Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 04.09.2000

Anrede: Sehr geehrter Herr Außenminister Védrine, sehr geehrter Herr Bundesaußenminister, meine Damen und Herren Abgeordnete, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/51/17351/multi.htm


ich freue mich, Sie auf dieser Konferenz begrüßen zu können. Es ist die erste Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland. Natürlich gehört es sich nicht nur so, sondern es ist meine Überzeugung, Ihnen meine Anerkennung für den Sachverstand auszusprechen, mit dem Sie die Bundesregierung in außenpolitischen Angelegenheiten beraten. Bedanken möchte ich mich aber auch für Ihr persönliches Engagement in den Ländern, in denen Sie für unser Land tätig sind.

Die Wochen vor der Sommerpause haben einmal mehr nachdrücklich bestätigt: Die bilaterale und die multilaterale Außenpolitik bestimmen einen erheblichen Teil der Politik der Bundesregierung, allemal natürlich des Bundesaußenministers, aber auch einen erheblichen Teil meines eigenen Terminkalenders.

Nacheinander haben neben vielen anderen die Präsidenten Clinton, Chirac und Putin sowie Premierminister Blair, Ministerpräsident Zhu Rongji und Präsident Chatami die Hauptstadt Berlin besucht. Vor wenigen Monaten haben wir hier in Berlin auch die Konferenz über Modernes Regieren ausrichten dürfen, bei der 14 Staats- und Regierungschefs Grundfragen internationaler Gesellschaftspolitik erörtert haben.

Ohne Ihre Hilfe und Ihren Rat als Experten könnten weder ich noch die gesamte Bundesregierung die außenpolitischen Aufgaben bewältigen. Wir können uns auf die Einsatzbereitschaft des Auswärtigen Dienstes, auch und gerade auf den schwierigen Posten, verlassen. Hierfür möchte ich Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und auch Ihren Familien sehr herzlich danken.

Meine Damen und Herren, die genaue Kenntnis von Politik, Wirtschaft und Kultur Ihrer Gastländer ist nur ein Aspekt Ihrer Verantwortung. Gleichzeitig sind Sie es auch, die das Bild von Deutschland bei Ihren Gastgebern oft ganz wesentlich bestimmen. Sie vertreten im Ausland nicht nur die Politik der Bundesregierung, sondern - das halte ich für ebenso wichtig - die deutsche Gesellschaft insgesamt. Sie tragen also erheblich zu dem bei, was man "neu hochdeutsch" Imagebildung des Landes nennt.

Wir sollten uns deshalb darüber verständigen, was unsere Gesellschaft darstellt und in welche Richtung sie sich bewegt bzw. bewegen soll. Ich möchte in diesem Zusammenhang drei Themenfelder ansprechen: erstens die Zukunftsfähigkeit der deutschen Gesellschaft, zweitens die Förderung der europäischen Einigung und drittens unsere spezifische Verantwortung in der Welt.

Zum Ersten: Die Bundesregierung hat in den letzten zwei Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um unser Land zukunftsfähig zu machen. Noch vor wenigen Jahren - das ist in fast allen Medien nachzusehen - ist in unserer Gesellschaft ein lähmender Stillstand beklagt worden. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die beispiellose Staatsverschuldung und die bedrückende Belastung der Arbeit mit Nebenkosten waren Symptome eines Zustands politischer Stagnation. Gleichzeitig aber veränderte sich die Welt in einem rasanten Tempo.

An der Schwelle zum dritten Jahrtausend befinden wir uns mitten in einem tief greifenden Umbruch: Die technologischen Entwicklungen beschleunigen den Wandel von der Industriegesellschaft hin zu einer wissensbasierten Informationsgesellschaft.

Deutschland muss sich diesen Entwicklungen stellen, wenn es gegenüber den Partnern und Wettbewerbern in der Welt nicht abfallen will. Für eine neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik müssen wir die strukturellen Hindernisse weiter aus dem Weg räumen.

Die Bundesregierung hat den Reformstau in unserem Land aufgelöst bzw. ist dabei, die Reste dieses Reformstaus zu beseitigen. Sie wird fortsetzen, womit sie in den vergangenen zwei Jahren begonnen hat, nämlich unser Land zukunftsfähig zu machen.

