Redner(in): Angela Merkel
Datum: 12.06.2008

Untertitel: gehalten in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Minister Glos, lieber Michael, lieber Herr Steinbrück, liebe Annette Schavan, Herr Professor Tietmeyer, verehrte Gäste, Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2008/06/2008-06-12-rede-merkel-60-jahre-soziale-marktwirtschaft,layoutVariant=Druckansicht.html


in diesem Monat jährt sich einer der großen Jahrestage unseres Landes. Wir feiern eine der wirkungsmächtigsten positiven Zäsuren, die unser Land erlebt hat. Vor 60Jahren erhielt die Freiheit in unserem Land ihre wirtschaftliche Grundlage.

Wir feiern den politischen Mut, mehr Freiheit zu wagen und zu gewinnen. Wir feiern einen großen Gestalter unseres Landes und seine Gabe, die Menschen selbst zu Gestaltern ihres Schicksals zu machen. Wir feiern die Soziale Marktwirtschaft und mit ihr den Mann, der sie prägte und durchsetzte: Ludwig Erhard.

Heute ist es kaum noch möglich der Film hat uns vorhin ein bisschen dabei geholfen, die Lage vor 60Jahren zu erfassen. Das Land ist zerstört. Ruinen zeichnen die Städte. Die unermesslichen Gräuel des Nazi-Terrors und des Krieges haben Millionen mit dem Leben bezahlt und die Deutschen, von denen sie ausgingen, in der Welt geächtet. Millionen sind vertrieben, das Land ist besetzt, es droht die Spaltung. Die Wirtschaft liegt danieder, das Geld ist nichts wert. Viele hungern.

In dieser Situation hat Ludwig Erhard eine Idee. Er erkennt: Ich muss den Menschen ihre Freiheit lassen und sie werden das Beste daraus machen. Das ist ein unerhörter Gedanke. Es ist, würde ich sagen, ein revolutionärer Gedanke gewesen. Dieser Gedanke hat die Deutschen verändert.

Ludwig Erhard hat all das vor Augen, als er 1948 die Zukunft Deutschlands plant. Die Alliierten hatten eigentlich für den Mann mit der Zigarre eine bürokratische Nebenrolle vorgesehen. Er sollte die neue Währung, die D-Mark, verteilen. Doch Erhard denkt nicht daran, sich allein darauf zu beschränken. Denn er ist in großer Sorge: Was ist, wenn die neue Währung kommt und sich nichts ändert außer den Bildern auf den Scheinen? Wenn Hunger und Mangel bleiben? Als junger Mann hatte Erhard erlebt, wie Wirtschaftskrise und Inflation den Zerstörern der Weimarer Demokratie in die Hände spielten.

In dieser Lage ist Ludwig Erhard von einem Gefühl beseelt, das er mit einem wunderbaren Wort beschreibt: "Verantwortungsfreudigkeit" was für ein Wort. Heute würden wir vielleicht eher Verantwortungsfreude sagen, aber der Sinn ist derselbe. Wir sollten dieses Wort uns selbst zum Motto unseres heutigen Handelns machen: Verantwortungsfreude!

Aus Verantwortungsfreude macht Erhard das, was ihm sein Verstand und sein Gewissen raten: eine Wirtschaftsreform. Denn er ist überzeugt: Eine Währungsreform ohne Wirtschaftsreform das muss scheitern. Eine Währungsreform mit Wirtschaftsreform das muss gelingen.

Die neue Währung sollte das Symbol für eine neue Zeit sein, die Umstellung der Startschuss für ein sich erholendes Land ein großer Aufbruch. Dafür müssen, das ist Erhards Überzeugung, vor allen Dingen die Fesseln fallen, die das wirtschaftliche Leben einschnüren. Erhard ist stur genug das Wort ist hier schon gefallen, um bei seiner Meinung zu bleiben, und klug genug, um sie durchzusetzen.

