tag für Deutschland. Er steht für die friedliche Revolution, die 1989 von hier aus ihren Anfang nahm. Herr Professor Hütter hat bereits darauf hingewiesen, ich möchte es aber gerne noch einmal betonen: Ohne den Mut der Menschen, die sich hier in den Schicksalstagen in Leipzig versammelt hatten, wäre wohl kaum am 9. November des selben Jahres die Mauer gefallen noch, nur ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, die Deutsche Einheit so friedlich geglückt.

Die Geschehnisse im Herbst 1989 zeigen, dass große, umwälzende Veränderungen nur durch Engagement und Entschlossenheit möglich werden, durch den Mut zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Die Friedliche Revolution ist aus diesem Geist entstanden. Aber ohne Umsicht, Weitsicht und das Geschick von Politikern, die die Chancen dieser Entwicklung erkannten und sie in richtige Bahnen lenkten, wäre die Deutsche Einheit ebenfalls nicht geglückt. Hier ist an erster Stelle natürlich der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl zu nennen, aber auch Michail Gorbatschow und George Bush sen.

Die Entscheidungen der politisch Verantwortlichen waren von gegenseitigem Respekt sowie vom tiefen Verständnis für die Menschen getragen, für die das Leben in der Diktatur unerträglich geworden war. Der Wille zur Veränderung hat gesiegt. Ich empfinde das auch persönlich als großes Glück.

Die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hält die Erinnerung an den 9. Oktober, dem Tag der ersten großen Montagsdemonstration, lebendig: Schon 1994, fünf Jahre später, erinnerte eine Ausstellung an die dramatischen Ereignisse, wiederum fünf Jahre später, am 9. Oktober 1999 wurde die Dauerausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig feierlich eröffnet. Seither finden jedes Jahr am 9. Oktober Symposien mit namhaften Wissenschaftlern statt, die sich mit dem Leben unter den Bedingungen der Diktatur auseinandersetzen.

Meine Damen und Herren, wir wissen alle, dass jede Beschreibung historischer Ereignisse nur eine Annäherung sein kann und von der Perspektive des Chronisten abhängt. Es gibt keine absolute historische Wahrheit; das Gewebe der Geschichte ist vielfarbig, es ist an manchen Stellen auch löchrig. Jede historische Ausstellung muss mit dieser Tatsache umgehen. Gerade zeithistorische Ausstellungen haben noch die zusätzliche Schwierigkeit, dass die Ergebnisse der Geschichtsforschung sich nicht unbedingt mit den Erinnerungen der Menschen decken. Die persönliche Erinnerung schafft sich ihre eigenen Wahrheiten, und manchmal mag für den Einzelnen das Vergessen ebenso wichtig sein wie das Erinnern.

Um die Zukunft in einer freien, demokratischen - ja, im wahrsten Sinne sich selbst bewussten - Gesellschaft zu gestalten, bedarf es aber der konsequenten wissenschaftlichen Aufarbeitung. Die Erforschung der Geschichte der DDR hat in den vergangenen

acht Jahren enorme Fortschritte gemacht. Das muss auch einer breiten Öffentlichkeit vermittelt werden. Denn gerade in letzter Zeit zeigt sich leider eine Tendenz zur Bagatellisierung der Diktatur in der DDR.

Ich erinnere nur an die Verunglimpfung der Gedenkstättenarbeit und die Verhöhnung der Opfer des MfS durch ehemalige Stasi-Mitarbeiter in der Gedenkstätte Hohenschönhausen im letzten Jahr. Ich finde es erschreckend, dass erst vor zwei Wochen auf einem Stadtteilfest in Lichtenberg eine Signierstunde von

Werner Großmann,

des früheren Stellvertreters von Stasi-Chef Erich Mielke stattfinden sollte, und ich kann es nicht nachvollziehen, dass der Ort Zechin in Brandenburg erst kürzlich eine Straße neu nach Wilhelm Pieck benannt hat.

Über diese haarsträubenden Vorfälle hinaus gibt es einen Hang zur Verharmlosung, den ich ebenso bedenklich finde. Natürlich haben wir uns bei Filmen wie "Good bye, Lenin" und "Sonnenallee" köstlich amüsiert, aber sie haben eine gewisse Nostalgie gefördert. Ich spreche der Satire nicht ihre Berechtigung ab - aber schnell sind die Grenzen zur Verklärung, zur Ostalgie überschritten. Für die sind auch junge Menschen anfällig. Gerade ihnen sind wir es schuldig, ein fundiertes Bild der DDR zu liefern.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist verständlich und gut, dass sich viele, die in der DDR lebten, mit Freude auch an schöne Momente zurückerinnern, die ihr Leben vor der Wende prägten. Die Zeit in der DDR ist Teil ihrer Biographie, ihrer individuellen Vergangenheit. Diese soll nicht in Frage gestellt werden.

