Redner(in): Angela Merkel
Datum: 02.03.2010

Untertitel: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière zu seinem 70. Geburtstag als wichtigen Förderer der deutschen Einheit gewürdigt. Mit seinemNamen sei "das ungeheure Glück unseres Landes" verbunden, sagte Merkel bei einer Feier inBerlin.
Anrede: Lieber Lothar de Maizière, liebe Frau Strodt, lieber Herr Bundespräsident, lieber Wiktor Subkow, sehr geehrter Herr Botschafter, werte Festversammlung!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2010/03/2010-03-02-grusswort-de-maiziere,layoutVariant=Druckansicht.html


Es ist wirklich ein unglaublicher Blick in die Tiefen des Raums und damit in den großen Kreis der Freunde und derer, die mit unserem Jubilar verbunden sind.

Lieber Lothar de Maizière, bei jedem deiner Geburtstage von Gewicht, sei es beim 65. oder 70. , blitzt im Grunde wieder Geschichte auf. Es ist sicherlich eine der spannendsten Phasen der deutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg: die Geschichte der Vereinigung unseres Landes und der beiden Landesteile. Deshalb ist es von geradezu symbolischem Charakter, dass heute in dem Jahr, in dem 20Jahre Deutsche Einheit begangen werden ich glaube, sagen zu dürfen: auch gefeiert werden, du unser Jubilar bist und 70Jahre alt wirst. Bei Männern darf man das unverhohlener sagen als bei Frauen. Ich möchte dir ganz herzlich gratulieren, dir Gesundheit, Freude und Gottes Segen wünschen.

Wem gelten meine Glückwünsche? Meine Glückwünsche gelten einem Mann, mit dessen Namen sich das ungeheure Glück unseres Landes verbindet, nämlich nicht nur ein irgendwie gearteter Einigungsprozess, sondern das Glück der Einigkeit in Recht und Freiheit. Die Beiträge, die Lothar de Maizière für die Vollendung der staatlichen Einheit und für die innere Einheit unserer Nation geleistet hat, lassen sich vielleicht in dem Wort "Anwalt der Einheit" und das zeigt vieles aus deinem Leben am besten darstellen. Lothar de Maizière hat sich bei aller Freude über die Deutsche Einheit nicht irre machen lassen. Er war im wahrsten Sinne des Wortes Anwalt derer, die in die Einheit gehen konnten und das auch mehrheitlich mit Glücksgefühlen gemacht haben. Aber er war rational genug, um an die Zeit nach der Einigung zu denken und zu sagen: In einem Rechtsstaat ist die Emotion auch wichtig, aber sie ist nicht das einzige. Deshalb lasst uns aufpassen, dass dieser Weg neben aller emotionalen Freude so gestaltet wird, dass er anschließend auch trägt.

Das hat dir nicht immer nur Freude eingetragen. Die einen fanden, dass du recht zögerlich vorgehst. Die anderen fanden, dass du viel zu sehr den Teil Deutschlands in den Mittelpunkt rücktest, der doch nun glücklich über die Vereinigung war und darüber, alles so zu bekommen, wie er es sich schon immer gewünscht hatte. Somit würde ich sagen, dass du als politischer Seiteneinsteiger ziemlich gefordert warst. Ich würde im Rückblick auch sagen: Es ist das muss ich zu meiner eigenen Anerkennung sagen gut, wenn man eine naturwissenschaftliche Ausbildung hat. Aber es ist auch nicht schlecht, ab und zu einen Juristen zu haben. Gerade in der Phase der deutschen Wiedervereinigung war das für uns im Osten schon recht wichtig. Dankeschön für deine Ausbildung.

Du hast besser als deine damalige stellvertretende Regierungssprecherin durchaus ein tiefes Grundgefühl dafür gehabt, was die Neuordnung des Föderalismus, die Vorbereitung der Kommunalwahlen, der Staatsvertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion, der Einigungsvertrag und der Zwei-plus-Vier-Vertrag bedeuten. Du hast mit Akkuratesse darauf Wert gelegt, dass das alles ordentlich ausgeführt wurde.

