Redner(in): Angela Merkel
Datum: 13.10.2009

Untertitel: in Frankfurt am Main
Anrede: Sehr geehrter Herr Professor Honnefelder, sehr geehrter Herr Herr Boos, sehr geehrter Herr Vizepräsident Xi Jinping, sehr geehrte Frau Tie Ning, sehr geehrter Herr Mo Yan, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Roland Koch, sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, liebe Petra Roth, Exzellenzen, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Rede/2009/10/2009-10-14-merkel-buchmesse,layoutVariant=Druckansicht.html


in Büchern stöbern, in andere Welten eintauchen, verschiedenen Kulturen begegnen und immer wieder Neues entdecken und lernen die Faszination Lesen kennt keine Grenzen, Lesen verbindet. Nirgends wird dies deutlicher als auf Buchmessen, vor allem bei der weltweit größten, der Frankfurter Buchmesse. Es ist mir deshalb eine Freude, bei der Eröffnung der traditionsreichen Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr mit dabei zu sein dies erst recht, als wir uns in Deutschland gemeinsam mit Herta Müller über ihren Literatur-Nobelpreis für ihr gesamtes Werk freuen können. Ich möchte die Gelegenheit dazu nutzen, ihr hierfür ganz herzlich zu gratulieren. Ich gratuliere auch Kathrin Schmidt zur Verleihung des Deutschen Buchpreises 2009 für ihren Roman "Du stirbst nicht".

Meine Damen und Herren, um ein Buch zu lesen, bedarf es keiner Hardware, keiner Software, keines elektronischen Netzwerks. So hat das Buch in einer eng vernetzten Berufs- und Medienwelt durchaus etwas Befreiendes an sich. Es ist ein Sinnbild jener Muße, die wir umso schmerzlicher vermissen, je mehr sie uns abhanden kommt. Es ist und bleibt ein menschliches Grundbedürfnis, ein Buch in den Händen zu halten. Sicherlich, mit den vielen neuen onlinegestützten elektronischen Medien- und Kommunikationsangeboten ist dem Buch ernsthafte Konkurrenz erwachsen. Gleichwohl bin ich der Ansicht, dass das Buch weiterhin eine gute Zukunft hat.

Bücher fordern unsere Aktivität, sie beflügeln vor allen Dingen unsere Phantasie. Das macht sie, für mich jedenfalls, einzigartig und unverzichtbar. Phantasie kennt bekanntlich keine Grenzen. Sie beflügelt uns, offen für Neues zu sein und uns immer wieder auf Neues einzulassen. Dies wiederum ist wesentliche Voraussetzung dafür, um in einer Welt, die sich beständig wandelt, auch wirklich bestehen zu können. Rascher Wandel geht oft mit nur noch oberflächlicher, zumeist schneller und flüchtiger Wahrnehmung von Informationen einher. Bücher können uns aber dabei helfen, etwas tiefer zu denken und unseren Zugang zur Wirklichkeit entscheidend zu erweitern. Denn sie schenken uns immer wieder Momente der Reflexion.

Das ist vielleicht auch einer der wesentlichen Gründe, warum in Diktaturen Bücher zensiert oder gar verbrannt werden. Bücher besitzen ein großartiges freiheitliches Potential. Ich habe das während meines Lebens in der ehemaligen DDR immer wieder erfahren können. Immer wieder habe ich erlebt, wie spannend es war, wenn neben dem überschaubaren Angebot der DDR-Verlage wieder etwas auf den Markt kam. Immer wieder habe ich gehofft, Bekannte und Verwandte aus dem Westen zu finden, die es nicht nur auf sich nahmen, ein Paket mit Seife und Apfelsinen zu schicken, sondern auch ein Buch zu schmuggeln, wozu ziemlich viel Mut gehörte.

Wir wussten eben: Bücher stoßen an, sie bieten Reibeflächen, sie provozieren, kritisieren und stellen Unterschiede heraus Unterschiede, die eine Diktatur gefährden und eine Demokratie auszeichnen. Deshalb haben Bücher beim Zusammenbruch der Berliner Mauer, an den wir am 9. November zum 20. Mal denken werden, eine wichtige Rolle gespielt. Bücher haben eine wichtige Rolle beim Überwinden des Kalten Krieges gespielt. Deshalb können wir auch mit Stolz sagen: Bücher sind Teil unserer Geschichte, sie sind wirklich ein Kulturgut.

