Redner(in): Michael Naumann
Datum: 24.02.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/04/11804/multi.htm


Frage: Erstmals in der demokratischen Geschichte Deutschlands seit dem Krieg gibt es einen deutschen Kulturminister, das sind Sie, und jetzt werden Sie in der englischen Presse bezeichnet als Nachfolger Goebbels, des Propagandaminister Goebbels aus der unseligen Zeit der Nazis. Wie kommen Sie zu dieser Beschimpfung?

Naumann: Erst einmal, um die englische Presse zu korrigieren, Goebbels war nicht der Kultur- und wenn, dann wäre er der Unkulturminister gewesen, sondern der Minister für Propaganda und Volksaufklärung, wohinter sich Rassismus verbarg, und der Kulturminister, der unselige, der hieß Rust. Daß man mich nun in diese Ahnenreihe stellt, ist natürlich sehr verblüffend. Aber der Hintergrund ist ganz einfach. Ich hatte mich in einem Interview beklagt darüber, daß in der verständlichen heroischen Selbstinterpretation Englands bezüglich des Zweiten Weltkriegs bedauerlicherweise das Feindbild aufrecht erhalten wird, als ob wir immer noch im Jahre 1945 wären. Das heißt, die Deutschen sind zumindest in der Fleet Street, in der Presse weiterhin wenn nicht die Nazis, so doch die Panzer, die Tanks oder, wie kürzlich gar geschehen, als der deutsche Finanzminister Oskar Lafontaine eine Kürzung des Zinssatzes von vielleicht 3 auf 2 Prozent vorschlug auf europäischer Ebene, die Gauleiter. Das heißt in anderen Worten, man ist in England oder zumindest in der englischen Presse sehr schnell bereit, alte Klischees zu mobilisieren und insofern bin ich nun der Nachfolger von Goebbels. Ich muß sagen, das schmerzt schon sehr.

Frage: Es verletzt Sie ganz persönlich, also Sie stecken das nicht einfach weg als unqualifizierten Angriff?

Naumann: Ja, natürlich. Ich stecke viele Dinge nicht weg. Das ist vielleicht der Unterschied, den ich habe zu anderen Politikern, ich bin kein Berufspolitiker. Aber darüber hinaus geht es schon um ein bißchen mehr. Wenn mir heute zum Beispiel das Massenblatt THE SUN erklärt, warum wir den Zweiten Weltkrieg in England niemals vergessen werden, nämlich wegen Bergen-Belsen, Dachau, Auschwitz, Sachsenhausen, dann kann ich eigentlich nur antworten, schaut, einer meiner Onkel kam in englischer Uniform nach Deutschland zurück, der andere in amerikanischer. Beide waren Friedheims. Das sind Onkel von mir, die mit dem jüdischen Teil meiner Familie emigriert sind. Es gibt eine Menge Deutsche, die den Zweiten Weltkrieg auch nicht vergessen, auch wegen dieser furchtbaren Geschichte des Holocaust, des Mordes an Europas Juden. In diesem Kontext gewissermaßen in eine Ahnenreihe derjenigen gestellt zu werden, die diese Verbrechen zu verantworten haben, obwohl man selbst seine gesamte politische Jugend und auch seine politische Arbeit in einer Auseinandersetzung mit der Geschichte Deutschlands und mit dem Faschismus verbracht hat, und zwar sehr kritisch und nicht immer einfach, das ist sehr ärgerlich. Da kann man nun darüber diplomatisch schweigend hinweg gehen, aber so verstehe ich mich selbst nicht.

Frage: Wie auch unsere Schweizer Banken, sind jetzt in Deutschland die großen Unternehmen plötzlich herausgefordert, für Zwangsarbeiter zu bezahlen. Wie kommt es, daß die Geschichte 50 Jahre danach all dies wieder aktualisiert?