Ich selbst weiß, wie wunderbar ich als Kind die ersten Weihnachtsfeste nach dem Krieg empfand, obwohl sie objektiv gesehen von bitterster Not und Entbehrung geprägt waren.

Wir dürfen aber als Gesellschaft nie vergessen, unter welchen Rahmenbedingungen sich individuelles Leben abspielt. Ein aufrichtiges historisches Erinnern an die DDR darf die existenziellen Begrenzungen nicht ausblenden, die das Unrechtsregime über das Leben der Bewohner verhängte. Deshalb ist es meine politische Absicht, durch eine fundierte geschichtliche Aufarbeitung dazu beizutragen, dass es nicht zu einer Verklärung und Bagatellisierung der politischen Verhältnisse in der DDR kommt. Es darf nicht in Vergessenheit geraten, dass jahrzehntelang Menschen hinter Mauer und Stacheldraht in Unfreiheit gelebt haben. Sie mussten permanent Repressionen fürchten und haben unter Anpassungsdruck gelitten.

Politisch Andersdenkende und Kritiker waren den brutalen Verfolgungs- und Zersetzungsmaßnahmen des allgegenwärtigen Staatssicherheitsdienstes ausgesetzt. Der mit dem Oscar ausgezeichnete Film "Das Leben der Anderen" hat darüber mittlerweile in aller Welt eindrucksvoll aufgeklärt. Und wie vielen jungen Menschen wurde der Weg in den gewünschten Beruf verbaut, weil sie sich öffentlich zu ihrem Glauben bekannten oder weil die Eltern als politisch unzuverlässig galten?

Meine Damen und Herren, anhand von Biographien lassen sich komplexe historische Zusammenhänge besser nachvollziehen und interessanter vermitteln. Ich erinnere nur an den jüngsten Erfolg des Fernseh-Zweiteilers "Die Frau vom Checkpoint Charlie", den über 8 Millionen Bundesbürger sahen und der auch mich persönlich sehr bewegt hat.

Es ist ein großes Verdienst der neuen Dauerausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, die Spannung zwischen individuellem Erleben und politischen Verhältnissen anhand von Lebensgeschichten darzustellen. Dem Besucher wird der Alltag in der DDR nahe gebracht, ohne zu vergessen, unter welchen politischen Bedingungen sich das Leben der Menschen abspielte. Erst durch diese Verknüpfung wird man der Vielfalt der historischen Wahrheiten gerecht.

Die kommunistische Diktatur ist Teil des historischen Erbes des wiedervereinten Deutschlands. Die Aufarbeitung dieses Erbes sowie das Gedenken an ihre Opfer ist unsere Aufgabe und muss erheblich verstärkt werden.

Wir haben die Chance und das Glück, in einer freiheitlichen Demokratie leben zu können, die jegliche Gewalt und Willkürherrschaft ausschließt.

Viel zu leicht nehmen wir diese Freiheit als selbstverständlich hin. Auf Dauer werden wir den antitotalitären Grundkonsens in der Gesellschaft aber nur festigen können, wenn wir die Erinnerung an das begangene Unrecht aufrechterhalten. Nur so bleiben wir immun gegen Extremisten von links und rechts."Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen" - so lautet die Überschrift, also die Botschaft des Gedenkstättenkonzeptentwurfs, den ich als Staatsminister für Kultur und Medien dem Kultur-Ausschuss des Deutschen Bundestages im Juli 2007 vorgelegt habe.

Inhaltlich setzt sich die Gedenkstättenkonzeption sowohl mit dem verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus als auch mit der kommunistischen Diktatur auseinander. Dabei steht die Singularität des Holocaust im Mittelpunkt unserer Überlegungen: Bei national bedeutsamen Gedenkstätten zur NS-Terrorherrschaft, für die sich der Bund in der Vergangenheit beständig engagiert hat, wollen wir die Förderung ausbauen und verstetigen.

