Redner(in): Angela Merkel
Datum: 25.09.2008

Untertitel: in Breslau
Anrede: sehr geehrter Herr Minister Bartoszewski, sehr geehrter Herr Stadtpräsident Dutkiewicz, sehr geehrter Herr Wojewode Jurkowlaniec, sehr geehrter Herr Professor Luty, werte Festversammlung,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2008/09/2008-09-24-merkel-ehrendoktorwuerde-breslau,layoutVariant=Druckansicht.html


Magnifizienz,

meine Damen und Herren!

Ich möchte mich für die überaus freundlichen Worte herzlich bedanken, die Sie gefunden haben, und ich möchte Ihnen von Herzen für diese Auszeichnung danken. Es ist für mich eine ganz besondere Ehre, die Ehrendoktorwürde der Technischen Universität Breslau zu erlangen. Denn meine persönlichen Beziehungen zu Polen sind maßgeblich durch die Wissenschaft und meine wissenschaftliche Tätigkeit geprägt.

Von 1978 bis 1990 war ich wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für physikalische Chemie an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin. Die Akademie und auch meine Fachgruppe pflegten eine rege Zusammenarbeit mit polnischen Wissenschaftlern. So habe ich zwischen 1985 und 1989 an drei physikalischen Kongressen in Bachotek in der Nähe von Thorn, veranstaltet von der Kopernikus-Universität, teilgenommen, die ich in guter Erinnerung habe was sowohl den wissenschaftlichen Austausch als auch die sonstigen Gespräche zwischen uns Wissenschaftlern anbelangt. Dabei habe ich nicht nur Wissenschaftler, sondern vor allen Dingen auch die polnische Lebensart kennen und schätzen gelernt und viel über die polnische Kultur und Geschichte erfahren. Das war immer sehr bereichernd.

Am 4. Juni 1989 fand eines dieser Symposien statt. Dieses Datum markierte in gewisser Weise einen Wendepunkt in meiner Biographie. Denn an diesem Tag teilte General Jaruzelski mit, dass er das Ergebnis der ersten freien Wahlen in Polen anerkennen würde. So war das Symposium, während dessen wir besonders viel Gelegenheit hatten, auch über andere Themen als über Wissenschaft zu sprechen, unverhofft eine der letzten wissenschaftlichen Tagungen, an denen ich teilnahm.

Allerdings auch das wurde schon erwähnt kam ich auch im November 1989 noch einmal nach Thorn, kurz nach dem Fall der Mauer. Ich war am 9. November, dem Tag des Mauerfalls, in einen unglaublichen Zwiespalt gestürzt, weil ich am darauf folgenden Montag einen Vortrag vor sehr anspruchsvollen polnischen Kollegen halten musste, gleichzeitig aber plötzlich die Mauer in Berlin weg war und ich in den Westteil Berlins konnte. So habe ich versucht, die Zeit ordentlich aufzuteilen. Als ich dann montags in Thorn ankam, sahen mich meine Kollegen ganz erstaunt an und sagten: Wir hatten nicht gedacht, dass Sie wirklich kommen, denn in Deutschland passiert doch Unglaubliches; nun kommt bald die Deutsche Einheit. Ich hatte damals noch nicht so weit gedacht. Wir haben dann, glaube ich, keine Wette darüber abgeschlossen, aber die polnische Seite war sich unglaublich sicher, dass eine Zeitenwende angebrochen war.

Dieser Weg, durch den ein heute wiedervereinigtes Deutschland möglich wurde, ist von Solidarno?? mit friedlichen Mitteln erkämpft worden. Solidarno?? war ein Grundstock für die friedlichen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa und für die Überwindung der unnatürlichen deutschen Teilung. Insbesondere für uns Bürger der ehemaligen DDR war die Gewerkschaft Solidarno?? seit ihrer Gründung 1980 ein Symbol der Hoffnung Hoffnung auf Veränderung und Hoffnung auf Freiheit, die nicht auf Dauer unterdrückt werden kann.