Naumann: Da gibt es viele, viele Gründe. Der Hauptgrund ist sicherlich der, der auch etwas mit der Globalisierung zu tun hat. In dem selben Maße, in dem die deutsche Wirtschaft sich selbst globalisiert, das heißt ins Ausland geht, begegnet ihr dort die deutsche Geschichte, die nicht in der selbstverständlichen Art verarbeitet worden ist und auch nicht unterdrückt worden ist, wie das hier noch bis vor wenigen Jahren zumindest im politischen Raum der Fall ist. Also Helmut Kohl hat irgendwann einmal völlig zu Recht gesagt, er selbst, der dieses Holocaust-Mahnmal ja befürwortet, hätte das seiner Partei in den siebziger Jahren nicht zumuten können. Na, mir schon, den Sozialdemokraten schon. Die haben das immer gefordert. Also in anderen Worten, es werden jetzt Teile der deutschen Gesellschaft von der Geschichte eingeholt, die am liebsten sie vergessen hätten. Das betrifft auch die großen Konzerne. Ich finde, es ist durchaus an der Zeit, und ich finde, das ist auch gut, daß das jetzt geschieht, daß diese noch offenen Posten nicht, sagen wir mal, bezahlt werden - das läßt sich nicht bezahlen - , aber daß sie zumindest erkannt werden und das ist in der Tat die Beschäftigung von Zwangsarbeitern, KZ-Arbeitern, Kriegsgefangenen in der deutschen Kriegsindustrie. Also in anderen Worten, das hat etwas mit der Globalisierung zu tun. Aber darüber hinaus hat es auch etwas zu tun mit dem Sachverhalt, daß die Generation der überlebenden Opfer nun ausstirbt und es ist fast so, als ließen gewissermaßen ihre Kinder noch einmal den Film des Lebens ablaufen und da spielt der Holocaust ein ganz zentrales Ereignis. Schließlich als drittes ist es einfach eine furchtbare Wahrheit, daß im Rückblick auf dieses Jahrhundert, das ein Jahrhundert, wie es das noch nie in der Form gegeben hat, der Massenmorde war, und zwar der staatlich organisierten Massenmorde, nicht nur der deutschen, aber dann doch vor allem, jetzt gewissermaßen der Holocaust oder der Völkermord, der staatlich organisierte, der in Deutschland und in deutschen Besatzungsgebieten stattgefunden hat, das Markanteste und Schrecklichste war. Das sieht man jetzt schon und das wird eine Ewigkeit so bleiben. ...

Frage: Jetzt sind die 68er politisch an der Macht, nämlich mit der Regierung, der Sie angehören. In Europa beobachtet man diese Regierung, nicht nur, weil das jetzt Sozialdemokraten sind - überall sind Sozialdemokraten - , sondern weil sich da irgendwo schon wieder ein Verdacht ergibt gegenüber Deutschland, daß die nun diese zurückhaltende politische Tradition der Bundesrepublik verlassen könnten?

Naumann: Dafür gibt es keinen wirklichen, faktischen Grund. Das handelt sich hier auch, wenn Sie so wollen, um eine psychische Reaktion. Meine Generation läßt sich ungern in die Ecke stellen, eigentlich seid ihr ja alle die alten Deutschen, in euren neuen Brioni-Anzügen seid ihr doch die alten Deutschen mit imperialistischen und protofaschistischen Wunschträumen und Attitüden. Das lassen wir uns nicht gefallen, weil wir unsere gesamte politische Sozialisation in der kritischen Auseinandersetzung mit genau dieser Generation verbracht haben. Also es hilft einfach nicht, außenpolitische Interessensgegensätze zu etikettieren, hier die bösen Deutschen, die wir kennen mit ihrer imperialistischen Grundhaltung und hier wir, die Nachfolger der Opfer. Das kann nicht die Grundlage eines europäischen Dialoges mehr sein und ist es ja auch in vielen Fällen nicht. ... Das wirkliche Problem liegt darin, daß aus dieser Erfahrung, man habe sich gewissermaßen mit der Geschichte beschäftigt und nun ist aber gut und nun werden wir mal unsere eigenen, natürlichen wirtschaftlichen Ansprüche zum Beispiel und außenpolitischen Ansprüche frisch, fromm, fröhlich, frei vertreten, das hieße, daß man die Geschichte nicht verstanden hätte. Wir haben das beobachtet zum Teil. Ich kann mich erinnern, daß einige Grüne einmal irgendwann in Israel waren und Äußerungen zur israelischen Palästina- und Palästinenserpolitik gemacht haben, die ich ihnen nicht gewünscht hätte, weil sie doch von einer außerordentlichen, wenn Sie so wollen, Keckheit getragen waren nach dem Motto, uns wird niemand Antisemitismus vorwerfen können, denn wir sind diejenigen, die den Antisemitismus analysiert, kritisiert und gebannt haben. Mithin wollen wir jetzt mal einiges sagen, was Israel so mit den Palästinensern tut. Da muß man sagen, die Israelis warten nicht unbedingt auf deutsche Ratschläge in ihren innenpolitischen und außenpolitischen Angelegenheiten. In anderen Worten, da gibt es Taktgrenzen. Dasselbe trifft aber auch in anderen Grenzen durchaus zu in unserem Umgang mit den anderen Nachbarn in Europa. Es wäre eine falsche Politik, wenn die schiere geographische Größe und auch wirtschaftliche Größe in Deutschland verwechselt werden würde mit einem natürlichen "Führungsanspruch". Das wäre genau die falsche Konsequenz.