Aber, meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Auch ein Kulturgut wie das Buch unterliegt den ökonomischen Gesetzen von Angebot und Nachfrage. Auch Autoren, Verlage und Buchhändler müssen betriebswirtschaftlich rechnen und sich am Markt bewähren. Dennoch beharre ich darauf, dass das Kulturgut Buch eben kein beliebiges Wirtschaftsgut ist. Das Kulturgut Buch ist auf Rahmenbedingungen angewiesen, die seiner kulturellen Bedeutung Rechnung tragen.

Hierbei spielen die Buchpreisbindung und der ermäßigte Umsatzsteuersatz eine entscheidende Rolle. An beidem das darf ich Ihnen heute sagen wird die Bundesregierung festhalten. Wir wollen eine breite Vielfalt und Verfügbarkeit des Angebots gedruckter Bücher sicherstellen. Unsere lebendige Verlags- und Buchhandelslandschaft muss auch in einer weit ausgebauten digitalen Medienwelt ihren Platz haben. Deshalb halte ich es zum einen für unerlässlich, auch E-Books dem Buchpreisbindungsgesetz zu unterstellen. Und zum anderen begrüße ich es ausdrücklich, dass sich der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bei seinen Mitgliedern dafür einsetzt, dass die Vorgaben der gesetzlichen Buchpreisbindung auch wirklich eingehalten werden.

Vielfalt und Verfügbarkeit von Büchern sind viel zu kostbar, um sie aufs Spiel zu setzen, auch und gerade vor dem Hintergrund einer immer enger zusammenwachsenden Welt. In diesem Zusammenhang, Herr Prof. Honnefelder, werden wir als Bundesregierung auch alles daransetzen, den Urheberschutz, den Schutz des geistigen Eigentums, weltweit zu verankern, aber wissend, dass dies nicht nur allein von uns abhängt und dass das ein dickes Brett ist, das wir in unserer heutigen Zeit bohren müssen. Doch geistiges Eigentum gilt es auch in Zukunft zu schützen, meine Damen und Herren, dies auch gerade deshalb, weil sich

im Buch der Reichtum verschiedener Kulturen und regionaler Eigenheiten zeigt. Daher freut es mich, dass die Frankfurter Buchmesse einen stark ausgeprägten internationalen Charakter hat. Hier können sich verschiedene politische, gesellschaftliche und kulturelle Sichtweisen in einem großen und weltweit beachteten Forum darstellen und gegenseitig bereichern.

Wir alle wissen, dass Bücher ihre Nationen und Kulturen verbindende Funktion nur dann erfüllen können, wenn auch sprachliche Barrieren überwunden werden. Dabei sind kreative Autoren und wache Leser gleichermaßen auf kongeniale Übersetzungen der Originaltexte angewiesen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle einmal ausdrücklich die Arbeit der Übersetzerinnen und Übersetzer würdigen, der sie zumeist ohne öffentliche Wahrnehmung nachgehen. Sie öffnen uns auf wunderbare Art und Weise Türen zu anderen Kulturen.

Literatur ist ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis von Kulturen. Die chinesische Literatur ist in Deutschland noch relativ wenig bekannt. Deshalb ist es wunderbar, dass China in diesem Jahr Gastland dieser Buchmesse ist. Ich möchte die gesamte Delegation der Schriftsteller hier ganz herzlich begrüßen dies auch vor dem Hintergrund, dass Deutschland vor zwei Jahren Gastland bei der Internationalen Pekinger Buchmesse war, was für uns eine große Chance war.

Ich sage angesichts der aktuellen Diskussionen, die es in den vergangenen Wochen gegeben hat und sicherlich auch in den nächsten Tagen geben wird: China hat die Bühne der Frankfurter Buchmesse natürlich in dem vollen Bewusstsein betreten, dass hier abwägende, sowohl lobende als auch kritische Stimmen zu Wort kommen werden und sollen. Es kann und ich bin mir sicher es wird keine Tabus in der Diskussion geben. Das ist nämlich der Kern von Meinungsfreiheit, für die kaum ein Genre der Kunst so sehr steht wie das der Literatur, Belletristik, Poesie und Lyrik, meine Damen und Herren. Literatur, natürlich auch die der so genannten Sachbücher, zwingt jeden, immer wieder ins Offene zu gehen und mehr Offenheit zu wagen. Darin kommt ihr Wesen zum Ausdruck. Darin kommt auch die Stärke einer Gesellschaft zum Ausdruck, die intellektuelle Reflexionen in der Literatur fördert, sie anregt und solchen Reflexionen auch immer wieder mit großer Gelassenheit begegnet.

