Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 11.12.2008

Untertitel: Zur Eröffnung des Symposiums "Verantwortung wahrnehmen" zu NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgüternin Berlin betonte Kulturstaatsminister Bernd Neumann diebesondere moralische Verpflichtung Deutschlands, die niemals verjähren könne.Für Deutschland werde es keinen Schlussstrich unter die Suche nach NS-Raubkunst und unter deren Restitution geben.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2008/12/2008-12-11-neumann-ns-raubkunst,layoutVariant=Druckansicht.html


ich begrüße Sie im Namen der Bundesregierung ganz herzlich zum Symposium der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg. Der Titel der Tagung "Verantwortung wahrnehmen" entspricht dem Auftrag, den wir vor nun fast genau 10 Jahren mit der Verabschiedung der "Grundsätze der Washingtoner Konferenz" übernommen haben. Washington war ein Wendepunkt in der internationalen Restitutionspolitik.

Mit der Selbstverpflichtung von 44 Staaten, nach NS-Raubkunst zu fahnden und diese zurückzugeben, wurde eine neue Dimension erreicht. Deutschland hat hierbei eine besondere Rolle, denn von Deutschland ging der größte Kunstraub der Menschheitsgeschichte aus. Es besteht kein Zweifel, dass sich Deutschland seiner Verantwortung stellt und auch weiter stellen wird. Obwohl in den späten 40er, in den 50er und 60er Jahren von den Allliierten und den westdeutschen Behörden zahlreiche Kunstwerke zurückgegeben oder deren Verlust entschädigt worden ist, bleibt das Thema in Deutschland relevant, denn nicht alle Verluste konnten angezeigt werden, nicht alle verfolgungsbedingten Eigentumsverluste wurden als solche erkannt, viele Entschädigungssummen wurden lediglich pauschal veranschlagt. Hinzu kommt die besondere Rolle in Ostdeutschland, wo es eine dem Westen entsprechende Wiedergutmachung nicht gab.

Wir alle wissen, dass die Restitution von NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern keine leichte Aufgabe ist, sondern durchaus eine "Herausforderung an Museen, Bibliotheken und Archive", wie der Untertitel unserer Tagung formuliert. Wie mit dieser Herauforderung umgegangen werden kann, zeigt exemplarisch die Ausstellung zu "Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz", die wir vor knapp 3 Monaten, am 18. September, im Jüdischen Museum in Berlin eröffnet haben. Fast 24.000 Besucher haben die Ausstellung bislang gesehen. Sie führt anhand von sachlich aussagekräftigen und dennoch bewegenden Fallbeispielen vor Augen, was "Verantwortung wahrnehmen" vor allem heißt: Es bedeutet, nicht zu vergessen, dass die Geschichte der geraubten Kunstwerke immer auch die Geschichte von Menschen ist, die verfolgt, gedemütigt, vertrieben und ermordet wurden.

Daraus, meine Damen und Herren, aus der Singularität des Holocausts, leitet sich eine moralische Verpflichtung ab, die niemals verjähren kann. Ich sage es ganz deutlich: Es wird für Deutschland keinen Schlussstrich unter die Suche nach NS-Raubkunst und unter deren Restitution geben. Dies ist auch der Standpunkt, auf den sich 1999 in ihrer "Gemeinsamen Erklärung" Bund, Länder und Kommunale Spitzenverbände als Träger des weitaus überwiegenden Teils der öffentlichen Kultureinrichtungen geeinigt haben. Deutschland geht mit der Forderung "NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut" zu suchen und zu restituieren über die Washingtoner Erklärung hinaus, die von "Kunstwerken, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden", spricht.

Als ein erster Schritt hin zu einer intensiveren Restitutionsrecherche wurde die LostArt-Datenbank unter der Verantwortung der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg eingerichtet. Die Koordinierungsstelle selbst hat in vielen Veranstaltungen und mit einer beeindruckenden Buchreihe dazu beigetragen, Museen, Bibliotheken und Archive für das Thema NS-Raubkunst zu sensibilisieren. Ich kann an alle öffentlichen Kultureinrichtungen nur den dringlichen Appell richten, weiterhin und in noch verstärktem Maße Meldungen an die Koordinierungsstelle zu senden.