Erhard denkt nicht in den Kategorien des Status quo. Erhard sieht die Energie der Eigeninitiative. Erhard spürt die Kraft der Freiheit, um das zentrale Versprechen seiner Sozialen Marktwirtschaft für jeden einzelnen Menschen einzulösen: Einstieg und Aufstieg zu ermöglichen, entsprechend den individuellen Fähigkeiten und Neigungen.

Genau diese Energie der Eigeninitiative, diese Kraft der Freiheit waren es im Übrigen auch, die es uns möglich gemacht haben, 1990 die Deutsche Einheit zu gestalten. Trotz allem, was noch zu bewältigen ist, sollten wir nie vergessen: In weniger als 20Jahren Deutscher Einheit ist es gelungen, 40Jahre Planwirtschaft und die daraus entstandenen Schäden zu überwinden. Das ist alles in allem für Deutschland eine riesige Erfolgsgeschichte.

So also, meine Damen und Herren, schließt sich der Kreis unseres historischen Rückblicks: Aus dem Jahr 1948 lässt sich die Lehre ziehen, verantwortungsfreudig klare Ziele zu verfolgen. Aus diesem Jahr können wir außerdem noch lernen, was mit Beharrlichkeit zu schaffen ist.

Natürlich: Heute sind wir alle schlauer als damals. Heute wissen alle, dass die Erhardschen Reformen ein großer, ein historischer Erfolg waren, der den Deutschen erst im Westen, später auch im Osten Wohlstand, Arbeit, Sicherheit und natürlich Freiheit ermöglicht hat. Heute kennen wir alle das Wort vom Wirtschaftswunder, mit dem die Zeit, die im Juni 1948 begann, beinahe ein bisschen verklärt wird.

Damals aber stand Erhard zu Beginn fast allein. Das Wunder, von dem wir heute sprechen, wäre beinahe zu Ende gewesen, noch ehe es richtig begonnen hatte. Denn am 12. November 1948 fand der erste und einzige Generalstreik des Nachkriegsdeutschlands statt, der die Erhardschen Reformen beenden sollte. Wie gut, dass Erhard die Nerven behielt. Wie gut, dass er ein klares Ziel vermitteln konnte und wie gut, dass er das Steuer gerade hielt, bis sich der Erfolg dann offenbart hat. Wie gut also, dass er beharrlich blieb.

Es mag uns trösten: Selbst ein Ludwig Erhard konnte das Paradoxon jeder wirtschaftlichen Erneuerung nicht aufheben, dass jede Veränderung zum Besseren zunächst auch Unannehmlichkeiten bedeutet, die durchgestanden sein wollen. Das Ergebnis war eine Verheißung die Verheißung der Sozialen Marktwirtschaft. Erhard selbst war es immer wichtig, dass dieser Begriff richtig verstanden wurde. Der zentrale Gedanke dieses Begriffes ist für ihn der Leistungswettbewerb.

Das heißt ganz einfach: Wettbewerb fördert Leistung und ermöglicht damit Soziales. Erhard ahnte es und wir wissen es: Unkluge Sozialgesetze entmutigen die Leistung und untergraben den Wettbewerb. Wann immer wir Gesetze machen, müssen wir deshalb fragen: Stärken wir den Wettbewerb, fördern wir Leistung? Denn nur wenn wir das tun, schaffen wir die Voraussetzungen für wirkliche soziale Verbesserungen.

Meine Damen und Herren, jeder von uns weiß und erlebt es: Seit 1948 hat sich die Welt verändert. Wir fassen das heute in einem Stichwort zusammen: Globalisierung. Es bringt diese Veränderung auf den Punkt. Diese Globalisierung bringt eine Entwicklung mit sich, von der Erhard sicher kaum zu träumen gewagt hatte: Die Entwicklung, dass sich die klassischen Planwirtschaften dieser Welt, wie wir sie insbesondere bis zum Ende des Kalten Krieges kannten, weitgehend aufgelöst haben.

