Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 18.08.2000

Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrter Herr Polard, sehr geehrter Herr Wachsmann, sehr geehrter Herr Mer, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/69/15669/multi.htm


liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von EKO Stahl!

Zum 50. Geburtstag des EKO-Stahlwerks und - denn das Eine ist mit dem Anderen aufs Engste verbunden - von Eisenhüttenstadt möchte ich Ihnen allen ganz herzlich gratulieren.

Heute auf den Tag genau vor einem halben Jahrhundert wurden hier die ersten Bäume gerodet für die Errichtung des Stahlwerks und der Stadt. In der Folgezeit entwickelte sich dann einer der bedeutendsten Industrie-Standorte der damaligen DDR. Und auch heute fast zehn Jahre nach Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zählt Eisenhüttenstadt unverändert zu den wichtigsten industriellen Leistungszentren der neuen Bundesländer.

Dazwischen liegen turbulente Jahre, die Betriebsführung und Belegschaft ein äußerstes Maß an Flexibilität und Einsatzbereitschaft abverlangt haben.

Nach der deutschen Währungsunion und dem Verlust der traditionellen Absatzmärkte in den abgeschotteten Wirtschaftsregionen Osteuropas musste sich EKO auf den umkämpften Weltmärkten behaupten. Mit der am Ende erfolgreichen Privatisierung des Stahlwerks und einem ehrgeizigen, milliardenschweren Investitionsprogramm, das durch öffentliche Fördermittel massiv unterstützt wurde, hat EKO die grundlegende Neuorientierung geschafft. Diese Anstrengung hat viel Kraft gekostet. Dies sage ich besonders mit Blick auf die EKO-Belegschaft.

Im Zuge der schmerzhaften, aber unumgänglichen Umstrukturierung sind viele Arbeitsplätze verloren gegangen. Ich weiß: Denjenigen, die dadurch arbeitslos geworden sind, kann es kein Trost sein, dass nach der Umstrukturierung wettbewerbsfähige Arbeitsplätze erhalten werden konnten und auch neue entstanden sind.

Die Bundesregierung kann selbst keine Jobs schaffen. Aber sie kann durch eine gute Politik die Bedingungen schaffen, dass Menschen wieder in Arbeit kommen. Und dazu sind wir auf einem guten Weg.

Die Beschäftigten, ihr Betriebsrat und ihre Gewerkschaft haben diesen Strukturwandel mit großer Anpassungsbereitschaft solidarisch mitgetragen. Dafür gebührt ihnen unser Dank und unsere Anerkennung.

Heute können wir feststellen, dass diese Investition sich auszahlt. In Eisenhüttenstadt arbei-tet jetzt eines der modernsten Stahlwerke Europas, das 3.000 zukunftssichere Arbeitsplätze bietet. Hinzu kommen 2.300 Mitarbeiter in ehemaligen EKO-Betriebseinheiten, die sich inzwischen als selbständige Unternehmen behaupten. Damit sind in dieser so traditionsreichen Region bereits wieder rund 500 Menschen mehr in der Stahlbranche beschäftigt als noch vor vier Jahren.

Meine Damen und Herren,

die zuletzt durchaus ermutigende Entwicklung am Stahlstandort Eisenhüttenstadt steht für eine Trend-Umkehr, die sich mehr und mehr für fast die gesamte ostdeutsche Wirtschaft abzeichnet.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin hat im vergangenen Monat in seiner Sommer-Prognose zur Konjunkturentwicklung die Erwartung geäußert, dass das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt in diesem und im kommenden Jahr wieder mit demselben Tempo zunehmen wird wie in Westdeutschland. Damit schließt sich die Wachstums-Lücke der neuen Länder gegenüber Westdeutschland nach drei Jahren endlich wieder. Und die weiteren Perspektiven sind günstig. Die Industrie der neuen Länder wächst schon heute schneller als im Westen.

Die inzwischen bereits mehrere Jahre andauernde Strukturkrise in der Bauwirtschaft, die in den neuen Ländern immer noch ein überproportionales Gewicht hat, läuft nach Einschätzung unabhängiger Konjunkturforscher langsam aus. Damit steigen die Chancen, dass in naher Zukunft das Wachstum in den neuen Ländern wieder höher ausfallen wird als im alten Bundesgebiet. Dies wird für Entlastungen auch auf dem Arbeitsmarkt sorgen.

Bereits im vergangenen Jahr ist die Zahl der Arbeitslosen erstmals seit 1995 im Jahresdurchschnitt wieder gesunken. Dennoch ist die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern immer noch doppelt so hoch wie in Westdeutschland. Auch die Lücke zwischen ost- und westdeutscher Wirtschaftsleistung ist immer noch zu groß.

Deshalb wird die Bundesregierung auch in Zukunft der ostdeutschen Wirtschaft ganz gezielt dort auf die Beine helfen, wo sich selbsttragende Strukturen noch nicht entwickelt haben.

