Redner(in): Angela Merkel
Datum: 19.01.2009
Untertitel: in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Keitel, sehr geehrter Herr Thumann, liebe Kollegen aus dem Bundeskabinett und dem Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Rede/2009/01/2009-01-19-merkel-bdi,layoutVariant=Druckansicht.html
Ich bin heute natürlich sehr gerne hierhin, zum Neujahrsempfang des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, gekommen, zumal der Jahreswechsel auch einen wichtigen Personalwechsel mit sich gebracht hat. Wir haben gelernt: Ein Vizepräsident wird Präsident und ein Präsident wird Vizepräsident. Ich hoffe, das ist nicht die einzige Form von "change", zu der der BDI fähig ist. Aber es ist zumindest ein wichtiger Einschnitt.
Lieber Herr Thumann, deshalb möchte ich Ihnen auch in ganz besonderer Weise für die gute Zusammenarbeit der letzten Jahre danken. Sie haben in den vielen Gesprächen, die wir miteinander geführt haben, die Interessen der deutschen Industrie konsequent, aber auch immer abgewogen und differenziert vertreten. Aus Ihnen sprach die Erfahrung eines langjährigen Familienunternehmers. Ich glaube, Sie haben einem ganz wichtigen Bereich der deutschen Wirtschaft, nämlich dem industriellen Mittelstand, wieder ein stärkeres Gewicht, eine klare Stimme gegeben und ihn ein Stück weit ins öffentliche Rampenlicht gerückt, wo sich der industrielle Mittelstand manchmal gar nicht so gerne aufhält. Damit haben Sie auch ein wichtiges Stück deutscher Wirtschaft deutlich gemacht.
Was ich das darf ich hier sagen persönlich immer geschätzt habe und auch weiterhin schätzen werde: Sie haben Kritik nicht aus Prinzip geübt, sondern Sie haben immer Ihre Gründe dafür vorgetragen. Wie es dann manchmal so ist: Eben deshalb werden Rat und Expertise halt noch wirksamer, als wenn das Ganze pauschal daherkommt. So denkt man dann eben auch über manches intensiver nach.
Ich bin Ihnen dankbar, stellvertretend für viele andere, die mich und andere auf Reisen als Wirtschaftsdelegationen begleitet haben. Ich darf sagen, dass die deutsche Wirtschaft mit Ihnen einen exzellenten Türöffner hatte. Sie haben das war und ist Ihnen wichtig immer ein realitätsgetreues Bild des Standortes Deutschland geliefert, das Bild einer weltoffenen, innovativen und starken Wirtschaftsnation. Ich glaube, das war wunderbare Werbung, auch für das Modell der Sozialen Marktwirtschaft.
Sie haben es schon gesagt: In den Anfangsjahren Ihrer Amtszeit glänzte die deutsche Industrie mit herausragenden Bilanzen. Wir haben hier auch eindrucksvolle Beispiele aus den letzten Jahren gesehen. Seit Anfang 2005 wurden mehr als 100.000 neue Arbeitsplätze im industriellen Bereich geschaffen. Durch Restrukturierung und Flexibilisierung wurde in einem harten Wettbewerb mit der ausländischen Konkurrenz Wettbewerbsfähigkeit hinzugewonnen. Wir freuen uns natürlich das will ich ganz deutlich sagen, wenn deutsche Firmen erfolgreich sind. Deshalb sind wir stolz darauf, dass Deutschland Exportweltmeister ist. Ich möchte Ihnen deshalb noch einmal dafür danken, dass Sie auch dazu einen Beitrag geleistet haben.
Ein besonderes Herzensanliegen war Ihnen immer der transatlantische Dialog. Ich freue mich, dass Sie auch weiterhin den Co-Vorsitz des TEC innehaben werden. Ich habe die Vermutung, dass wir über die Offenheit des Handels, die Offenheit des Wirtschaftens und die Gemeinsamkeiten angesichts der krisenhaften Situation eher mehr als weniger miteinander sprechen werden müssen. Wir wissen, dass die Antwort auf diese internationale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise nicht der Protektionismus sein darf. Deshalb müssen gerade Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika hierbei mit gutem Beispiel vorangehen. Ich werde das auch bei der weiteren Arbeit auf diesem Gebiet unterstützen und ich wünsche Ihnen viel Kraft.
