Redner(in): Angela Merkel
Datum: 14.05.2010

Untertitel: am 14. Mai 2010 in München
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2010/05/2010-05-14-kirchentag-podiumsdiskussion,layoutVariant=Druckansicht.html


Sehr geehrte Herren Präsidenten

und vor allem liebe Kirchentagsbesucher,

für etwas kurzsichtige Menschen wie mich ist das hier wirklich eine Riesenhalle. Ich kann gar nicht alle bis zum Letzten hinten erkennen. Aber danke dafür, dass Sie alle gekommen sind. Wir haben ja Glück: Es regnet hier drinnen nicht. Insofern haben wir es heute gut.

Ich glaube, dass dieser ökumenische Kirchentag ein Zeugnis des lebendigen christlichen Glaubens in unserem Land, in unserer Gesellschaft ist. Es geht in diesen Tagen für Sie darum, gemeinsam Gottesdienst zu feiern, zu singen, gemeinsam zu beten und sich dabei des Fundaments zu vergewissern, auf dem wir, jeder Einzelne von uns, unser Leben aufbauen ein Fundament, bei dem sich viele fragen: Wie wird sich das in den nächsten Jahren weiterentwickeln? Denn ich glaube, fast jeder spürt: Die Welt verändert sich, sie wird für uns durch das Internet, durch immer mehr Kommunikationsmöglichkeiten fassbarer, aber sie scheint sich auch immer schwieriger zu gestalten.

Die Konflikte, die es gibt, erreichen uns hautnah und erzeugen natürlich auch Verunsicherung. Dabei ist auf der einen Seite die Frage der Finanzmärkte eine ganz wichtige. Aber auf der anderen Seite sind auch die Globalisierung insgesamt wie schaffen wir es, in der Welt gerecht zusammenzuleben? und der Klimawandel genauso wie der Umgang mit natürlichen Ressourcen ganz wichtig. Und bei uns hier zu Hause stellt sich die Frage: Wie ist das in einer Gesellschaft, in der auf der einen Seite erfreulicherweise die Älteren länger leben, auf der anderen Seite aber weniger junge Menschen da sind? Auch das ist ja in dem Film soeben schon angeklungen.

Unser Thema heute heißt: "Hoffnung in Zeiten der Verunsicherung." Ich finde es zunächst einmal sehr schön, dass nach Hoffnung gefragt wird. Ich glaube, dass Hoffnung auch eine Voraussetzung dafür ist, dass man überhaupt ein Thema angehen, ein Problem bewältigen kann. Wenn ich schon gar keine Hoffnung habe, dann wird es auch nichts damit, dass ich die Schwierigkeiten überwinde oder das Problem lösen kann. Ja, ich glaube, darin sind wir uns einig.

Aber woher kommt die Hoffnung? Die Hoffnung darf ja nichts Irreales sein. Man kann sie sich nicht verordnen. Man spürt es in sich selber, ob man Hoffnung hat oder ob man sich erst überlegen muss, ob es Hoffnung gibt. Deshalb ist die Frage nach Hoffnung im Zusammenhang mit der Frage, wie wir in unserer Gesellschaft zusammenstehen, schon eine Frage, die jeden von uns angeht und die die Dinge ganz vielfältig beleuchtet.

Ich will einmal vorweg sagen, dass wir, bevor wir all die Probleme benennen, einfach auch ein Stück weit sagen dürfen: Gemessen an vielen Problemen auf der Welt geht es uns nicht so schlecht. Wir haben auch einen Zusammenhalt in der Gesellschaft, den sich viele auf der Welt wünschen würden. Ich sage das aus meinem persönlichen Erleben, im Umgang in der Politik. In den Jahren, als wir die Große Koalition hatten, bin ich immer wieder angesprochen worden: Mensch, wie kann das bei euch eigentlich gut gehen? Viele konnten sich das gar nicht vorstellen auch mit Blick auf das Verhältnis von Bund und Ländern, von Bundestag und Bundesrat. Aber zum Schluss haben wir in Deutschland eigentlich in fast allen Fällen für die wichtigen Probleme eine Lösung gefunden. Das war und ist nur möglich, weil wir den anderen auch immer ein Stück weit achten. Toleranz ist die Voraussetzung dafür, dass Zusammenhalt entstehen kann. Denn wenn ich nur mich toll finde und alle anderen nicht so toll, dann kann ich auch keine Kompromisse machen, dann bin ich nicht neugierig auf den anderen, dann kann ich ihn nicht kennen lernen. Also: Toleranz und Aufeinanderzugehen das sind die Voraussetzungen für Zusammenhalt.