Die Zwischenbilanz kann sich sehen lassen, und sie wird auch international wahrgenommen. Die größte Steuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik entlastet die Bürgerinnen und Bürger auf der einen Seite und die Wirtschaft auf der anderen Seite bis zum Jahr 2005 um über 90 Milliarden DM.

Wir haben uns dabei das Ziel gesetzt und glauben, es auch erreicht zu haben - die Sachverständigen stützen diese Annahme - , eine sorgsam ausgewogene Mischung aus einer nachfrageorientierten Steuerpolitik - also auf die Masseneinkommen ausgerichtet, auch zur wirtschaftlichen Stabilisierung und zur Stabilisierung der Binnenkonjunktur - und einer Politik, die die Angebotsseite berücksichtigt, zu machen. Angebotsseite ist hier als die Sorge um die Kostenbelastungen der Wirtschaft zu verstehen - nicht, weil wir Geschenke zu verteilen gedächten, sondern weil wir die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft brauchen und wollen, da das die Basis für unser aller Wohlstand ist.

Die Haushaltskonsolidierung ist in Gang gesetzt, wodurch wir bis 2006 einen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung erreichen wollen. Angesichts einer immer noch aktuellen Belastung von 1,4 Billionen DM, für die wir jährlich über 80 Milliarden DM Zinsen zu zahlen haben, ist das auch ein Gebot der Nachhaltigkeit, also ein Gebot des Respektes vor der Entscheidungsfreiheit unserer Kinder und Enkelkinder.

Aber das gilt genauso klar auf dem Gebiet der Finanzpolitik. Sparen selbst ist nicht Selbstzweck. Wir wollen politischen Spielraum und Entscheidungsmöglichkeiten zurückgewinnen und vor allen Dingen in die Zukunftsbereiche investieren. Wir werden deshalb auch aus den Zinsersparnissen der UMTS-Erlöse, die wir vollständig zur Reduzierung der Staatsschulden einsetzen werden, mehr Mittel für Bildung, Wissenschaft und Forschung mobilisieren. Der Haushaltstitel für Bildung und Forschung wird im Jahr 2001 um 780 Millionen DM erhöht. Das für 2000 und 2001 vorhergesagte Wirtschaftswachstum in der Größenordnung von mindestens drei Prozent belegt: Die Konjunktur entwickelt sich positiv. Dabei ist uns wichtig: Sie ist nicht mehr eine nur vom Export gestützte Konjunktur, sondern mehr und mehr auch eine, die durch den Binnenmarkt in Gang gehalten wird.

Damit kommen wir unserem wichtigsten Ziel näher, nämlich die Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Die Prognosen sagen vorher - ich halte sie für richtig und wahrhaftig - , dass die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2002 unter die 3,5 Millionengrenze zu drücken sein wird. Das bedeutet, dass wir in dieser Legislaturperiode die Arbeitslosigkeit um rund 1 Million verringern können.

Mich freut dabei besonders, dass es uns mehr und mehr gelingt, Jugendarbeitslosigkeit massiv zu reduzieren - mehr noch als die allgemeine Arbeitslosigkeit.

Ob es um Staatsverschuldung, Rentenversicherung, Gesundheitsreform oder auch um eine vernünftige Energiepolitik geht: Mit dem Prinzip, Lasten in die Zukunft zu verschieben und sie unseren Kindern und Enkeln aufzubürden, haben wir Schluss gemacht. Das war auch nötig.

Meine Damen und Herren, mit der Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes und auch der - sachlich fälschlicherweise so genannten - Green Card-Initiative wurde eine überfällige Diskussion in unserem Land nicht nur in Gang gesetzt, sondern die Wirkung war, dass sich Einstellungen in dieser Frage verändert haben und sich weiter verändern.

Unsere Gesellschaft begreift sich vor diesem Hintergrund zunehmend auch als Zusammenschluss von Menschen ganz unterschiedlicher kultureller, religiöser und ethnischer Herkunft, was ein wesentlicher Beitrag zur Herstellung internationaler Wettbewerbsfähigkeit gerade im 21. Jahrhundert ist.