In diesem Sinne freue ich mich auf eine facettenreiche Präsentation Chinas hier in Frankfurt, die sicherlich auch viele Menschen in China selbst sehr aufmerksam verfolgen werden. Deshalb möchte ich Ihnen, Herr Vizepräsident Xi Jinping, auch ausdrücklich sagen, dass wir in Deutschland mit großer Neugier und großem Interesse auf die dynamische Entwicklung Chinas der letzten Jahre schauen. Genauso sehen wir auch dem weiteren Weg entgegen, den China beschreiten wird.

China hatte im 20. Jahrhundert eine sehr bewegte, teils auch sehr schmerzvolle Geschichte eine Geschichte, die Gegenstand unzähliger literarischer Werke ist. Gewiss hat es in jüngeren Jahren einen vor allem wirtschaftlich erfolgreichen Weg der Entwicklung genommen. Viele Millionen Menschen aus der Armut zu holen, ist eine überaus beachtliche Leistung. Das politische und wirtschaftliche Gewicht Chinas ist bemerkenswert gewachsen, damit natürlich auch die weltweite Neugier auf dieses Land und zugleich auch die globale Verantwortung Chinas in Fragen des Wachstums, des nachhaltigen Wirtschaftens, der wirtschaftlichen Freiheiten, der politischen Freiheit und damit auch der Meinungsfreiheit.

So wird nun weltweit sorgfältig verfolgt und studiert, was China tut oder unterlässt. Wir wissen, dass auch Sie immer genau studieren, was bei uns passiert, und wir tun das auch bei Ihnen. Vermehrt richten sich viele Hoffnungen auf China ob es nun um die Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise geht, um gemeinsame Anstrengungen im Klimaschutz oder auch um die Berührungspunkte in unserer gemeinsamen geistigen Welt.

Wir wissen: Kein Land, kein einzelner Erdteil vermag die globalen Herausforderungen, die sich uns heute stellen, allein zu bewältigen. Deshalb sollte eines unserer gemeinsamen Ziele die Stärkung der bestehenden globalen Vernetzungen und Institutionen sein. Gerade in der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben wir gespürt, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Diese Angewiesenheit können wir umso besser leben, je tiefer unser gegenseitiges Verständnis und unsere gegenseitige Kenntnis der Kulturen unserer Länder sind. Deshalb pflegen wir nicht nur enge und vielfältige politische Kontakte, deshalb pflegen wir nicht nur enge wirtschaftliche Kontakte, sondern deshalb gibt es auch so viele Kooperationen zwischen Hochschulen, Städten und Regionen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang die gemeinsame Veranstaltungsserie "Deutschland und China Gemeinsam in Bewegung" dankbar erwähnen. Dies ist die bislang umfassendste Auslandspräsentation Deutschlands. Sie ist jetzt im Oktober am Mittellauf des Yangtse in Wuhan zu Gast und wird schließlich 2010 ihren Höhepunkt im Rahmen der EXPO in Shanghai feiern. Veranstaltungen wie diese sind es, die das Fundament, auf dem die deutsch-chinesischen Beziehungen ruhen, verbreitern und festigen. Sie fördern die Kontakte von Menschen zueinander, die sich bislang nicht gekannt haben. Sie fördern Neugier aufeinander und gegenseitiges Verständnis und damit genau das, was in dieser unübersichtlichen, aber in ihrem Wirkungsgefüge eng zusammenhängenden Welt besonders notwendig ist.

Darin davon bin ich überzeugt liegt auch das Verdienst der internationalen Frankfurter Buchmesse. Auch die vielen begleitenden Veranstaltungen, die unzähligen Diskussionen und Begegnungen werden eine wunderbare Gelegenheit bieten, sich ein genaueres Bild von China zu machen. So fordere ich alle auf: Seien Sie neugierig, haben Sie keine Vorurteile und scheuen Sie sich nicht, auch Fragen zu stellen, bei denen unsere chinesischen Partner vielleicht denken: Wissen die überhaupt etwas über unser Land? Doch nur durch neugieriges Fragen kommt man auch in eine Diskussion und lernt, sich gegenseitig besser zu verstehen.

So möchte ich noch einmal die Repräsentanten und Gäste aus dem diesjährigen Gastland, aus China, auf das Allerherzlichste hier willkommen heißen. Ihnen allen den Autoren, Verlegern, Buchhändlern, Journalisten und Besuchern aus dem In- und Ausland sowie nicht zuletzt auch den Veranstaltern wünsche ich interessante Begegnungen, viele neue Anregungen und einen erfolgreichen Verlauf der Frankfurter Buchmesse 2009. Herzlichen Dank.