Lieber Herr Keitel, noch einmal herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl zum BDI-Präsidenten. Ich und die gesamte Bundesregierung haben die Absicht, den Dialog mit Ihnen genauso vertrauensvoll fortzusetzen wie mit Ihrem Vorgänger wir hatten am letzten Freitag die Möglichkeit eines ersten längeren Gedankenaustauschs, und das gilt allemal in Zeiten einer schwierigen Wirtschaftslage. Sie sind ein Mann von Bauplänen und deren Umsetzung. So hoffen und denken wir auch, dass Sie beim Bau solider Brücken Erfahrung einbringen werden, die uns aus der Krise herausführen. Sie haben heute schon deutlich gemacht: Es geht darum, die Realität nicht zu ignorieren, aber sie mit einem Schuss Optimismus zu bewältigen.
Ich glaube nicht, dass der BDI einen Krisenmanager braucht. Aber in der Wirtschaft wird Krisenmanagement in den nächsten Wochen und Monaten gefragt sein hoffentlich nicht allzu viele Monate lang. Aber Sie haben in Ihrem eigenen beruflichen Leben natürlich auch erhebliche Erfahrungen sowie ein Stück Zutrauen darauf gesammelt, dass man auch in schwierigen Situationen etwas schaffen kann.
Ich möchte hier aber noch einen Aspekt hervorheben, den ich spannend und interessant finde, nämlich dass Sie Vorstandsmitglied des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI waren, bis Sie 2006 zum Vizepräsidenten gewählt wurden. Das zeigt uns, dass Sie ein Mann des Wirtschaftens, ein Mann der Fakten und ein Mann sind, der seine Ingenieursausbildung immer im Blick hat, aber dass Sie auch immer mit Bedacht junge zeitgenössische Künstler gefördert haben, wie das seit 1951 im BDI geschieht. Ich finde das auch wichtig in Bezug auf den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und das Brückenbauen in andere Bereiche hinein, die scheinbar völlig anders funktionieren, aber doch zusammengehören. Deshalb empfinde ich es auch als ein gutes Zeichen, dass der Ratsvorsitzende der EKD heute bei uns ist. Wir brauchen eher mehr als weniger Dialog zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Und wenn Sie Ihre Erfahrung dabei einbringen, wäre das auch gut.
Meine Damen und Herren, im Zentrum unseres hoffentlich gemeinsamen Handelns steht die deutsche Wirtschaft. Deren Kern ist und bleibt die Industrie. Sie ist wesentlicher Träger der Innovationen. Die Marke "Made in Germany" soll auch im 21. Jahrhundert eine Marke sein, die weltweit anerkannt und akzeptiert ist. Es gilt, unsere industrielle Basis zu stärken. Diese gemeinsame Anstrengung wird die Politik der Bundesregierung und die Arbeit des BDI immer miteinander verbinden. Dass es dabei auch kritische Diskussionen gibt, liegt in der Natur der Sache. Ich bin der Meinung, dass fruchtbare kritische Diskussionen uns gemeinsam weiterführen können.
Wir erleben auch immer wieder, dass es heute wichtig ist, ein Land umfassend und nicht nur politisch zu repräsentieren, nicht nur als Wirtschaftsunternehmen oder als Vertreter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufzutreten, sondern auch die Gemeinsamkeit der Anstrengungen deutlich zu machen. Das ist auch das, was uns in diesem Jahr, das ja das 60. Jahr der Bundesrepublik Deutschland ist, das Jahr, in dem auch die Soziale Marktwirtschaft auf nunmehr 61Jahre Erfolg zurückblicken kann, gemeinsam umtreibt.
Herr Keitel, Sie haben eben von der Balance von Freiheit und Ordnung gesprochen. Wir als Vertreter des Staates empfinden uns als Hüter der Ordnung. Aber wir als Vertreter des Staates wissen auch, dass diese Ordnung dazu da ist, die Freiheit des Individuums zu ermöglichen. Die Soziale Marktwirtschaft ist aus meiner Sicht deshalb eine menschliche Marktwirtschaft, weil sie die den menschlichen Bedürfnissen am ehesten gemäße Form des Wirtschaftens ist.
Was wir im Augenblick erleben, ist im Grunde eine Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft, nachdem wir mit Exzessen auf den Märkten, insbesondere auf den Finanzmärkten, konfrontiert wurden. Was wir erleben, ist auch die Notwendigkeit, die Soziale Marktwirtschaft in der zusammenwachsenden Welt mit einer internationalen Dimension auszustatten. Wir werden als Bundesregierung weiterhin unsere Anstrengungen für eine globale Architektur, zum Beispiel auf dem G20 -Gipfel am 2. April, einbringen. Wir werden mit unseren amerikanischen Partnern, mit dem neu gewählten amerikanischen Präsidenten Barack Obama und seiner Administration, darum ringen müssen, dass wir die Lehren aus dieser Krise ziehen. Sie ist für mich nicht eine von vielen Konjunkturveränderungen, sondern sie ist für uns alle eine ziemlich elementare Herausforderung, wie sie diejenigen, die in diesem Raume sitzen, in ihrem zum Teil jahrzehntelangen Berufsleben bislang noch nicht erfahren haben. Sie ist eine globale Krise, die uns auf allen Erdteilen herausfordert.