Meine Damen und Herren,

niemand ahnte vor zehn Jahren, wie schwierig die Suche nach NS-Raubkunst und die Klärung der Entziehungsumstände sein würden. Je größer die Fortschritte bei der Restitutionsforschung werden, desto größer wird leider auch die Gewissheit darüber, dass die Informationen über die Herkunft von Objekten noch immer lückenhaft sind. Äußerst verschlungen sind oftmals die Wege, über die NS-Raubkunst in Museen, Bibliotheken und Archive gelangte; kaum ein Fall gleicht einem anderen. Da gab es die großen, systematischen Raubzüge der Nazis, die in ganz Europa Kunstschätze ungeheuren Ausmaßes zusammenrafften, entwurzelten und über die ganze Welt verschoben. Es gab Kunsthändler, Galerien und Museen, die sich aktiv an der materiellen und letztlich auch kulturellen Ausplünderung der europäischen Juden beteiligten. Manchmal versuchte zwar ein Museumsdirektor, Kunstwerke eines Verfolgten der nicht selten kurz zuvor noch Mäzen des Hauses war zu retten.

Allzu oft aber haben auch die öffentlichen Museen, Bibliotheken und Archive zwischen 1933 und 1945 bewusst die Not der Verfolgten genutzt, um ihre Bestände zu vergrößern. Diese Schuld wird leider nie vollständig getilgt werden können, auch wenn nach dem Krieg einiges zurückgegeben wurde und Entschädigungen erfolgt sind. Paradoxerweise sind heute aber auch oft Museen betroffen, die nach dem Krieg eigentlich eine ganze Künstlergeneration, die als "entartet" verfemt war, rehabilitieren wollte und darum verstärkt die Werke dieser Künstler von Kirchner bis Marc ankaufte auf einem Markt, den das Unrecht selbst erst geschaffen hatte!

Die Gräuel der NS-Zeit werfen ihre langen Schatten bis in die Gegenwart. Ich erinnere nur an die öffentliche Auseinandersetzung um die Restitution des Kirchner-Gemäldes "Berliner Straßenszene" durch das Land Berlin. Restitutionsbefürworter und -gegner sparten dabei nicht mit Vorwürfen, deren zentraler Punkt allerdings immer der gleiche war: Wir wissen in Deutschland immer noch zu wenig über die Geschichte des Kunstraubs und über die Provenienz unserer Kulturgüter.

Die Diskussionen um die "Straßenszene" zeigten, wie groß die Unsicherheit im konkreten Fall sein kann.

Bereits im ersten Jahr meiner Amtszeit habe ich eine Arbeitsgruppe mit Fachleuten und Vertretern von Museen, Bund, Ländern, Kommunalen Spitzenverbänden und Stiftungen einberufen. Ziel der Arbeitsgruppe war es, Vorschläge zur Intensivierung von Provenienzrecherche und -forschung zu unterbreiten.

Dabei stand von Anfang an fest, dass die "Washingtoner Erklärung" die unumstößliche Ausgangslage darstellt. Deutschland steht auch mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende uneingeschränkt zu seiner moralischen Verantwortung für die Restitution von NS-Raubkunst. Daran gibt es nichts zu deuten.

Die Beschlüsse der Arbeitsgruppe wurden mittlerweile alle umgesetzt und weisen den Weg für eine verstärkte Restitutionsforschung in Deutschland.

Zum einen wurde die so genannte "Handreichung zur Umsetzung der Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der Kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz" überarbeitet. Die neue, verbesserte Fassung wurde von der Kultusministerkonferenz und den kommunalen Spitzenverbänden einstimmig gebilligt.

Zum zweiten wurde die Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg gestärkt und in diesem Jahr ein Fachbeirat eingesetzt, in dem sich die Interessen aller Beteiligten widerspiegeln.

