Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 04.07.2000

Untertitel: Zur Weltkonferenz URBAN 21 heiße ich Sie herzlich willkommen.
Anrede: Sehr geehrter Herr Generalsekretär Annan, Exzellenzen, Herr Kommissar Barnier, Herr Regierender Bürgermeister, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/29/78729/multi.htm


Zur Weltkonferenz URBAN 21 heiße ich Sie herzlich willkommen. Die Bundesregierung und die Menschen in der Bundesrepublik sind stolz darauf, Minister, Bürgermeister, Stadtplaner und Experten aus fünf Kontinenten zur Diskussion einer so wichtigen Frage wie der Zukunft unserer Städte hier in Berlin begrüßen zu können.

Ich könnte mir vorstellen, daß Berlin und die Berliner zum Thema der Stadtentwicklung ganz besondere Erfahrungen und vor allem anschauliche Beispiele beizutragen haben.

Vor allem Ihnen, Herr Generalsekretär, möchte ich danken, dass Sie der Einladung nach Berlin gefolgt sind. Wir hatten ja bereits bei unserem gestrigen Gespräch Gelegenheit, über die Bedeutung der Vereinten Nationen bei der Lösung der drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts zu sprechen. Ich habe Ihnen dabei versichert, daß die Stärkung der Vereinten Nationen ein wesentliches Anliegen der Bundesregierung ist. Und daß die Bundesrepublik, wenn das gewünscht wird, auch bereit ist, größere Verantwortung im Rahmen der Vereinten Nationen zu übernehmen.

Das Thema dieser Konferenz ist zweifellos eines jener drängenden Probleme der Menschheit, zu deren Lösung die Vereinten Nationen mit ihren Unter- und Spezialorganisationen beitragen können.

Während heute bereits die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten oder städtischen Ballungsräumen lebt, werden es im Jahr 2025 bereits zwei Drittel sein.

Natürlich ist "Stadt" nicht gleich "Stadt". Die Probleme und Konflikte in den virtuellen "Cybercities" von Kalifornien sind denen der Armenviertel von Kalkutta oder Lagos kaum vergleichbar. Und doch ist gerade hier in Berlin vieles von dem zu sehen, was die Gemeinsamkeit des "Lebensraums Stadt" ausmacht: architektonische und kulturelle Vielfalt; der Auftrag, städtebaulich Altes und Neues harmonisch zu verbinden und menschenwürdiges Wohnen zu ermöglichen und zu sichern.

Städte sind ein ganz zentraler Ort der politischen, sozialen und kulturellen Teilhabe der Menschen. Die moderne Bürgergesellschaft ist ohne die Stadt nicht denkbar.

Nicht von ungefähr kommt die begriffliche Nähe zwischen "Politik" und "polis" - dem griechischen Wort für Stadt. Und die "Zivilgesellschaft" ist mit dem lateinischen "civitas" verwandt. Noch größer ist die Nähe im Englischen: Der "citizen", also der Bürger, ist ohne die "city", die Stadt, schon sprachlich gar nicht vorstellbar.

Stets geht es dabei um mehr als um eine Ansammlung von Häusern oder Betrieben. Zur Idee der Stadt gehört unmittelbar ihre Multi-Funktionalität, ihr wirtschaftliches, politisches, soziales und kulturelles Angebot. Wo in der Vergangenheit auf industrielle, kommerzielle oder funktionale Monokulturen gesetzt wurde - Stichworte hierfür sind Gewerbegebiet, Fußgängerzone oder Schlafstadt - , dort haben die Städte rasch ihre Vitalität eingebüßt.

Als Lebensform aber bietet die Stadt nach wie vor das größte Entwicklungs- und Innovationspotential. Was wäre das erfinderische "Silicon Valley" ohne Städte wie San Francisco und Los Angeles? Andererseits muß die Stadt ein für beide Seiten auskömmliches Verhältnis zu ihrem sogenannten "Hinterland" entwickeln. Das läßt sich übrigens auch besonders gut in einer Stadt wie Berlin beobachten, deren Ostteil vier Jahrzehnte lang die privilegierte und ungeliebte Hauptstadt eines diktatorisch regierten Staates war.

Meine Damen und Herren,

gemeinsam ist den Städten dieser Welt aber auch eine Reihe von Problemen. Wir alle stehen vor ökologischen, ökonomischen, sozialen, aber auch politischen Herausforderungen. Ich will der Diskussion dieser Konferenz nicht vorgreifen. Aber es ist klar, daß wir zum Beispiel die Verkehrsprobleme in den Metropolen meistern müssen, wenn wir eine ökologische Katastrophe verhindern wollen.