Als Land in der Mitte Europas waren wir Deutschen in der Geschichte immer unterschiedlichsten Einflüssen ausgesetzt. Wir haben, meine Damen und Herren - und das völlig zu Recht - diese Einflüsse immer als Bereicherung erfahren und als solche angenommen. Wir werden also in einem breiten gesellschaftlichen Konsens klären, wie Zuwanderung künftig geregelt werden kann.

Ich betone gerade auch in diesem Zusammenhang: Ausländerfeindlichkeit und neonazistische Gewalt werden wir in Deutschland nicht dulden! Meine Bitte ist, dass Sie auch bei Ihrer Tätigkeit in Ihren Gastländern deutlich machen, dass dies ein Problem in Deutschland ist, es aber nicht mit Deutschland verwechselt werden darf. Auch dies sollten wir selbstbewusst sagen und vermitteln.

Zu einer solchen Betrachtung verpflichtet uns nicht nur unsere Geschichte. Es geht auch nicht allein um den Ruf unseres Landes im Ausland, um Investoren oder dringend benötigte Spitzenkräfte für Wissenschaft und Wirtschaft. Nein, es geht nach meiner festen Überzeugung um ein elementares Prinzip unserer Demokratie: Wir wollen und wir dürfen nicht an den Grundwerten unserer Gesellschaft rütteln lassen. Wenn Grundrechte wie Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit nicht für alle Bürgerinnen und Bürger, also auch und gerade für die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gleichermaßen gelten, dann geht mehr als Oberflächliches kaputt. Dann ist buchstäblich unsere gemeinsame Werteordnung in Gefahr.

Die Bundesregierung wird gemeinsam mit den für die Sicherheitsfragen zuständigen Bundesländern und - das ist mir wichtig - einer aufgeklärten Öffentlichkeit in Deutschland Demokratie so sichern, dass auch der wehrhafte Charakter gegenüber Neonazis deutlich wird. Ich habe nicht ohne Grund bei der Bekämpfung dieser gesellschaftlichen Erscheinung, die man übrigens nicht im Osten unseres Landes abladen darf - das ist ein gesamtstaatliches Problem und keines, das auf Ostdeutschland beschränkt wäre - , immer von einem Dreiklang gesprochen und will das hier auch wiederholen. Es geht erstens darum, gegenüber denjenigen Personen und Gruppierungen, die Gewalt anwenden, die sich anmaßen, als Gruppe oder als Einzelne entscheiden zu wollen, wer in diesem Land unbehelligt leben und arbeiten darf - ob sie nun Vereine oder Parteien sind - , deutlich zu machen, dass das ein Angriff auf das Gewaltmonopol des Staates ist, den der Staat nicht dulden wird. Das Gewaltmonopol des Staates ist ein großer zivilisatorischer Fortschritt, den er mit allem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen wird.

Dies schließt ein, meine Damen und Herren - ich sage das hier mit der Bitte, davon in Ihren Gastländern Gebrauch zu machen - , dass wir jene Strukturen nicht dulden werden, die Gewalttätern Deckung bieten. Das bedeutet, dass solche Organisationen, so weit es sich um Vereine handelt, mit Hilfe der Verwaltungsbehörden verboten werden. Und das bedeutet auch - unterstellt, wir haben auch nur die Spur einer juristischen Chance - , dass wir bei entsprechenden Parteien Verbotsanträge beim Bundesverfassungsgericht stellen werden.

Meine Damen und Herren, das zweite Element muss genauso klar sein: Den jugendlichen Mitläufern - aus welchen Gründen auch immer - werden wir zwar entgegentreten, ihnen aber zugleich eine soziale Perspektive bieten, die Ausbildungs- und auch Arbeitsmöglichkeiten vermittelt.

Das dritte mir wirklich wichtige Element ist, dass die gesamte deutsche Gesellschaft spürt, wie wichtig dieser Kampf um der Demokratie willen ist. Wir müssen einen zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen diese Erscheinungen mobilisieren. Nur in diesem Dreiklang haben wir die Chance, einen wirklich erfolgreichen Kampf zu führen. Dieser Kampf kann übrigens nicht auf eine Sommerpause beschränkt sein, sondern ist in der deutschen Gesellschaft eine dauernde Aufgabe.