Frage: Aber es gibt auch Töne, die unruhig machen oder jedenfalls mich persönlich manchmal provozieren, die aus ganz etablierten Kreisen kommen. Aus Bayern also mit Herrn Stoiber kommen Töne, Auftritte, da ( fragt ) man sich schon: Wo will der hin?

Naumann: Also, Herr Stoiber will eigentlich in den Himmel von Franz Josef Strauß... , er möchte einfach in die Akzeptanz von Franz Josef Strauß geraten, daß er der "Gottvater" von Bayern wird. Diese seine bisweilen sehr populistischen Äußerungen dienen im Grunde genommen diesem Zweck. Diese Position hat er fast erreicht. Ich hoffe, daß dann irgendwann einmal auch - was vor allem europäische Politik betrifft, aber auch den Umgang mit den anderen Bundesländern - dieser Habitus sich dann doch mit etwas mehr Verantwortungsgefühl füllt, denn sein imperiales Gehabe richtet sich vor allem gegen andere Bundesländer, nicht gegen das Ausland. Bayern... , das muß man immer wieder sagen, war über Jahrzehnte hinweg Empfänger von Zuwendungen aus dem Topf des Länderfinanzausgleichs, und jetzt seit einigen Jahren zahlen sie nun selber und haben ganz einfach vergessen, wie sie dahin geraten sind in diese Position. Den Bayern möchte man sagen, sie sind dahin geraten unter anderem aufgrund der Großstadtpolitik sozialdemokratischer Oberbürgermeister wie zum Beispiel Herrn Vogel, der enorm viel Industrie in Bayern, in München angesiedelt hat, aber das ist jetzt eine alte Geschichte.

Frage: ... Sie sind ein richtiger Atlantiker. Sie waren Korrespondent für DIE ZEIT in New York, haben dann einen Verlag in New York aufgebaut in den 90ern, haben ein Buch über die USA geschrieben "Amerika liegt in Kalifornien"... , ( sind ) also im Grunde genommen gegen den Strom der Linken geschwommen, die damals ja sehr anti-amerikanisch waren. ( Sie ) haben von einem kulturellen Brückenschlag gesprochen im Zusammenhang mit Ihrem Verlag... ?

Naumann: Das ist auch gelungen...

Frage: Sehen Sie Deutschland immer noch aus dieser ganz atlantischen Sicht?

Naumann: Ehrlich gesagt, ja... Ich bin der festen Überzeugung, daß... geopolitisch in der Zukunft eine Abkopplung Europas und aber auch Deutschlands von dem amerikanischen Bündnispartner verhängnisvoll wäre. Die Gefahr ist aber immer da. Amerika ist sich sehr schnell selbst genüge. Es gibt ganz entscheidende demographische Veränderungen in Amerika. Die politische ( Elite ) in Amerika ist immer noch europäisch orientiert, aber das wird sie in dem Maße nicht mehr sein, indem lateinamerikanische Zuwanderungen und auch asiatische Zuwanderungen langsam aber sicher andere, wenn Sie so wollen, wirtschaftliche, kulturelle und strategische Gesichtspunkte in das Selbstverständnis Amerikas nicht nur hineinbringen, sondern auch... in der politischen Praxis realisieren. Wenn zu diesem Zeitpunkt dann die Beziehungen zwischen Europa und Amerika nur noch locker - um nicht zu sagen spannungsvoll - sind, werden wir nicht nur wirtschaftliche Schwierigkeiten haben, sondern - um es mal klar zu sagen - auch sicherheitspolitische.

