Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 06.06.2000
Anrede: Sehr geehrter Präsident Meri, sehr geehrter Parlamentspräsident Savi, sehr geehrter Ministerpräsident Laar, sehr geehrter stellvertretender Parlamentspräsident Kelam, sehr geehrte Abgeordnete, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/11/11011/multi.htm
Es ist für mich eine große Ehre, hier vor dem Hohen Haus zu Ihnen zu sprechen. Ich danke Ihnen hierfür.
Zunächst möchte ich für die große Gastfreundschaft danken, die ich gestern und heute hier genießen konnte. Tallinn ist mit den vielen gotischen Baudenkmälern nicht nur eine wunderschöne Stadt. Sie ist von Europa geprägt und Europa zugewandt, in ihr spürt man den weltoffenen und freiheitsbewussten hanseatischen Bürgersinn. Und, nicht zuletzt, eine Stadt, in der die Jahrhunderte der gemeinsamen estnisch-deutschen Geschichte überall deutlich werden.
I. Es ist das erste Mal, dass ein deutscher Bundeskanzler Tallinn besucht.
Wir Deutsche haben mit Freude und Bewunderung gesehen, welchen Weg Estland seit 1989 in die demokratische Staatengemeinschaft zurückgelegt hat.
Ich bin froh und stolz darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland einer der ersten Staaten war, der die wiedergewonnene Unabhängigkeit Estlands offiziell anerkannt hat.
II. Deutschland und Estland verbinden nahezu acht Jahrhunderte Geschichte, in der - dessen bin ich mir sehr bewusst - das estnische Volk viel gelitten hat. Die Hypotheken dieser Geschichte geben uns Deutschen eine besondere Verantwortung für die Reintegration Estlands in die europäischen Strukturen. Vor allem aber verbindet uns eine gemeinsame Vision für die Zukunft, gegründet auf gemeinsamen Überzeugungen und Wertvorstellungen.
Ihr mutiges und zugleich verantwortungsvolles Streben nach Freiheit und Demokratie brachte ihnen 1991 die Unabhängigkeit wieder - ohne Blutvergießen. Es trug zugleich zum Ende der kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa bei. Estland hat damit einen wertvollen Beitrag zur Überwindung der Spaltung Europas geleistet.
Heute, nach zehn Jahren der Begegnung und Zusammenarbeit - bilateral, multilateral, mit den Bundesländern, zwischen den Kommunen und zwischen den Menschen - gibt es bereits wieder ein dichtes, vertrauensvolles, Tag für Tag enger werdendes Geflecht von Beziehungen auf allen Gebieten.
III. Der Ostseeraum hat sich in den letzten zehn Jahren über alle Erwartungen hinaus dynamisch entwickelt. Wirtschaftliche Entwicklung hat soziale Stabilität bewirkt, die sich ihrerseits positiv auf Sicherheit und Demokratie auswirkt. Neue, ungeahnte Perspektiven eröffnen sich.
Es ist in Deutschland viel zu wenig bekannt, dass die deutschen Exporte in den Ostseeraum mehr als viermal so groß sind wie die nach Japan. Der Anteil der deutschen Ex- und Importe in den Ostseeraum macht bereits über 8 Prozent des gesamten deutschen Außenhandels aus. Allein im Zeitraum von 1993 bis 1998 haben sich die deutschen Exporte nach Estland mehr als verdreifacht. Ein klares Zeichen der Expansion und Aufnahmefähigkeit der estnischen Wirtschaft, aber auch der zunehmenden Verflechtung zwischen unseren Volkswirtschaften.
Ich weiß: an den deutschen Auslandsinvestitionen in Estland müssen wir noch gemeinsam arbeiten.
IV. Estland führt seit zwei Jahren Beitrittsverhandlungen mit der EU.
Seine Einladung in die erste Verhandlungsgruppe war eine Anerkennung für die beispielhaften Fortschritte, die Estland beim Wiederaufbau seiner demokratischen Institutionen und bei der marktwirtschaftlichen Transformation erzielt hat.
Gerade wir Deutschen wissen, wie schwierig es ist, die Hinterlassenschaft von 50 Jahren Kommunismus, in ihrem Falle gekoppelt mit Fremdherrschaft, zu überwinden. Es erfüllt mich mit großer Genugtuung, dass eine ganz entscheidende Strukturreform - die Privatisierung - mit deutscher Hilfe zum Erfolgsmodell für ganz Mittel- und Osteuropa wurde. Nach dem, was ich hier gesehen habe, bin ich zuversichtlich, dass Estland dieses Reformtempo beibehalten und als eines der ersten Länder der EU beitreten wird.
