Redner(in): Thomas de Maizière
Datum: 31.03.2009

Untertitel: gehalten in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Exzellenzen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Rede/2009/03/2009-03-31-chefbk-ausstellung,layoutVariant=Druckansicht.html


meine sehr verehrten Damen und Herren!

Die Niederlande zählen zu unseren wichtigsten Partnern in der Europäischen Union. Die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern sind eng und freundschaftlich. Die Menschen in beiden Ländern sind bis auf einen einzigen ganz kleinen Punkt, den Fußball eng und freundschaftlich verbunden. In der Vergangenheit sind sich Deutschland und die Niederlande in allen wichtigen außen- und europapolitischen Fragen einig gewesen. Ich bin sicher und vertraue darauf, dass wir diese gute Zusammenarbeit auch in den kommenden Jahren fortführen werden.

Die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise stellt uns alle vor große Herausforderungen. Die Bundeskanzlerin und Sie, Herr Ministerpräsident, haben dies in Ihrem gemeinsamen Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits deutlich gemacht: Die Krise birgt auch die Chance, die Dinge zum Besseren zu wenden. Dieser Gedanke sollte uns demnach auch auf dem Londoner G20 -Gipfel am 2. April 2009 leiten, der sich intensiv mit der Wirtschafts- und Finanzkrise befassen wird. Das Klima für die internationale Zusammenarbeit wird durch den Geist einer gemeinsamen Verantwortung begünstigt. Wir glauben fest daran, dass der Londoner Gipfel uns ermöglichen kann, die Gefahren der Krise anzugehen, aber auch die Chancen zu ergreifen, die die Wirtschafts- und Finanzkrise mit sich bringt.

Was hat das alles mit Calvin und der Ausstellung zu tun, die wir heute eröffnen?

Mir drängen sich als Politiker und auch als evangelischer Christ fünfhundert Jahre nach der Geburt des Genfer Reformators zwei Fragen auf: Welche nachhaltigen Wirkungen auf das politische und geistige Leben entfaltet Calvins Lehre? Und vielleicht noch vordringlicher: Was können wir im 21. Jahrhundert mitten in der Krise von seinen Überzeugungen lernen?

Calvin wird auch heute noch häufig in erster Linie als fanatischer Tyrann von Genf beschrieben. Die fortschrittlichen Grundsätze, die der äußerst streng anmutenden calvinistischen Kirchenzucht zugrunde liegen, sprechen eine andere Sprache: Die Lehre von der nötigen Aufteilung der kirchenleitenden Ämter nach verschiedenen Funktionen bereitete den für die Demokratie unentbehrlichen Gedanken der Gewaltenteilung vor. Zu Recht gilt die presbyterial-synodale Kirchenverfassung als eine der Wurzeln westeuropäischer Demokratie.

Die Überzeugung Calvins, dass legitime Herrschaft sich am allgemeinen Wohl auszurichten und für Freiheit und Gerechtigkeit einzutreten hat, ist fundamental und aktuell.

Nach dem Terror der Bartholomäusnacht im Jahr 1572 entwickelten die Calvinisten diese einklagbare Pflicht der Regierenden weiter: Das bislang allgemeingültige Prinzip des Untertanentums wurde erstmals aufgehoben. Theodor Beza, Calvins Schüler und Rektor der Genfer Akademie, erklärte: "Völker sind älter als ihre Magistrate, folglich ist kein Volk für den Magistrat geschaffen, sondern der Magistrat für das Volk".

Dies ist eine einfache Wahrheit von bestechender Logik, deren Respektierung man sich auch heute noch vergebens in zahlreichen Ländern dieser Welt wünscht. Die Calvinisten legten mit dieser Grundüberlegung das, wenn auch vorerst theoretische, Fundament für Volkssouveränität und für die gesetzliche Bindung der Regierenden. Sie schoben damit eine Bewegung weiter an, die -letztlich gegen Calvins Intention- zu einer Trennung von Kirche und weltanschaulich neutralem Staat führen sollte.

Den Weg in die Moderne wies Calvin auch durch die bislang unbekannte Wertschätzung des Profanen. Das ganze Leben der Menschen in Familie, Schule, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft sollte ein Gottesdienst sein. Die Überzeugung, dass

Arbeit der von Gott vorgeschriebene Lebenszweck sei, schuf eine neue Arbeitsethik, die Max Weber als eine der Grundlagen des wirtschaftlichen Fortschritts bis hin zum zunächst endlos erfolgreich scheinenden Kapitalismus beschrieben hat.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise und der zweifelhaften Rolle, die Mancher durch Maßlosigkeit dabei gespielt hat, sei jedoch eines klar gestellt:

Calvin sah in der Arbeit die Bestimmung des Menschen, weil der Einzelne mit ihr Gott und dem Nächsten diene.

Wirtschaftlicher Erfolg galt als Beweis für den Fleiß des Einzelnen und als

äußerer Hinweis auf seine innere Errettung. Der damit verbundene materielle Gewinn war jedoch untrennbar mit sozialer Verpflichtung verbunden, mit Mildtätigkeit und Fürsorge für das Gemeinwohl.

Die Offenheit gegenüber Neuerungen, die im starken Kontrast zu der sehr reglementierten Lebensweise der sog. calvinistischen Sittenzucht zu stehen schien, spiegelt sich in den Entwicklungen, die die Anhänger des Calvinismus bei ihren Migrationen in fast allen Teilen der Welt vollzogen. Nicht umsonst bezeichnen sich diese Gemeinden als Reformierte. Diese Fähigkeit zur gemeinschaftlichen Reform in Auseinandersetzung mit einer veränderten Umwelt ist eine Qualität, eine Gabe und ein Auftrag, vor die wir in Staat, Gesellschaft und Kirche auch heute gestellt sind.

Doch worin liegt das Geheimnis dieser Erneuerungsfähigkeit? Auch und vielleicht gerade hier können die Lehren Calvin uns heute einen Weg weisen: Sicherlich ist es das wichtige Vertrauen auf Gott und das Wissen um solidarische Verbundenheit mit anderen. Vor allem ist es jedoch die Gewissheit um die unbedingte Eigenverantwortlichkeit des Menschen, die das Fundament zur positiven Veränderung der Welt liefert. Anders ausgedrückt liegt der Motor für Veränderung im persönlichen Bedürfnis des Einzelnen, an der Gestaltung seiner Gemeinschaft und seines Umfelds teilzuhaben. In einer modernen Terminologie könnte man dies auch als Primat des bewussten bürgerschaftlichen Engagements und der umfassenden gesellschaftlichen Teilnahme bezeichnen.

Ohne im geringsten die politische Verantwortung von den Regierenden abwälzen zu wollen, halte ich diesen Aspekt des gelebten Calvinismus für besonders bedeutsam: Das Prinzip der "solidarischen Eigenverantwortung des Individuums", das hat gerade in unserer pluralen, demokratischen Gesellschaft ungeahnte Entwicklungspotentiale und erst Recht angesichts der Folgen maximaler Entgrenzung durch Maßlosigkeit.

In diesem Sinne hoffe ich, dass die Ausstellung s » sCalvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europas « s vielen Besuchern Einblicke in Unbekanntes, in unerhört Aktuelles und damit vielleicht auch so manchen Denkanstoß gibt.

Ich freue mich, hiermit offiziell zu erklären: die Ausstellung ist eröffnet.