Frage: Bleiben wir bei der Rolle Deutschlands: Verschiebt sich nicht Deutschland seit 1989 eigentlich doch sehr stark in die Mitte... Europas; gäbe es jetzt nicht diesen kulturellen Brückenschlag... , den Sie da mit dem Verlag gemacht haben, zu Ost- , Mitteleuropa zu machen... ? Ist da nicht ein neues Rollendenken Deutschlands notwendig?

Naumann: Nein, das ist kein neues Rollendenken, sondern... was wirklich gefordert wird - insofern haben Sie recht - : Wir können nicht so tun, als ob die letzten zehn Jahre nicht stattgefunden haben, aber wir tun immer noch ein bißchen so. Das Interesse an vor allem Polen und an der Tschechischen Republik und auch an Rußland ist relativ gedämpft zu meinem großen Erstaunen. Die EU-Erweiterung, die ich für absolut unabdingbar halte, wird auch nicht in der Art und Weise gepuscht, wie das wahrscheinlich möglich wäre. Sie wird vor allem aber gebremst durch die französischen Partner, denn das würde eine Umstrukturierung der Agrarmärkte bedeuten. Das kostet Geld, und das will Frankreich im Augenblick nicht in dem Maße zahlen, wie das wohl notwendig wäre... Was wir in Wirklichkeit in Osteuropa erlebt haben, ist ja ein demokratischer Wandel, der zurückgegriffen hat auf klassische europäische Werte, auf klassische Tugenden, auf klassische politische Philosopheme über den Wert und den Nutzen von Freiheit. Man kann überhaupt zum Beispiel die Rolle nicht unterschätzen, die ein europäischer Philosoph von der Größe Leszek Kolakowski im Selbstverständnis des Widerstandes gegen das Jaruzelski-Regime in Polen gespielt hat... Die Wahrheit ist, ohne einen klassischen europäischen Freiheitsdrang, Gerechtigkeitsdrang mit einer Thematisierung der Rolle dieser Tugenden im Verfassungsleben von Gesellschaften durch Leute wie Hawel... , Mischnick... hätte es diese Öffnung Osteuropas zu uns hin nicht gegeben. Und statt von unserer Seite aus dieses nicht nur ernst zu nehmen, sondern da anzuknüpfen, den kulturellen Austausch zwischen Polen, der Tschechischen Republik und dem Rest Europas zu fördern, dümpelt dieses Verhältnis so ein bißchen vor sich hin.

Frage: Es ist ja die Politik, die Angst hat vor diesem Schritt... ; ist nicht überhaupt die Integration Europas letztlich nach dem Euro eine ganz tief kulturelle Notwendigkeit, noch vor der Notwendigkeit, die Politik da zu regeln?

Naumann: Ja, das sehe ich ganz genau so. Ich glaube einfach... , es gibt eine... fast unstillbare intellektuelle Sehnsucht - zumindest der kulturellen Elite dieser Regionen - in Europa anzukommen... Das bedeutet nicht, daß es eine Sehnsucht gibt, nun Deutsch zu werden, aber es gibt eine tiefe Tradition des kulturellen Austausches, des Dialogs mit den Nachbarländern, der wesentlich höher entwickelt war, in den Westen hin als in den Osten hin zu Rußland und zur Ukraine. Frage: Europa hat den Euro geschaffen, was alle erstaunt hat, wahrscheinlich sogar die Europäer selbst, wie das ja als ein Gesamtkunstwerk delanciert wurde?

Naumann: Sehr zerbrechliches Gesamtkunstwerk, ja, aber hoffen wir, es bleibt erst mal.

Frage: Glauben Sie daran?