Aber diese Entwicklung hält auch eine für uns neue Erkenntnis bereit: Ging Erhard davon aus, dass eine freie, nicht vom Staat dirigierte Wirtschaft geradezu zwangsläufig eine demokratische Staatsform mit sich bringt, ist das heute nicht so eindeutig. Denn während alle Demokratien eine freiheitliche Wirtschaft haben, so gilt der Umkehrschluss nicht zwangsläufig. Wer die Wirtschaft von staatlichen Fesseln befreit, schafft damit also noch nicht automatisch eine Demokratie.

Ich bin davon überzeugt: Genau darin besteht eine der ganz großen Herausforderungen für uns heute in einer Zeit, in der sich die Globalisierung, also das Zusammenrücken der Welt, geradezu spürbar exponentiell beschleunigt. Wir müssen im Wettbewerb mit marktwirtschaftlichen Strukturen in anderen Ländern bestehen, die noch nicht zwangsläufig Demokratien sind. Ich sage aber auch bewusst: noch nicht.

Es geht also heute in der nationalen ebenso wie in der internationalen Diskussion um mehr als nur um Wettbewerb. Diese Beobachtung von heute gibt einem anderen der bedeutenden Denker der Sozialen Marktwirtschaft neues Gewicht. Es ist Wilhelm Röpke, der uns lehrt, dass die Soziale Marktwirtschaft nicht in der Lage ist, ihre eigenen Voraussetzungen zu schaffen. Vielmehr brauchen wir Werte, gelebte Werte. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass die Marktwirtschaft uns Menschen auch wirklich gerecht wird.

Das ist nicht nur blanke Theorie, denn sofort fallen uns viele und zu viele aktuelle Beispiele ein, wie im Wirtschaftsleben Werte in den Hintergrund traten oder getreten wurden und wie dieses Verhalten das Vertrauen in unsere Wirtschaftsordnung beschädigt hat. Ich will mich heute an der Aufzählung dieser Beispiele nicht beteiligen. Dafür ist mir die heutige Feierstunde zu kostbar.

Ich mache es einfach einmal umgekehrt und will Ihnen andere Beispiele geben. Da vereinbart ein Unternehmen in der Krise: Wir alle verzichten auf einen Teil unserer Löhne. Als die Krise gemeinsam überwunden ist, werden die gestundeten Löhne ausgezahlt mit Zinsen. Danke an die LoeweAG in Kronach für dieses Vorbild.

Oder da übergibt ein Vorstandsvorsitzender eines Großunternehmens vorzeitig an seinen Nachfolger und verzichtet auf eine vertraglich zugesicherte üppige Abfindung. Danke an Klaus-Peter Müller von der Commerzbank für dieses Beispiel.

Da gibt es Millionen von Deutschen, die in den letzten Jahren eine neue Tätigkeit angenommen haben, die sich zu Hunderttausenden selbständig gemacht haben. Dank ihnen allen, denn sie geben unserem Land und ihrem eigenen Leben neuen Schwung. Sie tragen unser Gemeinwesen.

Liebe Vertreter der Wirtschaft, achten Sie darauf, dass auch an der Spitze die Spielregeln des Gemeinwesens eingehalten werden. Achten Sie untereinander streng darauf. Sehen Sie sich auf die Finger. Jeder verantwortungslose Kollege aus Ihren Kreisen gefährdet die Grundlage unseres freiheitlichen Gemeinwesens. Jeder verantwortungsbewusste Kollege aus Ihren Kreisen stärkt die Grundlage unseres freiheitlichen Gemeinwesens und macht damit deutlich, dass es sich für die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihrer Betriebe lohnt, an einen entscheidenden Grundsatz zu glauben: Soziale Marktwirtschaft das ist niemals das Bündnis der Schwächeren gegen die Starken, wie es manche Diskussion heute glauben machen will; es ist immer das Bündnis der Starken mit den Schwächeren. So ist es das Bündnis gelebter Werte.

Meine Damen und Herren, nur aus Werten entstehen langfristig neue Werte. Wir haben heute 1, 6Millionen Arbeitslose weniger als vor drei Jahren. Wir haben die höchste Beschäftigtenzahl seit der Wiedervereinigung. Und wir sind wieder Exportweltmeister geworden, zum Beispiel bei Umwelttechnologien, im Maschinenbau und in der Automobilindustrie. Unser Land, die Menschen in Deutschland sie verkörpern eine der erfolgreichsten und stabilsten Volkswirtschaften und Demokratien der Erde. Wir dürfen uns ruhig einmal alle gemeinsam daran erfreuen.