Der Ausbau und die Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs - die auch von der Bundesregierung vorrangig betrieben werden - wird da allein nicht reichen.

Wir brauchen auch - das macht der Ihnen vorliegende "Weltbericht" deutlich - die "Ökologisierung des Autos", neue Techniken, neue Antriebsstoffe und vor allem eine Effizienz- und Sparsamkeits-Revolution im gesamten Energiebereich.

Ebenso ist klar, daß der Wanderungsdruck auf die Städte - ob aus dem eigenen Land oder aufgrund weltweiter Migrationsströme - nicht ausgehalten werden kann, wenn man sich die Stadt als zweigeteiltes Wesen vorstellt: hier die "Festung" der Reichen, da das "Ghetto" der Ausgeschlossenen. Nirgendwo stellt sich die Aufgabe der Integration dringender als in unseren Städten. Nirgendwo ist die Politik mehr gefordert, den Ausschluß ganzer Bevölkerungsgruppen von der gesellschaftlichen Teilhabe zu bekämpfen und zu verhindern. Das ist übrigens nicht nur ein moralischer Auftrag. Es ist auch nicht nur ein Problem der Sicherheit. Nein, Integration ist auch ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft.

Es ist erwiesen, daß unkontrolliertes Wuchern der Städte bei gleichzeitig wachsender sozialer Ungleichheit auch das Wirtschaftswachstum - und damit die Entwicklungschancen - entschieden hemmt. Keine Volkswirtschaft kann es sich in unserer globalisierten Ökonomie leisten, die Begabungen der Menschen in Stadtteilen, die auf Dauer benachteiligt werden, verkümmern zu lassen. Und keine Volkswirtschaft, die auf die Kreativität und Schaffenskraft ihrer Menschen angewiesen ist, kann es sich leisten, sie in unwürdigen Bedingungen wohnen zu lassen.

Ich denke nicht, daß dies der Ort ist, unsere internationalen Gäste über Segen und Fluch deutscher Genehmigungsverfahren zu unterrichten. Aber ich bin überzeugt, daß die Erfahrung beider Seiten - des über-reglementierten und des unkontrollierten Wachstums unserer Städte - uns eines lehrt: Wir brauchen das wirkungsvolle Zusammenspiel zwischen politischen Instanzen und starken Zivilgesellschaften, um die Zukunft unserer Städte lebenswert zu machen und zu erhalten.

Meine Damen und Herren,

in dem schon zitierten "Weltbericht für die urbane Zukunft" sind zwei Dinge erwähnt, die ich für sehr bemerkenswert halte: Das sind einerseits die Priorität der Bildungschancen und zweitens das Prinzip des "Good Governance". Ohne Chancengerechtigkeit in der Bildung und Ausbildung werden wir den Menschen in unseren Städten heute und morgen auch keine Chancen für eine gute Zukunft eröffnen können. Bildung ist das beste Mittel gegen sozialen Ausschluß und für soziale Beteiligung. Good Governance ", das heißt die Einhaltung demokratischer Prinzipien, die Pflicht zur Rechenschaft und zur Einbeziehung der Bürger in Entscheidungen, die ihr Leben betreffen. Zu diesem Prinzip gehört für mich unmittelbar, die Erfahrungen der anderen zur Kenntnis zu nehmen und die Lehren daraus anzuwenden. Nirgendwo können verschiedene Kulturen so gut voneinander lernen wie in der gemeinsamen Stadt. Und nirgendwo können die Erfahrungen von Bürgern, Politikern und Experten so gut ausgetauscht werden wie auf einer solchen Konferenz.

Einige von Ihnen, darunter zu meiner Freude vor allem Sie, Herr Generalsekretär Annan, haben Gelegenheit gehabt, die EXPO 2000 in Hannover zu besuchen. Dort stellen die Völker der Welt unter dem Motto "Mensch, Natur, Technik", wie ich finde aufregende Lösungsansätze zu den Themen vor, die uns auch hier beschäftigen.

Hier in Berlin werden Sie die Möglichkeit haben, unsere Versuche beim Wiederauf- und Ausbau dieser europäischen Metropole einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Und sie werden miteinander über die besten Wege streiten und hoffentlich die besten Lösungen finden, die dann auch Schule machen sollten. Dazu wünsche ich allen Teilnehmern viel Erfolg und einen interessanten Aufenthalt hier in der Bundesrepublik.