Die Erweiterung der Europäischen Union bedeutet aber nicht nur die Vergrößerung eines gemeinsamen Marktes. Es geht um die Schaffung einer Politischen Union. Wir dürfen die einmalige Chance, Europa auf der Basis gemeinsamer Ideale und Werte friedlich zu vereinen, nicht verspielen.
Jetzt, wo die Beitrittsverhandlungen zu den schwierigen Kapiteln kommen, ist gelegentlich die Sorge zu vernehmen, Deutschland verliere den Elan zur Erweiterung. Diese Sorge - das will ich hier ganz deutlich sagen - ist unbegründet. Wir Deutschen wissen: Wir brauchen die Union als dauerhaften Garanten für Frieden, Sicherheit, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit für unseren ganzen Kontinent. Daher werden wir auch alles daransetzen, dass die französische EU-Präsidentschaft zu einem Erfolg wird und die Regierungskonferenz zur institutionellen Reform der EU rechtzeitig abschließt.
V. Die friedenstiftende Kraft der Europäischen Union wirkt bereits weit über ihre Grenzen hinaus. Im Bewusstsein, dass die EU keine Länder mit ungeklärten Territorial- oder Minderheitsfragen aufnehmen kann, haben alle Beitrittsaspiranten große Anstrengungen unternommen, historische Probleme und Erblasten aufzuarbeiten.
Mit großem Respekt habe ich verfolgt, welche Leistung Estland bei der Integration seiner russischsprachigen Mitbürger, eines Drittels seiner Bevölkerung, vollbracht hat. Für ein kleines Land, dessen kulturelles und sprachliches Überleben über die Jahrhunderte immer in Gefahr waren, ist dies fürwahr eine große humane Leistung. Sie schließt an die besten estnischen Traditionen an: das vorbildliche Minderheitenstatut von 1925, das unter anderem auch den Deutschbalten Kulturautonomie gab. Ich begrüße ausdrücklich die Umsetzung der Empfehlungen der OSZE und der EU und bin zuversichtlich, dass auch die letzte Hürde des Sprachengesetzes im Einklang mit diesen Empfehlungen genommen wird.
Die estnische Bereitschaft zur Versöhnung und zum Miteinander enthält eine zutiefst europäische Botschaft. Ich weiß: Estland wird auf diesem für seine innere Stabilität so wichtigen Weg konsequent fortschreiten.
VI. Wir wollen ein selbstbewusstes Europa, ein Europa der Menschen, kein Europa der Nationalismen.
Die junge Generation in unseren Ländern weiß und praktiziert es bereits in ihrem Alltag: Sie fühlen sich als Iren, Franzosen, Esten, Deutsche und sind zugleich Bürger des zusammenwachsenden Europas. Durch den engen Austausch kommt ihre nationale Identität zuweilen sogar besser zur Geltung. Sie entfaltet eine kreative, europäische Dynamik. Ihnen ist klar, dass wir alle von- und miteinander lernen können.
Wir werden die Erweiterung der Europäischen Union als Bereicherung erfahren: bereichert auch durch die Kreativität und Wissbegierde der Menschen in Estland, durch ihre oft auch schmerzlichen Erfahrungen im Prozess der Reform von Gesellschaft und Wirtschaft.
Wir wollen im 21. Jahrhundert die Vision eines geeinten, friedlichen, demokratischen Europas wahr werden lassen. Dazu müssen wir alle Kräfte Europas, auch die der Beitrittsstaaten, bündeln.
Europa muss nach außen zunehmend mit einer Stimme sprechen und eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik haben. Gelingt uns das nicht, sind wir nur Beobachter der Globalisierung statt Mitgestalter.
Es geht darum, unser europäisches Gesellschaftsmodell zu sichern und auszubauen. Alle Menschen sollen am Gemeinwesen, am Haben und Sagen in der Gesellschaft, teilhaben. Dafür brauchen wir vor allem Chancengerechtigkeit, eine aktive Zivilgesellschaft und die Voraussetzungen für den Zugang möglichst vieler zu Wissen und Information. Der Europäische Rat Lissabon hat dazu wegweisende Beschlüsse gefasst.
VII. Die Einbindung des Ostseeraums in die euro-atlantischen Sicherheitsstrukturen schreitet voran. Finnland und Schweden sind EU-Mitgliedstaaten geworden. Polen wurde 1999 in die NATO aufgenommen.