Ludwig Erhard sagte selbst in schwerster Zeit ich zitiere: "Es wird besser. Es wird von Tag zu Tag immer besser." Das scheint mir auch heute ungewöhnlich aktuell zu sein. Dabei hat sich gezeigt: Anstrengungen lohnen sich, auch wenn Veränderungen zuerst unpopulär sind. Aus mehr Beschäftigung sind für uns alle mehr Spielräume erwachsen für Abgabensenkung ebenso wie für den Abbau von Schulden, für den Weg zu einem Wirtschaften also, das nicht mehr auf Kosten kommender Generationen lebt.

Der Tragfähigkeitsbericht Herr Kollege Steinbrück ist hier schon zitiert worden zeigt hinsichtlich der öffentlichen Finanzen Folgendes: Einmal: Wir haben viele Jahre über unsere Verhältnisse gelebt. Zum Zweiten belegt der Bericht aber auch eindrucksvoll, dass sich Haushaltssanierung und Strukturreformen das gilt zum Beispiel ganz besonders für die Rente mit 67 auszahlen, sodass man etwas sehen kann.

Das alles führt uns zu den entscheidenden Fragen für uns, die wir heute Verantwortung tragen: Wie schaffen wir es, dass möglichst viele, dass alle an den Chancen in unserer Zeit der Globalisierung teilhaben können und nicht das Gefühl haben, abgehängt zu werden? Wie stellen wir uns auf eine reifere Gesellschaft ein? Wie sieht ein neuer Generationenvertrag zwischen Alt und Jung aus? Wo also liegen unsere Aufgaben im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts?

Ich habe nicht die Absicht, hier heute alle notwendigen Maßnahmen gleichsam aufzuzählen. Damit aber kein Missverständnis entsteht, sage ich ausdrücklich: Das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes 2011 ist und bleibt unverzichtbar, wenn wir Kraft für die Zukunft wollen. Gerade angesichts der aktuellen Diskussion um Steuersenkungen und bzw. oder Haushaltssanierung füge ich aber auch hinzu: Das kommt mir manchmal wie eine Phantomdiskussion vor. Es gibt kein Entweder-Oder. Es gibt ein Sowohl-als-auch. Es gibt keine Hierarchie der Ziele. Aber es gibt eine zeitliche Abfolge. Und diese muss eingehalten werden. Das schafft nämlich Verlässlichkeit für die Menschen. Und Verlässlichkeit ist die Voraussetzung für Vertrauen der Menschen.

Auch will ich keinen Zweifel daran lassen, dass unsere sozialen Sicherungssysteme weiter zukunftsfest gemacht werden müssen, zum Beispiel durch eine Kapitaldeckung in der Pflegeversicherung. Ebenso bleibt für mich auf der Tagesordnung, dass die Ausgestaltung von Tarifverträgen in Zukunft stärker auf betriebliche Situationen ausgerichtet sein muss, weil sich die Betriebe in einer globalisierten Welt in einer unglaublich unterschiedlichen Wettbewerbssituation befinden. Auch wollen wir den Investivlohn fördern ich halte das für ein ganz wesentliches Vorhaben, weil sich der Anteil der Arbeitnehmer, die an der Kapitalentwicklung ihres Unternehmens beteiligt sind, unbedingt erhöhen muss. Herr Steinbrück hat schon über die Lohnquote gesprochen, die ziemlich niedrig ist.