Meine Damen und Herren, mit den bisherigen Reformen ist uns eine Trendwende gelungen. Das lässt sich an dem wachsenden Optimismus der Bürgerinnen und Bürger ablesen, was die wirtschaftliche Entwicklung angeht.

Meine Bitte an Sie als Vertreterinnen und Vertreter unseres Landes ist: Ich möchte, dass Sie im Ausland das Bild einer Bundesrepublik vermitteln, das dieses Land und seine Menschen wirklich verdient haben, nämlich das Bild einer weltoffenen, aufgeklärten und toleranten Bundesrepublik, für die Internationalität und internationale Solidarität keine Fremdwörter sind. Verdeutlichen Sie, dass Deutschland wieder spannend ist - wirtschaftlich, technologisch, wissenschaftlich, aber eben auch kulturell! Zeigen Sie, dass Deutschland ein Land ist, in dem Menschen Eigenverantwortung übernehmen und in dem die Freiräume für die Übernahme dieser Eigenverantwortung auch garantiert sind!

Ich habe eine letzte, aber nicht weniger dringliche Bitte, die ich schon öfter bei meinen Besuchen im Ausland formuliert habe: Im Zeitalter der Globalisierung erfährt vor allem die heimische Wirtschaft auf den Weltmärkten verschärften Wettbewerbsdruck. Bei der Sicherung neuer Märkte braucht unsere Wirtschaft auch Geleitschutz von der Politik. Darauf hat sie berechtigten Anspruch.

Ich freue mich darüber, dass sich die Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland diese Pflege und diese Hilfe beim Aushalten eines globalen Wettbewerbs zu Eigen gemacht haben. Denn man kann mehr und mehr feststellen - und das ist gut so - , dass sich die deutschen Botschaften auch als Anwalt deutscher Außenhandelsinteressen verstehen. Ich finde das richtig. Das engt die Möglichkeiten im Wissenschaftlichen und Kulturellen keineswegs ein, sondern ergänzt sie sinnvoll.

Meine Damen und Herren, ich komme zum zweiten Teil meiner Ausführungen, die Förderung der europäischen Einigung.

Die Länder Europas werden im Zeitalter der Globalisierung nicht als isolierte Nationalstaaten bestehen können. Europa kann seine Werte und Ideale, seinen Ideenreichtum und seine Wirtschaftskraft nur zum Tragen bringen, wenn es geschlossen handelt und seine Kräfte überall dort bündelt, wo es sinnvoll und nötig ist.

Hierdurch kommen auf Sie als Leiterinnen und Leiter von Auslandsvertretungen neue Anforderungen zu. Sie werden zunehmend als Europäer wahrgenommen, und Sie werden immer häufiger die Interessen und Ziele der Union vertreten. Der Auswärtige Dienst muss sich gemeinsam mit den europäischen Partnern überlegen, welche neuen Organisationsformen anzustreben sind.

Sie alle kennen das anspruchsvolle europäische Arbeitsprogramm bis zum Europäischen Rat in Nizza. Neben der Schaffung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der Erarbeitung einer Grundrechtscharta muss die institutionelle Reform der Union erfolgreich zum Abschluss gebracht werden.

Außenminister Védrine hat noch einmal deutlich gemacht, welche Probleme die Regierungskonferenz bis zum Ende des Jahres zu lösen hat. Es bleibt - das will ich auch hier noch einmal betonen - für den Fortschritt in Europa unverzichtbar, dass sich vor allem Deutschland und Frankreich eng abstimmen. Deswegen habe ich es nicht als Zufall begriffen, dass der französische Außenminister neben dem Bundesaußenminister der Redner des heutigen Morgens war. Ich begrüße das ausdrücklich.