Neben den Maßnahmen zum weiteren Ausbau der ostdeutschen Infrastruktur gehören dazu etwa

die Investitionszulage für Erstinvestitionen, die seit Anfang dieses Jahres um 25 Prozent erhöht wurde; die regionale Wirtschaftsförderung mit 5 Milliarden Mark jährlich; der Wettbewerb "InnoRegio", mit dem wir den Aufbau innovativer regionaler Netzwerke bis 2005 mit insgesamt 500 Millionen Mark unterstützen; das Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, bei dem gut die Hälfte der insgesamt verfügbaren 2 Milliarden Mark in den ostdeutschen Ländern eingesetzt wird und die Fortsetzung der aktiven Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau mit besonderem Schwerpunkt in Ostdeutschland. Und ebenso selbstverständlich wollen wir die finanzielle Unterstützung der ostdeutschen Länder nach 2004 fortführen.

Zu den vorrangigen Zielen der Bundesregierung in der zweiten Hälfte dieser Legislaturperiode gehört es, im Rahmen der anstehenden Bund-Länder-Gespräche zum Finanzausgleich einen "Solidarpakt 2" zu schließen, der diesen Namen auch wirklich verdient. Ich bin sicher, dass dieses Maßnahmen-Bündel dem wirtschaftlichen Aufholprozess der neuen Länder zusätzlichen Schwung geben wird.

Doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass der vor uns liegende Weg für viele Regionen in Ostdeutschland noch schwierig ist. Und dass er auch weiterhin Geduld und vor allem die harte, ausdauernde Arbeit der Menschen erfordert. Sie darin zu ermutigen und mir selbst einen unmittelbaren Eindruck von Stand und Perspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands zu verschaffen, ist das Ziel meiner Reise, die mich in den kommenden zwei Wochen durch alle fünf ostdeutschen Länder führen wird. Dabei geht es mir vor allem um das Gespräch mit den Menschen, die mit ihrem unternehmerischen, sozialen und kulturellen Engagement, die also mit ihrer Arbeit und ihrer Energie Beispielhaftes für ihre Region tun.

Am 4. September werde ich dann als Schirmherr die "Absatzkonferenz Ostdeutsche Länder" eröffnen, auf der Bundesregierung und Wirtschaft angesichts der noch nicht ausreichenden Präsenz ostdeutscher Unternehmen auf nationalen und internationalen Märkten gemeinsam neue Impulse geben wollen.

Meine Damen und Herren,

für einen wirklich nachhaltigen Aufschwung Ost ist aber natürlich die richtige Gestaltung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in ganz Deutschland von entscheidender Bedeutung. Ziel unserer Politik ist es, die Kaufkraft der Arbeitnehmer und ihrer Familien zu stärken und den Strukturwandel für die Unternehmen zu erleichtern.

Die im Zukunftsprogramm 2000 angelegten steuerlichen Entlastungen und Maßnahmen der Haushaltskonsolidierung stehen dabei im Mittelpunkt.

In Deutschland ist viel zu lange gewartet worden. Aber inzwischen ist es uns gelungen, den Reformstau aufzulösen. Dies wird übrigens auch im Ausland aufmerksam registriert - mit durchaus bemerkenswerten Konsequenzen. Die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland haben sich 1999 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt und fast die 100 Milliarden DM-Marke erreicht.

Wir haben das Vertrauen von Investoren und Konsumenten in die Handlungsfähigkeit der Politik zurückgewonnen. Und das macht sich auch bei den Konjunkturdaten positiv bemerkbar. Optimismus und Aufbruchstimmung prägen inzwischen die wirtschaftlichen Erwartungen. Inzwischen gilt die 3 Prozent-Marke beim realen Wirtschaftswachstum in diesem und im nächsten Jahr unter Konjunkturexperten überwiegend als gesichert.

Dies eröffnet zugleich gute Perspektiven, unserem wichtigsten Ziel näher zu kommen: dem schrittweisen Abbau der Massenarbeitslosigkeit. Die führenden Wirtschaftsforschungs-Institute erwarten denn auch einen Rückgang der Arbeitslosigkeit auf rund 3,5 Millionen im Jahresdurchschnitt 2001. Gegenüber dem Höchststand Anfang 1998 ist dies eine Verminderung um über eine Million.

Und: Mit den haushalts- und steuerpolitischen Beschlüssen dieses Sommers geben wir der positiven Wachstums- und Beschäftigungsentwicklung einen zusätzlichen, nachhaltigen Schub. Wir werden die Neuverschuldung weiter zurückführen. Wir halten an unserer Konsolidierungspolitik fest, weil wir nur so unserer Verantwortung für die kommenden Generationen gerecht werden können. Wir wollen und dürfen unseren Kindern nicht Schuldenberge hinterlassen, die ihre Zukunft beeinträchtigen.

Deshalb werden wir die Erlöse aus der Versteigerung der Mobilfunk-Lizenzen zur Schuldentilgung einsetzen. Dadurch eröffnen wir dem Staat neue, nachhaltige Handlungsspielräume, die wir insbesondere für Zukunftsinvestitionen in den Bereichen Verkehrsinfrastruktur sowie Bildung und Forschung nutzen wollen.