Deutschland und Estland sind von den Entwicklungen an den Küsten der Ostsee stets unmittelbar betroffen. Wir haben daher ein gemeinsames Interesse an der Festigung von Stabilität, Wohlstand und Sicherheit durch Zusammenarbeit im Ostseeraum und in ganz Europa.
Garant eines friedlichen Zusammenlebens im Ostseeraum ist eine kooperative Sicherheitsarchitektur, die die Antagonismen der Vergangenheit überwindet. Diese muss alle Anrainer gleichberechtigt einbeziehen. Dies gilt auch für Russland. Wir sind daher um eine gute und enge Zusammenarbeit mit Russland bemüht. Die Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO ist Ausdruck des Rechts aller Staaten, die Wege selbst zu wählen, auf denen sie ihre Sicherheit gewährleisten wollen.
Unser vorrangiges Ziel bleibt die Erhöhung der Sicherheit und Stabilität in Mittel- und Osteuropa insgesamt. Wir wollen keine neuen Gräben, sondern eine europäische Ordnung, die sicherheitspolitische Grau- und Trennzonen vermeidet. Für uns war es daher ein wichtiger Schritt, dass der NATO-Gipfel im April 1999 in Washington den Beitrittswunsch Estlands und der übrigen Beitrittskandidaten begrüßt und einen Aktionsplan zur Vorbereitung auf eine künftige Mitgliedschaft gebilligt hat.
Ich möchte Sie ermutigen, sich weiterhin aktiv am Programm "Partnerschaft für den Frieden" und am Euro-Atlantischen Kooperationsrat zu beteiligen. Mit unserer Unterstützung werden Sie dabei auch in Zukunft rechnen können.
VIII. Dieser Prozess ist nicht gegen Russland gerichtet. Die NATO hat mit Russland 1997 die Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit unterzeichnet. Darin erklären beide Seiten ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei der Gestaltung einer dauerhaften und umfassenden Friedensordnung in Europa. Die Möglichkeiten der Grundakte werden leider noch nicht umfassend genutzt. Hieran werden wir, gemeinsam mit Russland, weiter arbeiten.
Die Rolle Russlands in Europa ist von strategischer Bedeutung. Estland und Deutschland können von partnerschaftlichen Beziehungen zu Russland nur profitieren. Präsident Putin wird in wenigen Tagen nach Berlin kommen. Wir wollen die guten Beziehungen weiter vertiefen und vor allem Grundlagen und Perspektiven für eine verstärkte Einbeziehung Russlands in Europa erörtern. Ich verhehle nicht, dass ich in diesem Zusammenhang vor dem Hintergrund der Lageentwicklung in Tschetschenien gewisse Sorgen hege.
IX. Eine wichtige stabilisierende und sicherheitsfördernde Funktion in der Region hat der Ostseerat. Er ist Impulsgeber einer langfristig auf Kooperation und Integration angelegten Regionalpolitik, in der Estland wie auch Deutschland eine wichtige Rolle spielen.
Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt in wenigen Tagen den Vorsitz des Rates. Wir wollen das große Potential des Ostseerats für konkrete Projekte der Zusammenarbeit, insbesondere im Handel und der regionalen Kooperation weiter ausschöpfen. Ich begrüße sehr, dass Estland, Lettland und Litauen ihre Integration untereinander soweit nur irgend möglich stärken. Gerade die kooperativen Strukturen im Ostseerat werden das Zusammenwachsen der Region stark begünstigen.
Auch die EU gibt der Zusammenarbeit im Ostseeraum erhöhte Priorität.
Auf dem Europäischen Rat in Feira in einigen Wochen wollen wir einen konkreten Aktions-Plan zur EU-Initiative der "Nördlichen Dimension" verabschieden. Unser Ziel ist, Politikfelder zu bündeln und die Instrumente der EU im Ostseebereich zielgerichteter einzusetzen.
X. Deutschland und Estland sind Teile des zusammenwachsenden Europas. Estland kehrt wieder auf seinen angestammten Platz zurück. Wir, Esten und Deutsche, wollen die Integration Europas kraftvoll voranbringen.
Das ist die Lehre, die wir aus den tragischen Kapiteln des 20. Jahrhunderts ziehen. Das ist auch unser Auftrag für das 21. Jahrhundert. Lassen Sie uns auf diesem Weg gemeinsam vorangehen.