Wer nicht verstehen wollte, worin die Unterschiede zwischen dem realen Leben in der ehemaligen DDR und dem realen Leben in der alten Bundesrepublik bestanden, der musste, wie wir uns gerade zugeflüstert haben, wie etwa Herr Kinkel zu einer LPG, um dann einmal zu besichtigen, wie das so mit den landwirtschaftlichen Produktionsflächen und den in der Bundesrepublik nicht bekannten Eigentumsverhältnissen in der DDR war. Wir haben, obwohl alles gut vorbereitet war, viele Stunden und Monate mit Dingen wie Rechtsbereinigungsgesetzen und was weiß ich noch mit allem verbracht, weil das alles nicht zueinander passte. Ich will nicht sagen, Kommunismus und Sozialismus seien eigenwillige Ordnungen gewesen das waren sie im Rechtssinne, aber bestimmte Dinge kamen dort eben nur mangelhaft oder gar nicht vor. Der Eigentumsbegriff gehörte dazu. Insofern musste vieles auf den richtigen Pfad gelenkt werden. Du hast das alles aber immer wieder in dem festen Glauben an die Deutsche Einheit mit Bedacht vorangetrieben.

Du hast das hat schon etwas mit dem emotionalen Teil der Deutschen Einheit zu tun immer wieder gesagt: "Die Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden." Ich glaube, dass das in großem Maße auch gelungen ist. Es gilt viel Dank für die Gestaltung der Deutschen Einheit an die so genannte alte Bundesrepublik auszusprechen. Aber das Teilen war eben auch notwendig. Ich sage: Das ist es manchmal auch heute, auch im Hinblick auf das, was das emotionale Teilen, das Teilen des Verständnisses und die Offenheit für Biografien anbelangt. Das materielle Teilen ist noch relativ übersichtlich. Das immaterielle Teilen ist oft viel, viel schwieriger. Ich glaube, daran arbeiten wir manchmal heute noch.

Du hast in deiner letzten Rede als Ministerpräsident am 2. Oktober 1990 gesagt: "Unsere gemeinsame Zukunft wird davon abhängen, welche Bereitschaft zu wechselseitigem Verständnis wir aufbringen. Es dürfen die auf der einen Seite nicht die hohe Warte als ihre Plattform begreifen. Und die auf der anderen Seite dürfen sich nicht nur als Lernende ansehen, die durch ihre Geschichte zusätzlich belastet sind." Ich glaube, dass sich diese Worte als absolut richtig erwiesen haben und dass sie zum Teil auch von denen erfüllt wurden, zu denen du gesprochen hast, aber dass sie an manchen Stellen auch nach wie vor ein gewisses Defizit bezüglich dessen ausdrücken, was dann geschehen ist. Aber diese Botschaft war entscheidend. Sie war entscheidend für ganz Deutschland. Sie war dafür entscheidend, in eine gemeinsame Zukunft zu gehen.

Ich glaube, heute, 20Jahre danach, können wir sagen, dass wir in vielen Teilen in Ost und West diese gemeinsame Zukunft doch als unser gemeinsames deutsches Anliegen im Auge haben. Wenn wir auf die jungen Menschen schauen das wird dir so gehen wie mir, dann kann man einfach nur ein großes Glücksgefühl haben, wie wenig diese jungen Leute noch unter dem Bann der Teilung stehen und wie frei sie sich in ein vereintes Europa und ein Deutschland, auf das sie stolz sein dürfen und das auch seine Pflichten übernehmen muss, hinein entwickeln.

Du weißt, dass Freiheit und Wohlstand keine Selbstverständlichkeiten sind. Du weißt, dass jede Nation Partner braucht. Das haben die Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen damals sehr klar gezeigt. So hast du jetzt eine Aufgabe übernommen die heutige Veranstaltung ist davon zu meiner großen Freude auch sehr geprägt, nämlich den Vorsitz des deutschen Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs. Du bist ein Brückenbauer jetzt nicht mehr zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern zwischen Deutschland und Russland. Wer hätte vor 20Jahren gedacht, dass du hier einmal mit einem russischen Orden sitzt? Wie Wiktor Subkow sagte: Er schmückt dich sogar. Also herzlichen Glückwunsch auch von meiner Seite.