Naumann: Also, die erste Euphorie hat sich ja etwas gelegt. Der Dollar hat es leicht gegenüber dem Euro im Augenblick... Ich bin schon... etwas besorgt; noch ist das Geld ja nicht da. Ich hoffe, daß die erste Euphorie sich hält. Am Ende entscheidet über das Schicksal der Europäischen Union nicht die Währung. Das steht fest. Erst wenn es uns gelingen sollte, die politischen Institutionen in Europa... demokratiefester zu machen, wie sie es jetzt sind - Stichwort: Allmacht der Kommission, Ohnmacht des Straßburger Parlaments - , dann wird dieser ökonomische Unterbau wirklich akzeptiert werden. Wenn das nicht gelingt, werden wir in eine politische Krise hineinrutschen, die sich gewaschen hat. Dazu zähle ich auch die unbedingte Bereitschaft - auch der südeuropäischen Länder - , die Erweiterung zu Osteuropa hin als notwendig zu akzeptieren, daran zu denken, wie Europa über die Kohäsionsfonds und alle anderen Maßnahmen, die so Europa subsidiär zur Verfügung stellen kann, die Aufnahmeperioden dieser Länder - ob das Spanien oder Portugal in die Europäische Union waren - gefördert hat. Jetzt liegt es auch an diesen Ländern, zurückzustecken, wie auch wir das tun müssen, um Polen und andere ( osteuropäische Länder ) ... in die EU aufzunehmen. Frage: Es gibt ja gegenläufige Interessen in Europa: Der Euro ist aus dem Interesse heraus entstanden, einen integrierten Wirtschaftsraum zu schaffen. Andererseits ist dieses Europa, das wirtschaftlich mehr Menschen umfaßt mit dem Euro als die USA... , zergliedert in die verschiedensten Sprachkulturen, Regionalkulturen... ; die müßten ja letztlich auch irgendwo einen Schutz haben... ? Ist das nicht ein Anspruch an die Kulturminister, diese kulturelle Vielfalt - auch gegenüber der amerikanischen Zivilisationsmacht... - quasi global kompatibel zu machen, erfolgreich zu machen?

Naumann: Das wird uns niemals gelingen... Das wirkliche Problem ist unser europäisches Grundproblem, was man als Problem, aber auch als unglaublichen Glücksfall bezeichnen kann. Zwar könnten wir uns leisten, größere ökonomische und wirtschaftliche Einheiten zu bilden, die Frage ist aber gleichzeitig, ob man die kulturelle und sprachliche Vielfalt in Regionalismen jeglicher Art so einer Vereinheitlichung und einem... Glättungsprozeß der politischen Strukturen anpassen soll oder nicht? Logischerweise bin ich auf keinen Fall dafür. Das, was Europa interessant macht.... , ( ist seine kulturelle und sprachliche Vielfalt ) ... ( Wenn es überall gleich aussieht, ist das natürlich ermüdend ) . Worauf es, glaube ich, in der Zukunft ankommt, ist, dafür zu sorgen, daß bei gleichzeitiger Entfernung des politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozesses aus dem unmittelbaren Umfeld der Bürger in die... Gemeinde, dann kommt die Funktionsreform, dann kommt die nationale Reform - inzwischen sind 60 Prozent aller deutschen Gesetze eigentlich abhängig von europäischen Gesetzen - , am Ende eine europäische Regierung gibt, die von den Bürgern wirklich physisch und auch sprachlich und mental weit entfernt zu sein droht. Die Frage ist jetzt, wie kann man verhindern, daß als Gegenreaktion gegen diese strukturelle Legitimitätskrise, die dann entsteht, nicht Xenophobie, Fremdenhaß, Politikferne und all das entsteht, was in einer entpolitisierten Gesellschaft gang und gebe ist: Die Sehnsucht nach der Gemeinschaft, die Sehnsucht nach den guten alten Zeiten? Ich finde, da sind eigentlich die großen Herausforderungen der europäischen Kulturpolitik zu suchen. Es kommt also darauf an, in solchen entpolitisierten oder... anonymisierten gesellschaftlichen Prozessen dafür zu sorgen, daß die Menschen zwar bei sich selbst bleiben, aber neugierig bleiben gegenüber dem anderen, das heißt, gegenüber dem Nachbarn... Dieses alles so... erst einmal zu erkennen als Problem, und dann dafür zu sorgen, daß das jeweils Eigene der Länder nicht auch noch durch europäische Wettbewerbsgesetze zum Beispiel rasiert wird... , das ist die Aufgabe. Da rede ich von der Buchpreisbindung, die ja ein klassisches Beispiel ist, wie die regionale Besonderheit der Schweiz, Österreichs und Deutschlands durch ein europäisches Wettbewerbsrecht... ruiniert wird. Tatsache aber ist, seit über 100 Jahren pflegen unsere drei Länder diese Art Umgang mit Büchern, was dafür gesorgt hat, daß wir die bei weitem lesestärksten und mit den meisten Büchern pro Kopf versorgten Nationen der Welt sind. Dieses würde sich radikal ändern, wenn dieser Schutz der Nischen, der kleinen Buchhandlungen, durch den gebundenen Ladenpreis abgeschafft wird. Das droht zur Zeit....