Zu den Ergebnissen der Arbeitsgruppe gehört drittens die Einrichtung einer Arbeitsstelle Provenienzrecherche / -forschung, die Museen, Bibliotheken und Archive dabei unterstützt, Kulturgüter zu identifizieren, die in der NS-Zeit den rechtmäßigen Eigentümern entzogen wurden. Sie ist beim Institut für Museumsforschung ( Stiftung Preußischer Kulturbesitz ) angesiedelt und für die Erfüllung ihrer Aufgaben mit jährlich einer Million Euro aus dem Haushalt meines Ressorts und zusätzlich 200.000 Euro durch die Kulturstiftung der Länder ausgestattet.

Vor wenigen Wochen konnten die ersten sechs längerfristigen Forschungsvorhaben bewilligt werden, hinzu kamen Förderungen kurzfristiger Recherchen.

Ich erwarte, dass sich in der zweiten Antragsphase weitere Museen, Bibliotheken und Archive mit guten Projekten an die Arbeitsstelle wenden, und ich rufe dezidiert kleine und mittlere Häuser dazu auf, Recherche- und Forschungsanträge zu stellen! Wer sich jetzt dem Auftrag der Provenienzrecherche mit dem Vorwand fehlender Mittel entzieht, muss sich über kurz oder lang Fragen zu seinem moralischen Verantwortungsbewusstsein gefallen lassen, denn niemand kann guten Gewissens Kulturgut unklarer Provenienz in seiner Sammlung dulden, das gilt zuerst natürlich für öffentliche Sammlungen, muss aber auch für private gelten.

Aufgrund unserer föderalen Ordnung befindet sich der überwiegende Teil der Museen in der Verantwortung und Zuständigkeit von Ländern und Kommunen; die diese Verantwortung auch wahrnehmen müssen. Aber: Der Bund will helfen wir wollen damit ein Signal zum verstärkten Handeln setzen. Die von meinem Haus finanzierte Tagung, die wir heute eröffnen, ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Klarheit in grundsätzlichen Fragen, vor allem, indem sie die internationale Dimension des Themas Restitution in den Mittelpunkt rückt. Es ist notwendig, Ansätze und Methoden zu vergleichen, neue Forschungskontakte zu knüpfen und Gedanken auszutauschen.

Die Wiedergutmachung von NS-Unrecht ist der Bundesregierung nach wie vor ein besonderes Anliegen. Dabei ist es unsere Überzeugung, dass die Klärung der Provenienz eines Kunstwerks nur der erste Schritt eines jeden Restitutionsverfahrens ist. Der weitaus sensiblere ist der zweite Schritt: die Suche nach fairen und gerechten Lösungen. Dies kann aus meiner Sicht nur heißen: Jede Form der fairen und gerechten Lösung kann nur an die prinzipielle Bereitschaft zur Rückgabe anknüpfen. Verjährung kann es nicht geben. Verfügungsbeschränkungen sind unvorstellbar. Allerdings benötigen die fairen und gerechten Lösungen, die die Washingtoner Konferenz anstrebt, auch faire und gerechte Verhandlungen. Dafür sollten man die Schwierigkeiten anerkennen, nach mehr als sechzig Jahren zur Lösung jeder Detailfrage einen eindeutigen, womöglich gerichtsfesten Beweis vorlegen zu können. Der Zweifel muss zu Gunsten des Verfolgten sprechen, und es ist gerecht, dass die Beweislast auf Seiten der öffentlichen Einrichtung liegt.

Darum ist es wichtig, dem betroffenen Haus die Möglichkeit einer umfassenden Provenienzrecherche einzuräumen und auch das Engagement der betroffenen Einrichtung bei der Suche nach dem rechtmäßigen Besitzer und bei der Erhaltung des Kunstwerks zu berücksichtigen. Viele der rechtmäßigen Eigentümer möchten der jeweiligen Einrichtung durchaus das restituierte Werk erhalten. Ist diese Bereitschaft da, öffnet sich eine Vielzahl von Lösungswegen: Es kann als Dauerleihgabe im Museum verbleiben oder vom Museum zurück erworben werden, bevor es auf den regulären Kunstmarkt gelangt. Schenkungen oder Überführungen an andere öffentliche Einrichtungen sind denkbar und auch der Ankauf von Kunstwerken durch Stiftungen und Mäzene ist eine Möglichkeit, das Kunstwerk in dem jeweiligen Museum zu halten und den Ansprüchen der ehemaligen Eigentümer Rechnung zu tragen. Doch jeder Lösungsvorschlag muss gewährleisten, die Verantwortung vor unserer Geschichte wahrzunehmen und die Würde der Opfer zu wahren.

