Redner(in): Angela Merkel
Datum: 25.01.2008
Untertitel: Thema des Forums: "Herausforderungen und Methoden zur Bekämpfung des Antisemitismus" in Berlin
Anrede: Herr Bundestagspräsident, Herr Botschafter Nyberg, lieber Herr Kollege Weisskirchen, Frau Knobloch, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2008/01/2008-01-25-rede-bkin-holocaust,layoutVariant=Druckansicht.html
Gäste, meine Damen und Herren, wir haben soeben und das ist in der Tat fast ein bisschen symbolisch in einer Gedenkstunde des Deutschen Bundestages der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Diese Gedenkstunde führt uns jedes Jahr in unterschiedlicher Form immer wieder vor Augen, wie das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte aussah und mit welchen Folgen es einherging: mit einer Welle von Krieg, Hass und Gewalt über Europa und die Welt, mit Kaltblütigkeit und einer Systematik der Vernichtung von jüdischem Leben insgesamt. Heute wurde dazu in dieser Veranstaltung ein Text von Frau Reinerová sehr beeindruckend vorgetragen. Es bleibt uns letztlich die Unfassbarkeit dessen, was geschehen ist, aber auch die Verantwortung, die daraus erwächst. Ich darf auch für die Bundesregierung sagen, dass wir uns dieser Verantwortung stellen und dass wir uns natürlich auch mit der Frage auseinander setzen: Wie können wir von Generation zu Generation dieser Verantwortung gerecht werden? Wie können wir dieser Verantwortung gerecht werden, wenn die Zeitzeugen eines Tages nicht mehr unter uns sind? Es ist eine ganz spezielle Verantwortung derer, die heute politische Verantwortung tragen, darauf geeignete Antworten zu finden. Es gibt aber auch neben der Politik eine Vielzahl von Initiativen von Menschen in der gesamten Zivilgesellschaft auch das darf ich sagen, die sich dieses Themas annehmen. Das ist immer wieder sehr, sehr ermutigend. Ich habe in dieser Woche junge Preisträger der Aktion "Weiße Flecken" ausgezeichnet, die in ihrer Heimat den historischen Spuren von Bücherverbrennungen und von Konzentrationslagern, die nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und fast vergessen sind, nachgehen. Das ist ermutigend. Das Wunder, für das wir nur dankbar sein können, ist, dass es wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt. Es gibt eine Vielzahl von neuen Synagogen. Ich denke etwa an die Synagoge in der Rykestraße in Berlin. Es gibt jüdisches Leben in ganz neuer Form durch die zu uns gekommenen Juden aus Russland. Damit ist eine unglaubliche Aufgabe für die jüdische Gemeinde in Deutschland verbunden, bei der wir die gesamtgesellschaftliche Verpflichtung haben, zu helfen. Wenn man sieht, vor welcher Integrationsaufgabe die jüdische Gemeinde steht, so können wir sie auf gar keinen Fall damit alleine lassen. Wenn man aber aus so einer Gedenkstunde wie heute kommt der Bundestagspräsident hat es auch noch einmal gesagt und sich die Schandtaten Deutschlands vor Augen führt, die geschehen sind, dann ist es umso unfassbarer, dass Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in unserem Land existieren und zutage treten. Es hilft auch nicht, darauf zu verweisen, dass das auch in anderen Ländern vorkommt, sondern man muss sich mit dieser Sache auseinander setzen. Man kann leicht sagen: Wir stellen uns dieser Verantwortung. Ich glaube, wir tun es wirklich. Wir bekämpfen rassistische Gewalttaten und rechtsextremes Gedankengut mit den Mitteln des Rechtsstaates. Manchmal ringen wir darum, welche Wege wir zu gehen haben, ob Parteiverbote möglich sind oder nicht, ob sie einen Rechtsstaat stärken oder nicht. Es gibt Programme gegen Rechtsextremismus. Diese haben wir angesichts manchmal schrecklicher Gewalttaten auch finanziell aufgestockt. Aber ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, dass damit ein allgemeingültiges Rezept, wie wir damit zurande kommen, natürlich mitnichten gefunden ist. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass angesichts von Ängsten vor Globalisierung und von zu viel Offenheit demokratischer Gesellschaften rechtsextremes und antisemitisches Gedankengut eher wieder eine Chance hat, in die Köpfe von Menschen hineinzugeraten, von denen man es eigentlich gar nicht erwartet. Ein Erklärungsmuster ist manchmal und dem muss man nachgehen, dass die Gefährdungen natürlich immer dann besonders groß sind, wenn die Personen selber in einer sozial schwierigen Lage sind. Ich plädiere trotzdem immer dafür, damit nichts zu entschuldigen; das kann niemals eine Entschuldigung sein. Sicherlich sind Gesellschaften, die als gerecht empfunden werden, besser gegen Anwürfe aller Art gefeit. Dennoch erlebe ich manchmal auch in gebildeteren Schichten der Bevölkerung sehr krude Gedankengänge und einen verkappten Antisemitismus, der nicht so richtig erkennbar ist, wobei aber immer wieder versucht wird, Gruppenphänomene zu definieren, um letztlich Ausgrenzung in irgendeiner Weise zu erklären. Es gehört zu den eigentlich unhaltbaren Zuständen, dass es keine jüdische Einrichtung gibt auch das ist gesagt worden, die in Deutschland ohne Polizeischutz sein kann. Das beschränkt sich nicht nur auf die Synagogen. Kein jüdischer Kindergarten, keine jüdische Schule ist ohne Polizeischutz. Was mir fast noch die meisten Sorgen macht, ist die Tatsache, dass es in weiten Teilen der Bevölkerung trotz aller historischen Bildung und trotz all dessen, was geschehen ist, eine bestimmte Sprachlosigkeit bezüglich der eigenen Geschichte gibt. Es gibt auch immer die Gefahr, dass Dinge nicht offen ausgesprochen oder vermengt werden, so zum Beispielmit der Frage: Ist das Antisemitismus, wenn ich Israel kritisiere? Bei manchen führt das sogar dazu, dass sie sagen: Am besten, du sprichst überhaupt nicht mehr über Juden, dann machst du wenigstens nichts falsch. Das ist ein Phänomen, mit dem wir uns in der politischen Bildung und in unserem Tun am stärksten auseinander setzen müssen. Wir müssen Menschen ermutigen, zu sprechen. Denn die Denkweise, die nicht mehr ausgesprochen wird, kann sich verfestigen und in Antisemitismus und Rassismus umschlagen. Von Gewaltphänomenen bis hin zu recht bürgerlichen Formen von Antisemitismus treffen wir viele Phänomene an. Deshalb ist diese Konferenz auch so wichtig. Natürlich haben wir alle noch die Antisemitismus-Konferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Jahr 2004 in Berlin vor Augen, auf der eine gemeinsame Haltung gegen Antisemitismus gefunden und die "Berliner Erklärung" verabschiedet wurde. Diese Konferenz heute im Rahmen der OSZE ist so wichtig, weil sie uns ganz speziell in Deutschland und im Austausch mit anderen helfen kann, darüber nachzudenken, was man am besten tun und wie man am besten ein Zeichen setzen kann, ohne dass wir in gegenseitige Beschuldigungen und Bezichtigungen verfallen. Das ist gerade das Schöne an einem solchen Austausch. Deshalb wünsche ich Ihnen einfach sehr ehrliche Gespräche, in denen keiner etwas unter den Teppich kehrt. Und wenn ich die Probleme genannt habe, so sollte das keine depressive Bemerkung sein. Aber ich wünsche Ihnen auch Gespräche, in denen der feste Wille zum Ausdruck kommt, dass wir es schaffen können in unserer demokratischen Gesellschaft haben wir dazu die Möglichkeit, wenn wir ein Stück weit auch mutig sind und den Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg gehen, Antisemitismus und Gewalt wirklich zu ächten und das auch der jungen Generation durch eigenes Handeln sehr, sehr deutlich zu machen. Insofern viel Erfolg und Ihnen, Herr Weisskirchen, ein ganz besonderes Dankeschön dafür, dass Sie sich auch im Strom der politischen Tagesereignisse dieses Themas unermüdlich immer wieder annehmen. Wir sind ein Stück weit stolz auf unseren Kollegen aus dem Deutschen Bundestag.