Ohne Zweifel brauchen wir auch internationale Regeln für das Funktionieren der Finanzmärkte, für den Schutz des geistigen Eigentums, für Vereinbarungen über einen fairen und offenen Welthandel und Minimalstandards für Arbeitsbedingungen, kurz: für die internationale Dimension der Sozialen Marktwirtschaft, die heute qualitativ vollkommen anders ausgestaltet werden muss. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Rolle internationaler Organisationen, ganz besonders der Vereinten Nationen, wachsen wird. Wir wissen, dass wir bei wachsender Weltbevölkerung und endlichen natürlichen Ressourcen Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch voneinander entkoppeln müssen, um den von Menschen verursachten Klimawandel zu begrenzen.

All das sind wichtige, es sind entscheidende Projekte, Ziele und Maßnahmen meines Handelns und des der gesamten Bundesregierung. Aber gerade eine Festveranstaltung wie die heutige anlässlich 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft bietet die Chance, über all diese Aufgaben hinaus zu schauen, den Blick auf das Eine zu lenken, was aus meiner Sicht das zentrale Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft vor 60Jahren war und was das zentrale Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft auch in den kommenden 60Jahren sein sollte.

Es ist ich sagte es schon kurz zu Beginn das Thema "Einstieg und Aufstieg". Es ermöglicht dem Menschen, die Kraft der Freiheit auch zu leben und im eigenen Leben zu gestalten. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Wettbewerb als zentrales Element der Sozialen Marktwirtschaft kann nur überzeugen, wenn unsere Gesellschaft Einstieg und Aufstieg möglich macht, wenn sie also mit einem Wort durchlässig ist.

Unsere Gesellschaft lebt von Durchlässigkeit. Geht das verloren, wenden sich die Menschen von der Sozialen Marktwirtschaft ab. Wird das erfahrbar, fassen sie neues Vertrauen in die Werte und die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Die Menschen wollen keine Theoriediskussion, sondern sie wollen konkret in ihrem Leben erfahren, dass sich die Soziale Marktwirtschaft für sie persönlich lohnt und ihnen neue Freiräume gibt.

Dazu müssen wir die Talente von allen Menschen bei uns fördern. Wir müssen allen einen Einstieg ermöglichen und einen Aufstieg erleichtern. Das zu schaffen, das hat unser Land nach 1948 stark gemacht. Das brauchen wir genauso für die Zukunft. Das belebt unser Land. Das ist gerecht. Und das klappt vielleicht schon öfter als wir denken.

Ich lese Ihnen mal ein paar Namen von sehr erfolgreichen Mitbürgern vor: Mario Gomez, Oliver Neuville, Miroslav Klose, Kevin Kuranyi, Lukas Podolski. Das ist der deutsche Sturm bei der Fußball-Europameisterschaft. Diese Landsleute zeigen, welche Leistungsbereitschaft in uns und auch in den Menschen steckt, deren Wurzeln über Deutschland hinausreichen. Es ist mir übrigens aufgefallen, dass es in der Abwehr kaum oder gar keine Migranten gibt. Das soll in diesen Tagen einmal entschuldigt sein. Unsere Abwehr ist auch der einzige Teil der Gesellschaft, den wir uns ohne Durchlässigkeit vorstellen können.

Meine Damen und Herren, unser Bildungssystem, unsere Schulen und unsere Hochschulen, die Unternehmen, unsere ganze Gesellschaft wir alle können noch viel mehr von Einsteigern und Aufsteigern profitieren. Das bezieht sich auf Einheimische genauso wie auf Zugezogene. Wie das geht? Auch hier weist Erhard den Weg. Erhard sagt: Lasst uns nicht über die Verteilung der Kuchenstücke streiten, sondern den Kuchen größer machen, dann bekommt jeder mehr und wir ersparen uns den Streit der Verteilung. Deshalb ist es auch heute unabdingbar, das Wachstum unserer Volkswirtschaft voranzutreiben. Nebenbei: Die Bilanz der letzten Jahre kann sich auch sehen lassen. Wir waren Schlusslicht, jetzt sind wir in Europa wieder Lokomotive. Wir können es also schaffen.

Aber Wachstum allein reicht nicht. Denn immer mehr Volkswirtschaften haben von Erhard gelernt sei es Estland, Slowenien, Vietnam oder auch China und Indien. Unsere Arbeitskraft steht heute in einem harten Wettbewerb mit Milliarden tüchtiger Menschen, die essen wollen, die sich kleiden wollen und die sich dafür enorm ins Zeug legen. Das ist Globalisierung.