Wir sparen aber auch deshalb, weil wir damit zu niedrigen Zinsen beitragen. Dies ist gut für Investitionen und Arbeitsplätze. Und es ist gut für die Stabilität des Euro.

Meine Damen und Herren,

am 14. Juli hat der Bundesrat unserer Steuerreform 2000 zugestimmt. Damit ist der Weg frei für das größte Steuersenkungs-Programm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Investoren und Konsumenten haben jetzt einen klaren und verlässlichen Orientierungsrahmen. Sie können mit nachhaltigen Steuerermäßigungen rechnen. Die Gesamtentlastung des jetzt beschlossenen Steuerpakets wird bis auf 63 Milliarden Mark im Jahr 2005 ansteigen. Wir haben dafür gesorgt, dass alle Unternehmen und Haushalte hiervon profitieren.

Mit den beschlossenen Entlastungen verbessern sich die Angebots- und Nachfragebedingungen der Wirtschaft gleichermaßen. Dies wird der Investitionstätigkeit in Deutschland in Zukunft neue und kräftige Impulse geben.

Meine Damen und Herren,

um die Zukunft, insbesondere aber um das Ansehen unseres Landes geht es auch bei einem Thema, das nicht nur mich beschäftigt. Ich sage es hier ganz deutlich: Wir können und dürfen uns nicht damit abfinden, dass mitten in unserem Land Menschen wegen ihrer Sprache, ihrer Religion oder ihrer Hautfarbe durch die Straßen gehetzt, geprügelt oder sogar ermordet werden. Darauf müssen Staat und Gesellschaft mit aller Härte und Deutlichkeit reagieren.

Für Mord und Totschlag, für Körperverletzung und die Schändung von Friedhöfen, aber auch für Pöbeleien auf Bahnhofsplätzen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln - für all das gibt es keine Entschuldigung. Fremdenhass und rechtsextremistische Gewalt sind keine Kavaliersdelikte.

Die Prügelorgien rechtsradikaler Banden, ausländerfeindliche Exzesse und Übergriffe gegen Minderheiten schaden unserem Land. Und zwar in doppelter Weise. Sie gefährden den inneren Frieden, aber sie trüben auch das Bild Deutschlands nach außen. Ich sage das auch und gerade hier in diesem Betrieb, der Teil eines weltweit operierenden Unternehmens aus Frankreich ist.

Die Folgen sind verheerend: Zum einen für das politische und gesellschaftliche Klima im Lande. Freiheit, Demokratie und Toleranz sind Werte, die täglich, im Wohnviertel, im Betrieb, im Bus oder in der Bahn erobert und verteidigt werden müssen.

Ich bin sicher: Die Menschen in den neuen Ländern haben sich nicht von der kommunistischen Diktatur befreit, um jetzt die Straßen denen zu überlassen, die die Freiheit der anderen buchstäblich mit Füßen treten. Dieser gefährlichen Entwicklung muss Einhalt geboten werden. Und zwar nicht nur, weil sonst Investoren und dringend benötigte Spitzenkräfte für Wirtschaft und Wissenschaft abgeschreckt werden.

Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft basiert auf Werten, die nicht beliebig sind. Im Grundgesetz steht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Dort steht nicht die Würde des Deutschen, des Blondhaarigen oder des Hellhäutigen. Darum sind wir alle, die Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft aufgerufen, diese Werte durchzusetzen.

Es ist kein Widerspruch, einerseits für Gerechtigkeit und gegen Ausgrenzung zu kämpfen - und andererseits diejenigen gesellschaftlich zu ächten, die sich durch Hass und Intoleranz selbst ausgrenzen.

Meine Damen und Herren,

geradezu Vorbildliches leistet in diesem Zusammenhang das Unternehmen EKO-Stahl. Rechtsextremistische Umtriebe und Agitation im Betrieb werden nicht geduldet.

Die Entlassung von zwei Auszubildenden, die durch ihre neonazistischen Aktivitäten aufgefallen waren, ist ein Beispiel für konsequentes Durchgreifen gegen Rassismus und Menschenverachtung, das unbedingt Schule machen sollte. Nicht nur in Ostdeutschland, sondern in allen deutschen Unternehmen.

Und so gibt uns gerade EKO-Stahl Anlass, mit einiger Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Die wirtschaftlichen Perspektiven sind so gut wie schon seit Jahren nicht mehr - und zwar in den alten ebenso wie in den neuen Ländern.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des EKO-Stahlwerks haben daran einen entscheidenden Anteil. Sie und die Kollegen, die vor Ihnen hier tätig waren, haben im vergangenen halben Jahrhundert hart gearbeitet für eine gute Perspektive des Stahlstandorts Eisenhüttenstadt.

In diesem Sinn wünsche ich den Beschäftigten des EKO-Stahlwerks und den Menschen in Eisenhüttenstadt für die Zukunft Erfolg und Glück auf.