Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 18.04.2010

Untertitel: In seiner Rede bei der Gedenkfeier zum 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen betonteStaatsminister Bernd Neumann die unvergleichlich hohe Bedeutung des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in der deutschen Erinnerungskultur.Er bedankte sich bei den anwesenden fast 200 Überlebenden des Lagers für die große GesteIhrer Anwesenheit.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2010/04/2010-04-18-neumann-bergen-belsen,layoutVariant=Druckansicht.html


an diesem Tag hier in der KZ Gedenkstätte Bergen-Belsen vor fast 200 Überlebenden zu sprechen im Namen der Bundesregierung bewegt mich sehr. Ich bin überwältigt davon, dass so viele Überlebende des Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagers Bergen-Belsen die beschwerliche, weite Reise auf sich genommen haben, um hier, am Ort der Leiden und der Unmenschlichkeit gemeinsam mit uns zu erinnern und zu gedenken.

Niemand kann jemals und auch nur annähernd wiedergutmachen, was Sie, die Überlebenden, erlitten haben. Sie haben zwar das Lager hinter sich gelassen, werden es aber niemals aus Ihrer Erinnerung löschen können. Ihre Anwesenheit an dem heutigen Tag ist eine große Geste, für die wir tiefe Dankbarkeit empfinden. Sie und Ihre Familien begrüße ich von ganzem Herzen und verneige mich vor Ihnen mit allergrößter Hochachtung.

Meine Damen und Herren,

wir alle kennen die furchtbaren Film- und Fotoaufnahmen, die das zeigen, was eine britische Patrouille hier vor 65 Jahren vorfand. Wir haben sie viele Male gesehen doch sie haben nichts von ihrem unaussprechlichen Schrecken verloren. Ministerpräsident Wulff hat die Zahlen genannt: Über 50.000 Häftlinge und 20.000 sowjetische Kriegsgefangene wurden in Bergen-Belsen ermordet. Rund 14.000 Überlebende waren so geschwächt und ausgezehrt, dass sie in den Wochen nach der Befreiung starben, trotz der unmittelbar einsetzenden Hilfsmaßnahmen.

Mediale Zeugnisse und Zahlen erschüttern, doch sie sind nur ein schwaches Abbild jenes Grauens, das die Häftlinge hier durchlitten. Das Lager war die Hölle auf Erden, ein Ort der Hoffnungslosigkeit. Die französische Überlebende

Françoise Robin

drückt es so aus: "Bergen-Belsen heißt für mich, aus Zeit und Raum herausgefallen zu sein." Die Befreiung im April 1945 machte den Schauplatz so furchtbarer Verbrechen öffentlich und sie endlich für alle Welt sichtbar. Es waren nicht zuletzt die Filme und Fotografien des befreiten Lagers Bergen-Belsen, die es zu einem Symbol für die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen werden ließen: für das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, für den planmäßigen Völkermord an den europäischen Juden, für die systematische Verfolgung der Sinti und Roma und anderer Opfergruppen bis hin zum massenhaften Sterben vieler Häftlinge in den letzten Kriegswochen.

Bergen-Belsen, ein Ort deutscher Schuld! Aber es hat lange gedauert, bis sich unser Land diese Schuld auch eingestand. Es ist bedrückend, wie wenige, außer den Überlebenden, sich in den ersten Nachkriegsjahren gegen das Vergessen und Verdrängen stemmten. Die Zeitzeugen haben entscheidend dazu beigetragen, dass

sich Staat und Gesellschaft schließlich zu ihrer Verantwortung für das Gedenken und die historische Aufarbeitung bekannten und vor allem auch handelten. Ministerpräsident Wulff ist in seiner Rede bereits darauf eingegangen, wie sehr der Umgang mit dem ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen den schwierigen Weg hin zu einem angemessenen Gedenken in Deutschland widerspiegelt.

Ich selbst habe die Anfänge dieser Wahrheitssuche in unmittelbarer Nähe miterlebt. Meine Eltern sind mit mir ich war damals ein kleiner Junge Ende Januar 1945 aus Westpreußen geflüchtet. Wir fanden Zuflucht auf einem Bauernhof hier ganz in der Nähe, bei Bergen, und haben dort bis 1950 gelebt. Meine Eltern erhielten im befreiten Lager Bergen-Belsen eine Anstellung, meine Mutter in einem Büro, mein Vater bei einer Tankstelle der Engländer. Wenn sie abends von Bergen-Belsen zurück kamen, haben sie oft über ihre Erlebnisse dort berichtet. Daran kann ich mich heute noch erinnern. Ihre Betroffenheit und Erschütterung mehrten sich nach jeder Begegnung. Erst durch diese Begegnungen mit den Überlebenden, mit den Zeitzeugen, wurde offenbar und für sie endlich wahr, was man vorher nicht glauben konnte und wollte: Das ungeheure Unrecht und Verbrechen, was in deutschem Namen unschuldigen Menschen angetan wurde.