Die Erweiterung der Europäischen Union ist - das hat der Bundesaußenminister in seiner brillanten programmatischen Rede deutlich gemacht - eine epochale Veränderung: Eine Union mit 25 und mehr Mitgliedstaaten, der auch Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes angehören, wird nicht mehr der Gemeinschaft gleichen, die vor fast 50 Jahren gegründet worden ist.

Es ist klar: Die Erweiterung bietet uns Chancen, wirtschaftlich, aber auch politisch. Wir werden in Europa, und zwar alle, vom erweiterten Binnenmarkt profitieren. Die Erweiterung nach Mittel- und Südosteuropa ist für uns und unsere Sicherheit ein ganz wesentlicher Stabilitätstransfer.

Das historische Projekt der europäischen Integration zielte immer auf das ganze Europa. Jetzt wird diese Vision Wirklichkeit: Nach der Erweiterung wird die Europäische Union ihren Namen mit Fug und Recht tragen können.

Die Europäische Union ist ab 2003 bereit, neue Mitglieder aufzunehmen. Jeder denkbare Kandidat entscheidet durch eigene Leistung darüber, wann er - von diesem Zeitpunkt an - eine Mitgliedschaft erreicht.

Das Europa der Zukunft wird als politisch handlungsfähige Einheit aber nur dann eine Überlebenschance haben, wenn der Integrationsprozess differenzierter wird, als er heute ist. In einer Union mit 25 oder mehr Mitgliedstaaten mögen nicht mehr alle Partner gleichermaßen willig und auch fähig sein, die Zusammenarbeit weiter auszubauen.

Die laufende Regierungskonferenz muss deshalb vereinfachte Regeln für das Voranschreiten besonders integrationsbereiter Mitgliedstaaten vereinbaren. Eine Vorreiterrolle Einzelner muss innerhalb des Vertragsrahmens möglich und praktizierbar sein.

Die Alternative dazu wäre schlechter. Deswegen kann sie nicht unser Ziel sein. Die Alternative wäre nämlich, dass sich Formen verstärkter Zusammenarbeit außerhalb der Verträge herausbilden.

Meine Damen und Herren, in wegweisenden Reden haben Präsident Chirac und - ich erwähnte es bereits - Bundesminister Fischer erste Vorstellungen zur Zukunft der Europäischen Union entwickelt. Dies waren nicht Äußerungen - ich habe nur die deutsche Seite zu kommentieren - ausschließlich privater Personen. Mir liegt daran, dass das schon die Position der Bundesregierung ist, auch wenn Einzelheiten dieser Visionen noch diskutiert werden müssen. Es gilt aber allemal: Die skizzierte Richtung stimmt. Übrigens stimmt auch das Tempo. Wir, die Deutschen, sind an einer zügigen Erweiterung nach Osten interessiert. Wir sind es übrigens nicht nur wegen des politischen Projektes Europa, sondern wir sind es auch aus einem eigenen nationalen ökonomischen Interesse heraus.

Wer sich einmal wie ich in den letzten 14 Tagen die Mühe macht, sich entlang der deutschen Ost- und der polnischen Westgrenze aufzuhalten, wird spüren, dass es dort ökonomische Austauschbeziehungen gibt, die nur entwickelt werden können, wenn Märkte in den beitrittswilligen Ländern diesen Namen mehr und mehr verdienen. Wenn Märkte entstehen, entwickeln sich Austauschbeziehungen. Hier liegt der Grund, warum Deutschland an einer termingerechten Erweiterung interessiert ist.

Mich beschäftigt in diesem Zusammenhang die Frage, wie wir über Nizza hinaus das kurzfristige Ziel einer Reform der Entscheidungsverfahren mit der mittel- und langfristigen Gestaltung der Union verbinden können. Ich halte ein zweistufiges Verfahren für aussichtsreich:

In einem ersten Schritt reformieren wir in Nizza die europäischen Entscheidungsverfahren und verabschieden die Grundrechtscharta als politische Proklamation. Dabei lege ich übrigens Wert darauf, dass die Fragen, die damit zusammenhängen, politische und weniger mathematische Fragen sind.