Ich sagte es: Deutschland ist einer der großen Gewinner dieser Globalisierung. Aber nicht alle bei uns haben daran ihren vollen Anteil, nicht alle können daran mitwirken. Deshalb brauchen wir neue Ideen. Denn der alte Reflex, mehr Geld auszugeben um die Probleme zu lösen, hat sich als unzureichend erwiesen. Wir müssen die wirklichen Zusammenhänge verstehen und dann so handeln, wie es zu unseren eigenen Werten passt.

Dazu ein Beispiel, das die Komplexität deutlich macht und das auch unsere aktuelle Diskussion bestimmt: Wir möchten, dass möglichst alle Menschen, die arbeiten wollen, auch arbeiten können. Wir möchten auch, dass alle Menschen, die arbeiten, davon leben können. Aber was machen wir, wenn die Arbeit nicht so viel erbringt, dass es zum Leben reicht? Hier helfen nicht Ideologien, hier hilft nur die Vernunft und die Erkenntnis: Dort, wo die Nachfrage vom Preis abhängt, ist ein Mindestlohn ein Jobkiller. Wenn der Friseur teurer wird, wird er eben weniger oft besucht. Dann werden die Haare zu Hause geschnitten und die Mitarbeiterin wird entlassen oder der Salon macht zu. Ich bin der Meinung, es ist klüger, den Job zu erhalten und im Zweifelsfalle gibt der Staat etwas dazu. Denn eine Errungenschaft der Sozialen Marktwirtschaft ist, dass wir ein Mindesteinkommen haben.

Aus der Erfahrung der letzten Jahre wissen wir: Das Aufstocken bringt Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit. Wenn wir dagegen flächendeckend einheitliche Mindestlöhne einführten, gefährdeten wir Hunderttausende Arbeitsplätze. Vor allem aber erschwerten wir den Einstieg. Ein flächendeckender einheitlicher Mindestlohn ist wie eine Barrikade rund um den Arbeitsmarkt. Deshalb müssen wir mit den Löhnen intelligent umgehen, damit möglichst jeder einen Einstieg in Arbeit findet und damit einen Einstieg in den Aufstieg. Aber das zeigt auch das Wichtigste: Deutschland muss ein Hochlohnland bleiben. Dafür muss es ein Hochleistungsland sein. Und das wiederum heißt: Aus allen Talenten, die wir haben, müssen wir etwas machen.

Und so führen uns diese Überlegungen zu dem für Einstieg und Aufstieg aus meiner Sicht entscheidenden, dem zentralen Stichwort unserer Zeit: Bildung. Ich sage es in einem Satz: Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschland werden. Das ist es, was unsere Zukunft für die nächsten Jahrzehnte sichert.

Jedes Kind braucht die beste Förderung. Lehrer ist einer der wichtigsten Berufe in der Gesellschaft. Wir müssen die Leistung der Lehrer ganz anders anerkennen. Eltern müssen die Zeit haben und auch dazu befähigt sein, ihre Kinder zu erziehen. Die Älteren haben viel weiterzugeben und die Jüngeren können davon reichlich profitieren. Unsere Hochschulen müssen Weltklasse sein und sie sind es zum Teil auch. Wir sind das Land der Ideen. Wir wollen das Land der Ideen bleiben und wir wollen, dass immer mehr Menschen mit exzellenten Ideen dazu beitragen können.

Ludwig Erhards große Verheißung in schwierigsten Zeiten hieß: Wohlstand für alle. Dabei wusste er, dass Wohlstand umfassend zu verstehen ist, also nicht nur als materieller Zustand. Denn unsere Zufriedenheit hängt von vielen anderen Dingen ab, die sich nicht in Euro und Cent beziffern lassen. Unseren so umfassend verstandenen Wohlstand weiter sichern zu wollen den materiellen wie den immateriellen, das heißt heute: Bildung für alle. Oder noch klarer: Wohlstand für alle heißt heute Bildung für alle.