Ich werde nie vergessen, wie ich von einer Reise aus Danzig kam und mich mit einer Beamtin des DDR-Zolls beim Grenzübertritt darum stritt, ob eine Postkarte des Denkmals vor der Danziger Werft eine politische Provokation ist oder den Status einer Postkarte hat. Ich habe damals gesagt, dass alles, was in einer Stadt steht, auf einer Postkarte abgebildet werden kann, und dass das per se keine Provokation sein kann, während die Beamtin damals anderer Meinung war. Die Karte verschwand, aber das konnte Solidarno?? nicht ungeschehen machen. Damals fand Deutschland wieder zueinander. Polen kehrte gleichsam in die Mitte Europas zurück.

Dies vor Augen verbinde ich meinen Dank für die Auszeichnung mit der Ehrendoktorwürde dieser renommierten Universität mit einer Verpflichtung: Ich möchte den mir möglichen Beitrag für die weitere Festigung der engen und freundschaftlichen Beziehungen unserer beiden Nachbarländer in einem freien und einigen Europa leisten. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Professor Bartoszewski, auch im Namen der gesamten polnischen Regierung, von seiner Seite noch einmal darauf hingewiesen hat, wie wir schrittweise versuchen, die Beziehungen zu intensivieren und zu verbessern.

Die deutsch-polnische Verständigung und die Freundschaft zwischen unseren Ländern davon bin ich zutiefst überzeugt sind und bleiben herausragend und wichtig und sind mir ein persönliches Anliegen. Ich erinnere mich gut daran, mit welcher Begeisterung nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs neue Kontakte zwischen unseren beiden Ländern geknüpft werden konnten. Es gab ein breites Bedürfnis sowohl politisch und wirtschaftlich als auch kulturell und privat, sich näher kennen zu lernen.

Zahlreiche Einrichtungen wurden damals gegründet, die auch heute noch für die deutsch-polnische Verständigung von zentraler Bedeutung sind. Ich denke etwa an die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit oder an das Deutsch-Polnische Jugendwerk. Erstmals konnte ein öffentlicher und offener gesellschaftlicher Diskurs auch über die schrecklichen Kapitel der deutsch-polnischen Vergangenheit geführt werden. Ich bin davon überzeugt, dass wir nur mit einem solchen offenen Diskurs in der Lage sind, eine gemeinsame Zukunft in Frieden und Freiheit zu gestalten. An diesem Dialog haben auch Sie, Herr Minister Bartoszewski, und Ihr Amtsvorgänger, Außenminister Skubiszewski, maßgeblichen Anteil. Dafür bleiben wir Ihnen zu großem Dank verpflichtet.

Aus deutscher Sicht wollen wir mit Polen eine ebenso dauerhafte Verständigung und Partnerschaft wie mit Frankreich erreichen. Hier haben wir schon große Fortschritte gemacht. Darüber bin ich sehr froh. Daran sollten wir weiter anknüpfen. Wir werden zum Beispiel noch in diesem Jahr deutsch-polnische Regierungskonsultationen haben und werden dabei gemeinsame Projekte auf breiter Ebene miteinander besprechen.

Dabei geht es keinesfalls darum, Geschichte zu verdrängen. Im Gegenteil: Nur wer sich seiner eigenen Geschichte stellt, behält auch den Blick offen für die Gestaltung der Zukunft. Deshalb werden wir das von Deutschen an Polen zugefügte Leid stets im Bewusstsein halten. Auch diese Stadt mit dem deutschen Namen Breslau und dem polnischen Namen Wroc? aw steht symbolhaft für die bitteren Lehren der gemeinsamen Vergangenheit. Mehr als sechs Millionen Polen verloren durch Deutsche ihr Leben. Millionen von Polen und Deutschen wurden vertrieben oder zwangsumgesiedelt. Da gibt es nichts zu beschönigen, da gibt es nichts zu relativieren. Wir Deutsche müssen und wollen uns dieser Vergangenheit voll und ganz stellen.

Genau in diesem Geist hat die Bundesregierung vor einigen Tagen die Errichtung der "Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung" beschlossen. Dabei gilt das, was ich im März 2007 in meiner Rede an der Universität Warschau gesagt habe. Ich habe gesagt, dass es auch mit dieser Stiftung keine Umdeutung der Geschichte durch Deutschland, kein Verdrehen von Ursache und Wirkung geben kann und geben wird. Denn nur in der Annahme der Geschichte können wir auch Lehren aus der Geschichte ziehen, um die Zukunft auf der Grundlage gemeinsamer Werte zu gestalten.