Wir wollen dieser Krise entschlossen begegnen. Wir in Deutschland wollen, dass wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen. Ich bin sehr froh, dass uns dies auch eint. Wir wollen etwas tun, was uns zukunftsfester macht. Wir haben uns als Maßstab gewählt, dass wir möglichst viele Arbeitsplätze erhalten wollen natürlich nicht gegen die wirtschaftliche Vernunft, aber im Sinne des Bauens von Brücken und in dem Sinne, dass wir den Schatz, den wir haben, nämlich das Fachwissen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie natürlich unserer Unternehmer, nicht versiegen lassen. Ich sage das auch im Hinblick auf die Mitte des nächsten Jahrzehnts, wenn der demographische Wandel in Deutschland in ganz besonderer Weise sichtbar werden wird und wir uns dann nicht fragen sollten, ob wir genug für Ausbildung und die Erhaltung unserer Facharbeitersubstanz getan haben, sondern uns daran erinnern sollten, dass wir in einer schwierigen Situation Brücken gebaut haben und damit auch unser Land kräftiger und stärker gemacht haben.
Ich möchte Sie bitten, dass wir gemeinsam auch international für die bei uns so erfolgreichen Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft eintreten. Wir haben keine globale Architektur von Institutionen, in denen wir ein Regelwerk entwickeln können, das mit dem der Sozialen Marktwirtschaft vergleichbar ist. Es geht hierbei nicht um sozusagen neue Staatsansammlungen, aber es geht um die Erkenntnis, dass wir gemeinsame Prinzipien des Zusammenlebens brauchen. So wie die UNO es bei ihrer Gründung im Sinne der Menschenrechte, die universell sind, gemacht hat, wünsche ich mir, dass wir uns dahin bewegen, auch eine Charta des gemeinsamen Wirtschaftens auf der Welt zu erarbeiten, die bestimmten Prinzipien der Nachhaltigkeit entspricht und mit der zur Kenntnis genommen wird, dass wirtschaftliche Ungleichgewichte die Anfälligkeit gegenüber Krisen verstärken, dass Protektionismus die falsche Antwort ist und dass auf Dauer auch keiner über seine Verhältnisse leben kann, weil das uns alle in den Strudel einer Krise hineinreißen wird. Deshalb bin ich mir ganz gewiss, dass wir darüber auch in den nächsten Monaten viele interessante Gespräche führen werden.
Ich sage es noch einmal: Sie sind einer Bundesregierung odereiner Landesregierung und allen Gruppen in der Gesellschaft verpflichtet. Sie sind naturgemäß zuerst einmal Interessenvertreter der Wirtschaft, der Industrie. Das wird nicht jedes Spannungsfeld von vornherein ausschließen. Ich bin beruhigt, wenn ich an Ludwig Erhard und sein Kartellrecht denke, das vom BDI bekämpft worden ist. Lieber Herr Thumann, wir wissen gar nicht, ob es Ihr Unternehmen heute gegeben hätte, wenn Erhard nicht aufgepasst hätte, dass nicht nur die ganz Großen eine Chance haben. Mittelstand, die Großen und die ganz Kleinen, vom freien Beruf bis zum DAX-Unternehmen, müssen in Deutschland eine gute Heimat haben. Deshalb wünsche ich Ihnen im BDI eine gute Zusammenarbeit, aber ich wünsche Ihnen auch eine gute Zusammenarbeit mit den anderen Verbänden der deutschen Wirtschaft, weil sich erst daraus die Stimme derer ergibt, die als Unternehmer tätig sind.
Lieber Herr Thumann, zum Stichwort "Breite Straße, Barrikaden" der Chef des DGB ist heute auch hier: Soziale Marktwirtschaft zeichnet sich auch dadurch aus, dass Kapital und Arbeit nicht mehr auf der Barrikade gegeneinander kämpfen, sondern immer auch zu einem vernünftigen Ausgleich kommen. Das hat Deutschland genutzt.
Herzlichen Dank, dass ich heute Abend hier dabei sein kann.