Meine Damen und Herren,

Gerechtigkeit ohne Gerichte zu finden ist schwer. Mitunter lassen sich die unterschiedlichen Vorstellungen nicht zusammenführen aus welchen Gründen auch immer. Zur Lösung strittiger Fälle hat der Bund in Abstimmung mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden daher eine "Beratende Kommission" eingesetzt. Damit setzen wir eine weitere Forderung der "Washingtoner Grundsätze" um. In der "Beratenden Kommission" sind Persönlichkeiten wie Jutta Limbach, Richard von Weizsäcker oder Rita Süssmuth vertreten. Und ich werbe aus Erfahrung und Überzeugung dafür, die Kommission so oft es nur geht an der Suche nach fairen und gerechten Lösungen zu beteiligen. Ich weiß natürlich auch, dass es in anderen Ländern wie Frankreich oder den Niederlanden Kommissionen anderer Selbstdefinition und Wirkkraft gibt. Für unsere föderalen Verhältnisse und mit Blick auf das geltende Recht ist die "Beratende Kommission" allerdings die für Deutschland beste Wahl. Gerade weil die Kommission kein Gericht ist und nicht einseitig angerufen werden kann, ist sie in der Lage Empfehlungen auszusprechen, die unabhängig von juristischen Detailfragen moralisch begründet und verantwortungsbewusst sind. Ich sehe deshalb keine Veranlassung, am Wirken der Limbach-Kommission etwas zu ändern.

Meine Damen und Herren,

zehn Jahre nach der "Washingtoner Konferenz" ist einiges erreicht, vor allem im Hinblick auf die Sensibilisierung für das Thema. Doch wir geben uns mit dem Erreichten nicht zufrieden und werden alles dafür tun, die Geschichte unserer öffentlichen Sammlungen weiter aufzuklären und unserer historische Verantwortung gerecht zu werden. Ich wünschte, dass sich auch der Kunsthandel und die privaten Sammler und Sammlungen offen zur Umsetzung der "Washingtoner Prinzipien" bekennen, um deutlich zu machen, dass Verantwortung ein unteilbares Gut ist und Wiedergutmachung keine formalen Grenzen kennt.

Wenn wir verantwortungsbewusst handeln wollen, dann duldet die Restitution keine Verzögerung und Vertagung. Wir sprechen über Kulturgüter, doch eigentlich geht es um die Schicksale von Menschen, die Identität von Familien und auch um die Endlichkeit des Lebens. Der Direktor des Paula-Modersohn-Becker-Museums und des Roselius-Hauses in meiner Heimatstadt Bremen, Dr. Rainer Stamm, verhandelt derzeit über die Restitution von mittelalterlichen Alabasterreliefs, die er dank eigener Provenienzrecherchen in der Sammlung seines Hauses ausfindig gemacht hat. Die Erben des 1935 geflohenen Kölner Unternehmers Ottmar Strauss haben signalisiert, dem Museum die Reliefs, die nun schon seit 73 Jahren zur Sammlung gehören, für 55.000 Euro zu überlassen. Es sei eine faire und gerechte Summe, so hat mir Dr. Stamm versichert, und es sei ihm wichtig, dass sie bald aufgebracht werden könne: "Ich will", so der Museumsleiter,"dass der letzte Erbe von Ottmar Strauss dies noch erlebt. Er ist nun 88 Jahre alt die Zeit drängt."

Ich möchte Ihnen diese Geschichte mit auf den Weg geben, denn sie macht nachdenklich und zeigt, was hinter allen juristischen und wissenschaftlichen Fragen der Provenienzforschung und der Restitution steht: Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen und ein Menschheitsverbrechen zu sühnen, das niemals verjährt.

Vielen Dank.