In der Europäischen Union und in der NATO sind Deutsche und Polen heute als Partner eng miteinander verbunden. Gemeinsam bringen wir mehr Gewicht auf die Waage wichtiger Entscheidungen. An Aufgaben, die sich unseren beiden Ländern gleichermaßen stellen, mangelt es wahrlich nicht. Wie wollen wir die zukünftige Struktur der Europäischen Union gestalten? Was sind die richtigen Antworten auf globale Fragen wie Klimawandel, Terrorismusbekämpfung oder Förderung des internationalen Handels? Welche gemeinsame europäische Politik wollen wir in unseren Beziehungen zu den EU-Nachbarstaaten, insbesondere zu Russland, formulieren?

Uns eint ein Ziel: Die Stärkung der Idee der europäischen Einigung auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Werte. Gerade in der Georgien-Krise in den letzten Wochen haben wir wieder einmal gesehen, wie wichtig es ist, dass die Europäische Union zusammensteht und handlungsfähig ist. Nur ein einiges Europa ist ein starkes Europa selbst wenn es mit 27Mitgliedstaaten nicht immer einfach ist. Wir wissen ja, dass es selbst in einem einzigen Land nicht immer einfach ist, eine gemeinsame Position zu formulieren. Wie sollte das bei 27Staaten anders sein?

Aber selbst wenn es zwischen 27Staaten nicht einfach ist, so ist nur die gemeinsame Haltung zum Schluss eine starke Haltung, die in unser aller Interesse ist. Deshalb brauchen wir auch den Vertrag von Lissabon, denn mit ihm bleiben wir auch als erweiterte Europäische Union handlungsfähig. Deshalb wollen wir die Ratifikation des Vertrages zügig voranbringen. Das setzt natürlich voraus, dass unsere irischen Partner möglichst schnell eine Lösung präsentieren.

Die vielfältigen deutsch-polnischen Beziehungen werden natürlich nicht allein von der ausgezeichneten politischen Zusammenarbeit getragen. Ein weiterer wichtiger Pfeiler unserer gelebten Nachbarschaft sind auch unsere engen wissenschaftlichen Kooperationen. Die moderne, weltoffene polnische und europäische Stadt Breslau ist dabei ein besonderer Kristallisationspunkt, denn sie zählt mit ihren zahlreichen Hochschulen zu den wichtigsten wissenschaftlichen Zentren Polens. Als hervorragender Wissenschaftsstandort knüpft Breslau an eine lange Tradition an. Ihre Stadt hat viele namhafte Wissenschaftler hervorgebracht. Ich nenne beispielsweise nur die Nobelpreisträger für Chemie Fritz Haber und für Physik Otto Stern sowie den Arzt und Psychiater Karl Bonhoeffer den Vater des im KZ Flossenbürg hingerichteten Theologen Dietrich Bonhoeffer.

Nach dem Krieg wurde bereits am 15. November 1945 der Lehrbetrieb an der Technischen Universität Breslau mit anfangs 500Studenten wieder aufgenommen. Einer der ersten Professoren war der polnische Wissenschaftler Ludvik Hirszfeld. Er wurde später für die Mitentwicklung des Rhesus-Systems der Blutgruppen bekannt. So zeigt sich gerade auch am Beispiel der Universitätsstadt Breslau, dass Wissenschaft verbindet auch die Schicksale von Menschen und die Geschichte von Ländern. Wissenschaft verbindet das alte und das neue Breslau. Und sie verbindet Deutschland und Polen.

Heute ist Polen der wichtigste Partner in unseren Wissenschaftsbeziehungen in Mittel- und Osteuropa. Etwa 12.000 polnische Studierende sind an Hochschulen in Deutschland eingeschrieben. Damit sind sie bei uns die drittgrößte Gruppe internationaler Studierender. Auch die mehr als 800Hochschulpartnerschaften zwischen unseren Ländern zeugen von der Intensität unserer akademischen Beziehungen. Erst vor wenigen Wochen wurde eine weitere gemeinsame Einrichtung gegründet, die dem wissenschaftlichen Austausch dient: Die Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung. Sie wird gemeinsame Forschungsvorhaben von Studenten und Wissenschaftlern aus unseren Ländern fördern.