In einem zweiten Schritt sollten wir dann einerseits die Frage der Kompetenzabgrenzung auf europäischer Ebene angehen, andererseits den Text der Grundrechtscharta in die Verträge übernehmen und uns drittens mit der Problematik der Gewaltenteilung zwischen den Brüsseler Institutionen auseinander setzen. Damit wären wir mitten in einer Verfassungsdiskussion, die ich im Übrigen für unausweichlich halte.

Die europäischen Bürger haben im Angesicht des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses einen Anspruch auf eine präzise und für jedermann verständliche Verfassung, die auch die Frage der Abgrenzung der Kompetenzen innerhalb und zwischen den unterschiedlichen politischen Ebenen vernünftig löst.

Die Verfassungsdiskussion sollte in eine umfassende Regierungskonferenz münden, die etwa 2004 zusammentreten könnte und der eine breite öffentliche Diskussion in ganz Europa vorauszugehen hätte. Das ist sicher eine vernünftige und berechtigte Forderung.

Ich werde meinen Kollegen im Europäischen Rat vorschlagen, die Einberufung einer solchen Konferenz schon in Nizza verbindlich zu vereinbaren. - Zur Vermeidung von Missverständnissen aber so viel: Der Abschluss dieser zweiten Konferenz wäre selbstverständlich keine neue Voraussetzung für eventuelle Beitritte. Die Messlatte für die Kandidaten bleibt so, wie wir es in Helsinki beschlossen haben, also unverändert.

Meine Damen und Herren, der letzte Punkt wendet sich der Frage zu, wie wir unserer Verantwortung in der Welt gerecht werden können. Auch wenn der europäische Einigungsprozess zentrale Aufgabe der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bleibt: Europa kann keine Insel der Glückseligen in einem Meer potenzieller Unruhe und Instabilität sein. Die Sicherung von Frieden und Stabilität außerhalb Europas liegt genauso in unserem fundamentalen Interesse wie die friedliche Entwicklung unseres eigenen Kontinents.

Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich - bezogen auf gelegentliche innenpolitische Diskussionen - dafür plädiere, über den Kirchturm hinweg zu schauen und auch bei gelegentlich schwierigen Themen - wie etwa rüstungsexportpolitische Diskussionen - nicht so zu tun, als seien diese Fragen allein in nationaler Verantwortung zu lösen. Hier gibt es Interdependenzen, die berücksichtigt werden müssen und die man dann auch gegenüber dem einen oder anderen Parteitag vertreten muss. - Damit war Keiner besonders gemeint.

Wir können nicht teilnahmslos zusehen, wenn außerhalb Europas das Recht von brutaler Macht zurückgedrängt wird, wenn ethnische Säuberungen und andere massive Völkerrechtsverletzungen verübt werden und lokale Kriegsherren Staaten zerstören. Wenn wir das zuließen, würden wir am Ende der Entzivilisierung und Brutalisierung auch bei uns Vorschub leisten.

Der Bundesaußenminister und ich werden morgen zum Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen reisen. Wir werden dort bekräftigen, dass die Mitarbeit Deutschlands an den Zielen der Vereinten Nationen eine außenpolitische Priorität für Deutschland hat.

Ich bin überzeugt, dass wir die Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert mehr denn je brauchen. Sie bleiben der einzige universelle Zusammenschluss der Staaten zur Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit und auch des Friedens, zur Lösung globaler Probleme und zur Schaffung und Durchsetzung internationaler Normen des Völkerrechts und der Menschenrechte.

Die Vereinten Nationen müssen sich aber stärker und effizienter den drängenden Problemen auf unserem Planeten zuwenden. Der Sicherheitsrat muss rechtzeitig handeln, wenn Frieden und Sicherheit bedroht sind oder Menschenrechte massiv verletzt werden - ob in Europa auf dem Balkan oder bei Krisenherden in Afrika, Asien und Lateinamerika. Hierzu muss der Sicherheitsrat mehr als bisher handlungsfähig werden. Wir wollen unseren bescheidenen Beitrag dazu leisten.