Beim SED-Unrecht wollen wir die erinnerungspolitische Aufarbeitung deutlich verstärken und in diesem Zusammenhang Widerstand und Opposition besonders würdigen. Hierzu soll die Zusammenarbeit aller Einrichtungen zur Geschichte der SBZ und der DDR im Rahmen eines Geschichtsverbunds SED-Unrecht gefördert werden. Dieser Geschichtsverbund wird den einzelnen Institutionen die für ihre Arbeit notwendige Freiheit lassen, bewährte Strukturen stärken und Kooperationsprojekte ermöglichen. Innerhalb des Verbunds gliedern sich die Einrichtungen nach ihrer jeweils dominierenden Funktion in die drei Kategorien Archive, gesellschaftliche Aufarbeitung sowie Gedenkstätten, Erinnerungsorte und Museen.

Das SED-Unrecht spiegelt sich vom Handeln der Parteispitzen bis in den Alltag der Einwohner der DDR hinein wider. Joachim Gauck hat in einfachen Worten plastisch geschildert wie das Leben "seinen sozialistischen Gang" geht: "Ich erzähle gern von der kleinen Marie, die als Erstklässlerin in die" Jungen Pioniere "aufgenommen wird - blaues Halstuch, weißes Blüschen, Faltenrock, blaues Käppi, den Pioniergruß" Seid bereit immer bereit "stets auf den Lippen. Als Maries Mutter einst nur vorsichtig versucht hatte, das Kind vom Eintritt in die Pioniergruppe abzuhalten, hatte Marie schon angefangen zu weinen. Verständlich, musste sie sich doch fragen, wo sie stehen würde, wenn alle anderen Kinder das Pioniertuch umgelegt kriegen. In der Ecke?"

Von der Kinderkrippe über die Schule und die Universität bis hin zur Arbeitswelt sollte der Mensch in all seinen Bereichen ideologisch durchdrungen werden. Der "Alltag in der DDR" ist daher integraler Bestandteil der erinnerungspolitischen Aufarbeitung des SED-Unrechts.

Die Dauerausstellung hier im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig setzt sich ebenfalls intensiv auch mit dem Alltag in der DDR auseinander. Es ist kein schlichtes Museum. Es ist ein Ort des lebendigen Erinnerns, ein Ort, der zur Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und zur Diskussion auffordert.

Die ständige Ausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums widmet sich ausdrücklich der Geschichte von Diktatur, Widerstand und Opposition in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Die Dauerausstellung richtet sich gegen alle Tendenzen zur Verharmlosung und Rechtfertigung der SED-Diktatur, gegen Legenden- und Mythenbildung. Das System der SED wird in all seinen Facetten dargestellt: als System, das sich zwischen Verführung und Gewalt, zwischen Zustimmung und Unterdrückung, zwischen partieller Identifikation und totaler Herrschaft bewegt.

Es freut mich, dass wir heute zusammengekommen sind, um die neue Dauerausstellung des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig nach umfassender Überarbeitung zu eröffnen. Es freut mich umso mehr, als das Forum ein exemplarisches Projekt des wiedervereinigten Deutschlands darstellt: Seit dem Aufbau des Museums arbeiten Mitarbeiter aus Ost und West Seite an Seite zusammen. Die Realisierung der Überarbeitung war nur dadurch möglich, dass alle Mitarbeiter des Hauses am gleichen Strang gezogen und unvorhergesehene Probleme professionell gelöst haben. Daher möchte ich diesen Festakt auch dazu nutzen, um Ihnen, Herr Professor Eckert, und ihren Mitarbeitern in Leipzig und Ihnen, Herr Professor Hütter, und den Bonner Mitarbeitern meinen herzlichen Dank für ihr Engagement auszusprechen.

Sie haben es schon erwähnt, Herr Professor Hütter, seit seiner Eröffnung im Jahr 1999 haben das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig über 1,3 Millionen Personen besucht. Außerhalb Berlins ist das Forum das erfolgreichste Geschichtsmuseum in den östlichen Bundesländern. Die Überarbeitung der Dauerausstellung wird zu einer weiteren Steigerung der Attraktivität des Museums führen. Ich bin mir daher sicher, dass das Museum auch in Zukunft zahlreiche Besucher ansprechen wird. Insbesondere aber wünsche ich den Mitarbeitern fruchtbare Diskussionen mit vielen Jugendlichen.

Von dem deutschen Hochschullehrer und Pädagogen Joseph Görres stammt das Wort: "Das Volk welches seine Vergangenheit von sich wirft, entblößt seine feinsten Lebensnerven allen Stürmen der wetterwendischen Zukunft."

Nur wenn wir das Gedenken an Widerstand und Opposition in der DDR vertiefen, nur wenn wir das Unrecht, das in der SED-Diktatur geschehen ist, aufarbeiten, können wir die Verantwortung wahrnehmen, die aus der Geschichte zur Bewahrung von Freiheit und Demokratie in Deutschland erwächst.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.