Frage: Dieses Dogma des Marktes, der ja dann letztlich das Heil des Menschen garantiert, steht ja dem Schutz, den Grenzen entgegen, die man auch setzen muß, gerade in der Kultur. Brauchen wir nicht Grenzen in dieser Zeit, in der das Grenzenlose mal per se als fortschrittlich betrachtet wird? Brauchen wir nicht auch Räume, kulturelle Räume, in die wir uns auch zurückziehen können? Ist diesem Globalisierungswahn nicht da etwas entgegen zu setzen?

Naumann: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sprechen Sie für die Autonomie von kulturellen Räumen. Ich finde, die Schweiz macht es auf eine fabelhafte und interessante Weise vor, wie es geht. Ich selber finde den Tag bedauerlich, an dem man zwar über Grenzen fährt, aber dann nicht mehr in einem anderen Land ankommt, sondern - ich nenne es einmal - in der Benetton-Welt. Ich möchte jetzt nicht die arme Firma Benetton als Inbegriff von etwas Bösem, aber als Inbegriff einer globalisierten Mode zum Beispiel nehmen, die gibt es nun in aller Welt, tüchtige Firma. Die Frage ist, ob man diese Tüchtigkeit auch im kulturellen Bereich braucht. Für mich gibt es eben nichts Bestürzenderes, als in Amerika zu landen und dort die drei Tenöre im Fahrstuhl zu hören, und ich bin aus einem Flugzeug gekommen, da gibt es auch die drei Tenöre. Das ist für mich der Inbegriff einer Stratifizierung, marktpolitischer Stratifizierung von Kultur. Es gibt nur noch das Immer-Gleiche und nicht mehr das Anstrengend-Abwechselnde. Das zu retten, hat Europa enorme Chancen. Denn weil wir ja diese vielen Sprachen und Regionen und uralten Traditionen haben - einige sind tribalistisch-irrsinnig, andere sind wunderbar - , haben wir eine große Chance, das zu bewahren unter anderem auch durch regionale und nationale und im übrigen auch europäische Schutzmaßnahmen. Das wird uns von den ordoliberalen Politikern und Journalisten schwer gemacht. Es gibt viele Leute, die der Meinung sind, zum Beispiel mit dieser Kleinspezialität gebundener Ladenpreis, das brauchen wir nicht, der Markt soll alles entscheiden. Wenn der Markt alles entscheidet, werden wir feststellen, daß es in Deutschland und auch in Österreich und auch in der Schweiz binnen weniger Jahre ungefähr 40 bis 50 Prozent weniger kleine Buchgeschäfte gibt und nur noch große Ketten, die lukrativer zu führen sind, da macht man einfach mehr Umsatz, mehr Rendite und um die dann noch ein bißchen zu erhöhen, wird man dann auch auf die Buchhändlerin und den Buchhändler mit ihrer zweijährigen Ausbildung verzichten können und schon sind wir da angelandet, wo heute Amerika steht. ... Kultur, kulturelle Unterhaltung zum Beispiel oder kulturelle Manifestationen jeglicher Art, ob Literatur oder Musik, ist, wenn sie gut ist, immer erst neu und darum herausfordernd und insofern störend, wie Busch sagt, mit Lärm verbunden. Wenn dieser Stachel in der Seite einer Gesellschaft erst einmal verschwunden ist, dann wird jede Gesellschaft früher oder später vergessen, was es bedeutet, frei zu sein, wird vergessen, was es bedeutet, innovativ zu sein, wird möglicherweise auch keine Phantasie mehr haben. Das sind in Wirklichkeit die wirklichen Leistungen und die kulturellen Leistungen, die eine Gesellschaft sich selbst antut, indem sie Kultur fördert.