Die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben ein Interesse daran, dass der Sicherheitsrat der Wirklichkeit im 21. Jahrhundert entspricht und die leistungsstärksten Mitgliedsstaaten nicht ausgegrenzt bleiben. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihrer Größe und auch außereuropäischen Bedeutung entsprechend ein Interesse daran, im Sicherheitsrat Verantwortung zu übernehmen. Ich danke Präsident Chirac, dass er hierzu im Juni vor dem Deutschen Bundestag klare Worte gefunden hat.

Meine Damen und Herren, die Globalisierung bietet gewaltige Chancen für den Wohlstand unserer Gesellschaften. Wir dürfen aber ungeachtet der Chancen auch vor den damit logischerweise verbundenen Risiken nicht die Augen verschließen. Deshalb habe ich mit meinen G 8-Kollegen am 23. Juli in Okinawa Beschlüsse zur Risikoeindämmung gefasst, denen wir uns - genauso wie die internationalen Finanzinstitutionen - im Sinne einer globalen Ordnungspolitik stellen müssen. Wir wollen die Schaffung und Stärkung der internationalen Finanzarchitektur, damit spekulative Kapitalströme nicht ganze Volkswirtschaften ruinieren können. Dieser Ansatz bleibt auch richtig, wenn es vor mir schon Andere gesagt haben.

Wir müssen, meine Damen und Herren, auch durch neue Liberalisierungsschritte im WTO-Rahmen, eine weitere soziale Ausgrenzung der ärmsten Entwicklungsländer verhindern. Wir wissen: Armut, Schulden, Umweltzerstörung, Terrorismus, grenzüberschreitende Kriminalität, gewaltsame Auseinandersetzungen und Kriege sind ein Teufelskreis, aus dem wir ausbrechen müssen und mit kluger Politik auch können. Eine erfolgreiche internationale Konfliktprävention muss die Lösungen für diese Probleme miteinander vernetzen.

Mit der von der Bundesregierung initiierten Kölner Schuldeninitiative, die die G 8 in Okinawa fortgesetzt haben, sind die Voraussetzungen geschaffen, Schuldenerleichterungen mit einer Strategie der Armutsbekämpfung zu verbinden. Die zwanzig ärmsten Entwicklungsländer sollen bis zum Jahresende weitestgehend schuldenfrei sein.

Ich bin über die Lage an einigen Krisenherden der Welt - wie Sie sicher auch - besorgt. In Afrika wird der zunehmende Staatszerfall zu einem erheblichen Stabilitäts- und auch Sicherheitsproblem. AIDS bedroht nicht nur in Afrika ganze gesellschaftliche Gruppen in ihrer Existenz.

Wir müssen uns im reichen Norden unseres Planeten immer wieder bewusst machen, dass uns diese Probleme auch angehen und wir sie nicht denen, die betroffen sind, allein überlassen dürfen. Also ist Engagement gefragt. Es gibt keine Mauern, die uns abschirmen. Das wissen Sie als diejenigen, die in solchen Ländern tätig sind, am allerbesten.

Ich bin mir bewusst: Auch die jetzige Bundesregierung kann zurzeit in der Entwicklungsarbeit aus materiellen Gründen nicht so viel leisten, wie es wünschenswert wäre und wie es jeder von uns gern möchte. Aber: Wir schaffen mit unseren Reformen im Inneren und der Haushaltskonsolidierung eine der wichtigsten, wahrscheinlich die wichtigste Voraussetzung dafür, auch in diesem Bereich rasch wieder verstärkt leistungsfähig zu sein. Wir wissen: Entwicklung in der Welt bringt Sicherheit, Stabilität und Wirtschaftswachstum auch für Europa.

Meine Damen und Herren, das Engagement für die Menschenrechte steht - das wissen Sie - auf der Prioritätenliste dieser Regierung weit oben. Wir müssen prüfen, wie wir unseren eigenen Ansprüchen in den kommenden Jahren noch besser gerecht werden können. Ich habe deshalb die Bitte an Sie, sich vor Ort gemeinsam mit Ihren Kollegen beharrlich und in der gebotenen Weise für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen. Wer, wenn nicht wir Deutsche, sollte sich der Stärkung der Menschenrechte zu Hause und mit Sensibilität auch in der Welt besonders verpflichtet fühlen, und zwar immer im Verbund mit unseren europäischen Partnern?