Bildung für alle das schafft die Voraussetzungen dafür, dass jeder seine Chancen unabhängig von der sozialen Lebenssituation seiner Eltern nutzen kann. Dass Migranten in unsere Gesellschaft integriert werden, damit sie am Aufstieg teilhaben und der Gemeinschaft ihr Talent zu Verfügung stellen. Dass heute 40 bis 50Prozent der Kinder, die in deutschen Großstädten eingeschult werden, einen Migrationshintergrund haben, zeigt die Größe dieser Aufgabe, vor der wir stehen.

Bildung für alle das schafft die Voraussetzungen dafür, dass wir genügend Facharbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler haben, um die besten Produkte der Welt entwickeln und verkaufen zu können. Bildung für alle das schafft die Voraussetzungen dafür, dass mehr Menschen Arbeit haben und Spielräume gewinnen, sodass wir ohne neue Schulden eine soziale Absicherung für Alter und Krankheit für jeden ermöglichen können. Dass Lernen und Bildung nicht nur eine Sache der Jugend ist, sondern lebenslanges Lernen zur Normalität wird und Ältere länger jung bleiben. Dass auch in der heute möglichen Lebenszeit nach dem Ausscheiden aus dem Beruf die Älteren in unserem Gemeinwesen eine tragende Rolle haben durch ehrenamtliche Tätigkeit für andere, für Jüngere, für Migranten und auch für andere Ältere. Dass der einzelne Arbeitnehmer seine Mitverantwortung im Betrieb besser wahrnehmen kann. Und zum Schluss etwas für mich ganz Wesentliches dass mehr Menschen die komplizierten Zusammenhänge unserer einen Welt verstehen eine Aufgabe, der sich noch keine Generation vor uns in diesem Ausmaß stellen musste, um auch an der Gestaltung mitwirken zu können und nicht in Angst und Sorge zu verharren.

Meine Damen und Herren, Wohlstand für alle heißt heute und morgen: Bildung für alle. Unser Land muss sich darauf in allen Bereichen vorbereiten. Ich selbst werde mich auch ganz persönlich dieser Sache annehmen, unter anderem mit einer Bildungsreise durch die Bildungsrepublik Deutschland vom Kindergarten bis zur Seniorenfakultät, von der Berufsschule bis zu privaten Elterninitiativen, in Gesprächen mit Experten und Bürgern. Dies wird münden in einen nationalen Bildungsgipfel, den wir zusammen mit den Bundesländern im Oktober dieses Jahres durchführen wollen.

Bund und Länder haben unterschiedliche Zuständigkeiten im Bildungsbereich. Das hat gute Gründe und das hat sich bewährt. Aber Bund und Länder haben auch eine gemeinsame politische Verantwortung für unser gesamtes Bildungssystem. Die Bürgerinnen und Bürger interessieren sich nämlich nicht für Zuständigkeitsfragen. Sie erwarten, dass die Verantwortlichen gemeinsam dazu beitragen, dass unser Bildungssystem jedem die Chance auf Einstieg und Aufstieg ermöglicht. Genau diese Erwartung will ich erfüllen.

Meine Damen und Herren, Bildung für alle wenn wir dies als zentrale Aufgabe des nächsten Jahrzehnts angehen, dann kann unser Land zum 100. Geburtstag der Sozialen Marktwirtschaft feststellen: Die Soziale Marktwirtschaft hat sich auch in einer zusammengewachsenen Welt als das wirtschaftliche und soziale Erfolgsmodell unseres Landes bewährt. Sie löst auch heute ihr zentrales Versprechen ein, jedem Einzelnen entsprechend seinen Fähigkeiten und Neigungen Einstieg und Aufstieg zu ermöglichen.

Das zu schaffen ist jede Mühe wert. Dann wird es um noch einmal Ludwig Erhards Worte aufzugreifen noch besser; von Tag zu Tag immer besser. Dafür lohnt sich große Verantwortungsfreude.

Herzlichen Dank!