Ich darf Wiktor Subkow, dem ich ganz herzlich dafür danke, dass er heute hierher gekommen ist, eines sagen: Neben dem Orden kann man Lothar de Maizière noch ein Geburtstagsgeschenk, sozusagen ein permanentes, machen: Je strittiger der Dialog ist, der im Petersburger Dialog stattfindet, je mehr Diskussionen es gibt und je breiter die Gesellschaft, auch die russische, darin repräsentiert ist, umso höher schlägt sein Herz und umso froher ist er. Deshalb wünsche ich dem Petersburger Dialog eine lebendige Zukunft, in der sich unsere Völker weiterhin immer besser kennen lernen. Der Petersburger Dialog ist dafür das richtige Gremium, an ihn kann man viel andocken. Ich glaube, das sollten wir weiterentwickeln. Denn Staatschefs können sich treffen, Politiker können sich treffen, wir können über Rohstoffe und über moderne Technologien reden, aber wenn sich die Menschen nicht verstehen, dann ist das immer wieder schwierig. Ein Teil der heutigen Musikauswahl zeigt auch, dass diese Liebe zur Verständigung mit Russland bei dir weit über die eigentliche Aufgabe hinausgeht, weil du weißt, wie sehr wir in Europa von der russischen Kultur profitieren und wie sehr sie sich auf das Leben in Europa ausgewirkt hat. Das ist wunderschön.

Was ist nun eigentlich die Triebkraft für Lothar de Maizière? Das ist schwer zu sagen. Die persönlichen Reden sind schon gehalten worden. Ich glaube aber, dass dich gerade auch dein christlicher Glaube immer wieder geprägt hat und dich in deinem Leben in vielen, auch sehr schwierigen Entscheidungssituationen geleitet hat. Als Rechtsanwalt in der ehemaligen DDR, als du dich vor allem für christlich engagierte Bürger und für Wehrdienstverweigerer eingesetzt hast, als Vizepräses der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und im 1989 neu geschaffenen Amt des Ministers für Kirchenfragen warst du immer wieder ein Verfechter christlicher Überzeugungen. Du hast dich immer wieder als Mahner und Bewahrer von Werten verstanden. Du weißt, dass wir in unserem täglichen Tun auf Grundlagen aufbauen, die wir selbst nicht schaffen können. Und du bist dafür, dass dies möglichst vielen Menschen bewusst ist. Deshalb weißt du, dass es immer wieder darauf ankommt, den Mut zu haben, zu den eigenen Werten zu stehen, Mut zur Veränderung zu haben und den Mut zu haben, immer wieder neue Brücken zu bauen weit über das hinaus, was wir sozusagen heute schon als Brücken kennen gelernt haben.

Lieber Lothar, ich werde die Eröffnungsveranstaltung zu den Verhandlungen zum Einigungsvertrag nicht vergessen, als du darüber philosophiert hast, wie eigentlich die zukünftige Nationalhymne für das wiedervereinte Deutschland aussehen sollte. Gleich werden wir musikalisch einen kleinen Einblick in deine Gedankenwelt bekommen. Das, was du da wolltest, galt damals auf westlicher Seite fast als ketzerisch. Ich finde es aber schön, dass du nicht nachlässt und das heute noch einmal aufflackern lässt.

Ich möchte dir persönlich ganz herzlich für das danken, was ich in der Zeit, als ich für dich und mit dir gearbeitet habe, lernen konnte. Ich möchte dir aber auch im Namen der Bundesrepublik Deutschland für das danken, was du im Zuge der Wiedervereinigung und danach getan hast. Bleib gesund, bleib fröhlich, bleib unbequem, sei selten mürrisch und meistens optimistisch. Alles Gute und auf gute Begegnungen auch in der Zukunft.