In Ländern mit unbefriedigender Menschenrechtslage sind nicht zuletzt Sie als Botschafterinnen und Botschafter gefordert, der spezifischen Situation Ihres Gastlandes angemessene Mittel und Wege zu deren Veränderung und Verbesserung vorzuschlagen. Moral- und interessengeleitete Politik müssen sich nicht ausschließen. Man kann das zusammenbringen, auch wenn es gelegentlich schwierig ist.

Meine Damen und Herren, mit dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin im vergangenen Jahr ist ein Abschnitt deutscher Nachkriegsgeschichte zu Ende gegangen. Bonn steht für die erfolgreiche Demokratisierung unserer Gesellschaft und die feste Einbindung unseres Landes in die europäisch-atlantische Gemeinschaft. Berlin symbolisiert auf der Grundlage der Bonner Errungenschaften die Einheit Deutschlands, die wir hier, nachdem sie staatsrechtlich geleistet worden ist, ökonomisch, sozial, aber auch psychologisch vollenden wollen.

Berlin steht aber nicht allein für die Zukunft unseres Landes. Nein, es erinnert auch an Licht- und Schattenseiten deutscher Geschichte. Verweist der Reichstag auf unsere demokratischen Traditionen, erinnert die nicht einmal 500 Meter von hier entfernte Stätte der Bücherverbrennung auf dem Opernplatz an den nationalsozialistischen Ungeist. Die Holocaustgedenkstätte in der Nähe des Ortes, an dem sich das Reichssicherheitshauptamt befand, wird dauerndes Mahnmal für die von Deutschen verübten Verbrechen sein.

Deutschland hat sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts seiner Schuld gestellt. Hierbei waren es auch die deutschen Diplomaten, die durch verantwortlichen Umgang mit unserer Geschichte wieder Vertrauen aufgebaut haben und den Menschen in Europa und Übersee glaubhaft vermitteln konnten: Sie haben es mit einer neuen, freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft zu tun, von der Freundschaft und Zusammenarbeit mit den Nachbarn und der Welt ausgeht.

Meine Damen und Herren, bei der Vollendung der inneren Einheit Deutschlands gilt es nach wie vor, bestehende Gegensätze wie auch Missverständnisse zu überwinden. Während meiner Rundreise durch die neuen Bundesländer in den vergangenen vierzehn Tagen habe ich mit vielen Menschen über diese Frage diskutieren können. Im vereinten Deutschland können die Lebenserfahrungen der Menschen aus Ost und West nicht einfach addiert werden. Es gilt statt dessen für uns alle, weiter an Neuem, weil Gemeinsamem, zu arbeiten. Der Prozess der gemeinsamen Identitätsstiftung steht in direktem Zusammenhang mit der Aufgabe, Deutschland zukunftsfähig zu machen.

Ich bin optimistisch. Denn gerade bei der Notwendigkeit, sich auf die neuen Gegebenheiten der Globalisierung, der Medien- , Informations- und Dienstleistungsgesellschaft einzustellen und anzupassen, haben die ostdeutschen Bundesländer keinen Nachholbedarf - auf manchen Gebieten sind sie sogar deutlich voraus.

Meine Damen und Herren, unter deutschen Tugenden versteht man jenseits unserer Landesgrenzen üblicherweise - das ist wahrlich nichts Schlimmes - Disziplin, Fleiß, Ausdauer und gelegentlich auch eine gewisse emotionale Zurückhaltung im Vergleich zu anderen. Es wäre schön, meine Damen und Herren, wenn wir deutlich machen könnten und Sie mithelfen würden, dass auch Begeisterungsfähigkeit, Kreativität und Entdeckergeist zu diesen Tugenden gehören. Ich bin überzeugt, dass Sie sich - wie der gesamte Auswärtige Dienst - gerade mit den letztgenannten Tugenden den zukünftigen Aufgaben stellen werden, über die ich heute gesprochen habe.

Ich wünsche Ihnen, meine Damen und Herren, einen erfolg- und ertragreichen Verlauf dieser ersten gemeinsamen Konferenz und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.