Frage: Wir haben ein Beispiel dafür, was Kulturunterdrückung hervorbringen kann, wenn Menschen ihre Räume nicht haben, ihre eigenen Grenzen nicht haben. Das ist jetzt die ganze Kurdenproblematik in Westeuropa. Es entlädt sich ja der Terrorismus hier auf schrecklichste Form, kriminelle Form. Aber es ist zutiefst ein Problem von Menschen, die in der Nähe Europas ihre Kultur haben, aber ihre Grenzen nie kriegten. Also gibt es doch, wenn man die Kultur unterdrückt, Widerstand?

Naumann: Es gibt Widerstand, aber hier gibt es viele, viele andere Gründe, die zu diesen jetzigen Gewaltprotuberanzen der Kurden hier in Deutschland, aber nicht nur hier, sondern auch anderswo in Europa, geführt haben. Ich glaube, die Kurden sind auf eine schreckliche Weise auch Erben des europäischen Irredentismus und Nationalismus und der europäischen Ideologie. Kultivierte Existenz, vernünftige Existenz ist nicht immer gebunden an territoriale Gleichheit. Man muß davon ausgehen, in ganz Europa gibt es Kulturinseln, die über Jahrtausende existiert haben, aber auf alle Fälle über Jahrhunderte, ohne daß dieser Irredentismus und diese territorialen Haßausbrüche, wie wir sie im Augenblick erleben, die Regel gewesen wären. ... Jedenfalls läßt sich diese Frage von uns nicht lösen. Wir können den Kurden kein Territorium in Europa ausschneiden. Wir können lediglich die Türken und die türkische Republik auffordern, den Umgang mit den Kurden und mit den kurdischen Autonomiebestrebungen nach den Maßstäben zu versuchen und zu führen, die hier in einem ewigen tribalistischen Irrsinn und dem diplomatischen Wahnsinn und in vielen Kriegen sich schließlich herausgemendelt haben als die Lebensform, mit der friedliches Nebeneinander möglich ist. Das muß auch die Türkei kapieren und das bedeutet unter anderem Anerkennung der Menschenrechte, Schluß mit der Folter, Schluß mit der Unterdrückung von Schriftstellern, die zum Beispiel die kurdische Situation thematisieren, Schluß mit der Unterdrückung von kurdischen Journalisten, ganz einfach, zivilisiert euch selbst und ihr werdet alsbald feststellen, das Problem der Kurden, von den Armeniern mal ganz zu schweigen, von dem die Türken ja nichts wissen wollen, könnte auf eine friedlichere Weise gelöst werden, als daß bisher der Fall ist. Dasselbe auch an die Adresse von Saddam Hussein zu richten oder an die Adresse der persischen Regimes - auch da wohnen Kurden - , ist sowieso völlig sinnlos. Aber den Türken darf man das sagen. Ich mache sie nicht verantwortlich für das, was jetzt hier passiert. Das ist die politische Führung der Kurden Europas. Das ist der größte Fehler, den die in den letzten 20 Jahren gemacht haben, unverzeihlicher politischer Unsinn und darüber kriminell. ...

Frage: Es gibt ja so etwas wie die Hoffnung, das Prinzip Hoffnung, daß auf solche Entwicklungen, wie wir sie jetzt sehen, diese Entfesselung eines völlig entseelten Kapitalismus, der vor allem über irreale Werte, Börsenwerte, sich ausbreitet und Macht gewinnt, daß darauf die Menschen plötzlich mal negativ reagieren. Das wäre dann der kulturelle Widerstand, den ich gemeint habe. Sie haben gesagt, den gibt es nicht?

Naumann: Der kulturelle Widerstand wird in dieser Form nicht stattfinden, sondern was stattfinden wird, ist ein wirtschaftlicher Schock. Denn jeder weiß, daß diese Akkumulation von immer mehr Geld, was gar nicht mehr konsumiert wird, sondern für immer neue Spiele auf der Börse eingesetzt werden wird, schließlich dem Wirtschaftskreislauf und dem wirklichen Leben entzogen wird. Es kreisen gewissermaßen sinnloserweise Milliarden, viele Milliarden von Dollars im Augenblick in diesem Kasino, genannt Börse, verwaltet von 20- bis 30jährigen jungen Männern. Das wird irgendwann einmal schief gehen, das weiß ich, das wissen auch all die, die dort beschäftigt sind.