Ich erzähle Ihnen diese Geschichte, weil ich glaube, dass sie zeigt, welch mühsamer und langer Prozess das Ringen um und mit den Schrecken der Vergangenheit sein kann und dass es nicht nur eine Angelegenheit staatlicher Organe ist, Schuld einzugestehen und Mitverantwortung für das Geschehene zu entwickeln, sondern auch die Aufgabe jedes Einzelnen. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass unsere Gesellschaft an diesem Prozess der Auseinandersetzung in den letzten Jahrzehnten gewachsen und gereift ist. Es gab und gibt in der Bundesrepublik Deutschland einen Wandel der Geschichtskultur vom Wegsehen hin zur Bereitschaft, sich der eigenen, ungeheuerlichen Geschichte zu stellen.

Für die Bundesregierung kommt dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in der deutschen Erinnerungskultur eine unvergleichlich hohe Bedeutung zu jetzt und für alle Zeiten. Die vom Staat zu verantwortenden Rahmenbedingungen dafür müssen deshalb immer wieder überarbeitet und aktualisiert werden. So haben wir das Gedenkstättenkonzept von 1999 einer Revision unterzogen und im Jahr 2008 eine Fortschreibung vorgenommen, die vom Bundestag und den Betroffenenverbänden einmütig unterstützt wurde.

Eine der wichtigen Verbesserungen ist, dass vier westdeutsche Gedenkstätten in die institutionelle, also dauerhafte, Förderung seitens des Bundes aufgenommen werden. Dazu gehört auch Bergen-Belsen. Ich konnte vor wenigen Wochen in Berlin, in der niedersächsischen Landesvertretung, den entsprechenden Vertrag des Bundes mit Niedersachsen gemeinsam mit Frau Ministerin Heister-Neumann unterzeichnen. Die kontinuierliche Unterstützung gibt den Gedenkstätten Planungssicherheit bei der Erfüllung ihrer bedeutenden Aufgaben, vor allem im Bereich von Forschung und Bildungsarbeit. Sie ist aber auch ein Zeichen dafür, dass die Bundesregierung in der Gedenkstättenförderung eine dauerhafte Aufgabe sieht.

Schon in der Vergangenheit war die Zusammenarbeit des Bundes mit dem Land Niedersachsen ganz hervorragend. Hier in Bergen-Belsen wurde gemeinsam mit Niedersachsen das neue Ausstellungsgebäude errichtet, das wir 2007 in einem Festakt einweihen konnten. Darüber hinaus helfen wir mit einem kontinuierlichen Programm bei der schrittweisen Sanierung aller KZ-Gedenkstätten in Deutschland. Die verschiedenen Gedenkveranstaltungen in Deutschland anlässlich des 65. Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager werden von meinem Haus finanziell getragen vor allem, damit daran viele Überlebende teilnehmen können.

Ich möchte noch einmal unterstreichen, von welch fundamentaler Bedeutung die Zeitzeugen für die Erinnerungsarbeit sind. Darum wurde der regelmäßige Austausch mit Vertretern der Opfer- und Betroffenenverbände im Gedenkstättenkonzept des Bundes festgeschrieben. Schon morgen werde ich die Präsidenten der Internationalen Lagerkomitees im Bundeskanzleramt treffen, um über die Zukunft der Gedenkstätten zu beraten. Ich freue mich, dass Herr Sam Bloch heute schon anwesend ist.

Zeitzeugen schlagen die Brücke über die größer werdende historische Distanz. Und je größer die Entfernung wird, desto schmaler wird diese Brücke und desto kostbarer werden ihre

individuellen Erinnerungen. Ignaz Bubis stellte hier vor 15 Jahren die für uns alle unvermindert wichtige Frage: "Werden die nächsten Generationen sich überhaupt das eigentlich Unvorstellbare vorstellen können, wo doch schon wir gar nicht oder kaum in der Lage sind, das Geschehene zu begreifen?" Es ist wahr:

Ohne die Zeitzeugen wird es viel schwerer, gerade der jungen Generation begreiflich zu machen, welche Folgen Verblendung, Intoleranz, Hass und Kriegstreiberei haben können und wie wichtig Zivilcourage und Mut sind.

Wenn die Zeitzeugen eines Tages verstummt sein werden, ist es unabdingbar, dass in einer Gedenkstätte wie Bergen-Belsen mit einer immer wieder erneuerten Ausstellung die Vergangenheit lebendig bleibt. Viele Überlebende haben für die Ausstellung hier im Rahmen von Zeitzeugenprojekten ihre persönliche Geschichte erzählt und aufzeichnen lassen. Ich danke Ihnen herzlich dafür!

Meine Damen und Herren,

vor einem Jahr verabschiedeten die Präsidenten der Internationalen Komitees der ehemaligen Konzentrationslager in Berlin, stellvertretend für alle Überlebenden, das bereits zum Teil zitierte, eindrückliche Vermächtnis. Darin heißt es "Unsere Reihen lichten sich. Die letzten Augenzeugen wenden sich an Deutschland, an alle europäischen Staaten und die internationale Gemeinschaft, die menschliche Gabe der Erinnerung und des Gedenkens auch in Zukunft zu bewahren und zu würdigen."

Meine Damen und Herren,

ich versichere Ihnen im Namen der Bundesregierung, dass wir die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und das Gedenken an die Opfer stets wach halten werden. Seien Sie gewiss, dass die Bundesregierung Ihr Vermächtnis, das Vermächtnis der Überlebenden, annimmt und auch aus historischer Verantwortung heraus für die Würde des Menschen einsteht, wo immer sie in Gefahr ist.