Zukunft gestalten und Verantwortung wahrnehmen darauf werden die Studierenden der Technischen Universität Breslau hervorragend vorbereitet. Die Technische Universität nimmt mit Blick auf die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit, die Struktur des Lehrpersonals und die Studienbedingungen eine Spitzenposition unter den Universitäten und Hochschulen Polens ein. Sie ist das Zentrum eines breit angelegten Spektrums auch außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, die sich vor allem mit neuen Hochtechnologien befassen. Damit ist diese Universität eine hilfreiche Stütze der sich rasch entwickelnden Wirtschaft Breslaus und der gesamten Region.

Ich kann Sie nur ermutigen, die Verbindung von Wirtschaft und Wissenschaft immer wieder zu suchen. Denn Wissenschaft ist wichtig, sie braucht die Freiheit der Forschung, aber ab und zu ist es auch schön, wenn sich die Produkte wissenschaftlicher Arbeit in ganz konkreten Gegenständen, die in der Wirtschaft von Bedeutung sind, niederschlagen.

Ich glaube, dass die Technische Universität Breslau ein Umfeld schafft, in dem sich die Studierenden zu schöpferischen und kritischen Persönlichkeiten entwickeln können. Sie fördert damit eine hochwertige wissenschaftliche Ausbildung, die auch für den Austausch zwischen unseren Ländern und den Kulturen offen ist. Dank der Zusammenarbeit mit 200Hochschulen weltweit treffen sich an der Technischen Universität Breslau Menschen aus 30Nationen. Die Universität entsendet jährlich 500 ihrer Studenten ins Ausland. Sie unterhält Beziehungen in ganz Europa, in Amerika, in Asien und Afrika. Die Beziehungen zu deutschen Partnerhochschulen sind von besonderer Intensität. Deutsche und polnische Studierende kommen etwa auch in Berlin, Dresden, Magdeburg und Zittau zusammen.

Ich freue mich, dass die deutsch-polnische Wissenschaftslandschaft heute eine weitere Bereicherung erfährt: Die Technische Universität Breslau und das Dresdner Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik unterzeichnen einen Rahmenvertrag zur Gründung eines Fraunhofer-Projektzentrums. Ich glaube, das ist ein weiterer wichtiger Baustein in der engen Beziehung zwischen dem Freistaat Sachsen und der hiesigen Woiwodschaft. Damit kommt ein exzellentes Photonik-Institut der Fraunhofer-Gesellschaft mit einem der renommiertesten Produktionstechnik-Institute in Polen zusammen. Das neue Projektzentrum in Breslau wird außerdem die erste Außenstelle der Fraunhofer-Gesellschaft in Polen sein. Damit nimmt es eine Vorreiterrolle für die deutsch-polnische Zusammenarbeit im Bereich der angewandten Forschung ein.

Ich freue mich natürlich, dass wir die Verleihung der Ehrendoktorwürde heute mit einem so konkreten Ereignis verbinden können. Denn durch solche Kooperationsprojekte lassen sich viele Synergien

nutzen, die unseren beiden Ländern dann auch wieder im globalen Wettbewerb von großem Nutzen sind.

In diesem Sinne wünsche ich der Technischen Universität Breslau weiterhin viel Erfolg. Es ist jetzt sozusagen auch ein Stück meines Erfolgs. Ich wünsche Ihnen Erfolg bei Ihren eigenen wissenschaftlichen Arbeiten, zu denen ich naturgemäß nichts beitragen kann das will ich deutlich sagen und ebenso bei den zahlreichen deutsch-polnischen Partnerschaftsprojekten.

Ich werde alles in meiner Kraft Stehende tun, um dazu beizutragen, dass Deutsche und Polen auch über den wissenschaftlichen Bereich hinaus weiter zueinander finden. Das ist der Auftrag und die Verpflichtung, die ich in der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch Ihre Universität an mich sehe. Deshalb nochmals ein ganz herzliches Dankeschön für die Auszeichnung, die ich heute empfangen durfte, die ein guter Beitrag für die Beziehungen zwischen unseren Ländern sein sollte. Herzlichen Dank!