Aber man wird natürlich auch immer wieder menschlich enttäuscht. Das ist in der Politik so; und das ist auch anderswo im Leben so. Auch wenn viele versuchen, sich an unsere Werte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität zu halten und danach zu leben, so erlebt man bei allen Schwächen, die man hat, doch Dinge wie zum Beispiel die internationale Finanzkrise, bei der Sie es mit Akteuren zu tun haben, die nur an die Maximierung ihres eigenen Gewinns denken, bei denen man sagen muss: Da hilft auch alles Zutrauen und alle Toleranz nichts; denen muss das Handwerk gelegt werden, sonst hält der Zusammenhalt eben nicht und die Gesellschaft fliegt auseinander, meine Damen und Herren.

Doch wie macht man das? Das, was wir seit etwa zwei Jahren, seitdem es diese internationale Finanz- und Wirtschaftskrise gibt, jeden Tag immer wieder versuchen, ist, dass wir die Prinzipien einer Gesellschaft, die zusammenhalten will, global verorten wollen, damit das, was wir in Deutschland mit der Sozialen Marktwirtschaft geschafft haben, überall auf der Welt möglich wird, damit nicht Einzelne unseren ganzen Zusammenhalt zerstören können.

Das bedeutet: Auch wenn wir an das Gute im Menschen glauben, ist es immer wieder notwendig, dass wir uns Regeln geben Regeln, an die sich alle halten müssen und für deren Einhaltung die Staaten, die Politik und die gesellschaftliche Ordnung sorgen müssen, genauso wie die Gerichte im Land. Ohne Regeln gibt es keinen guten Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Damit Menschen auch an diese Regeln glauben, ist es natürlich nicht nur wichtig, dass sie erlassen, also geschaffen werden, sondern es ist genauso wichtig, dass man eine ordentliche Gerichtsbarkeit hat, die diejenigen bestraft, die diese Regeln verletzt haben. Nur daraus kann ein Gefühl der Gerechtigkeit entstehen. Daran arbeiten wir im Zusammenhang mit den internationalen Finanzmärkten.

Ich verstehe viele, die sagen: Das geht so langsam; könnt ihr nicht endlich mehr Fortschritte erzielen? Auch ich sage: Es geht verdammt langsam; ja, das stimmt. Aber, meine Damen und Herren, ein Land alleine kann nicht alles machen. Wir haben politisch zwar einiges getan zum Beispiel die Möglichkeit der Unterbindung zu hoher Bonuszahlungen für Banker, bessere Eigenkapitalvorschriften für unsere Banken. Aber das alles hilft noch nicht, damit übermäßige Spekulation weltweit eingedämmt wird. Deshalb müssen die Staaten zusammenarbeiten, deshalb müssen überall Regeln erlassen werden. Deshalb ist für uns Europa, die Europäische Union, so wichtig, weil das 27Länder gemeinsam machen und gemeinsam die Stimme in der Welt erheben können: Wir fordern das auch von Amerika und den asiatischen Ländern ein. Heute kann der Zusammenhalt unserer Gesellschaft nur noch garantiert werden, wenn es uns gelingt, Regeln auch weltweit zu verankern. Das ist die Aufgabe unserer Generation im 21. Jahrhundert.

Im Grunde ist das nichts anderes als das, was auf vielen Kirchentagen schon seit Jahrzehnten diskutiert wird, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe. Da hieß es immer: Global denken, lokal handeln. Also, die Aufgabe heißt: Erst einmal zu Hause die Hausaufgaben machen, bevor man anderen gute Ratschläge geben kann. Auch das gehört zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft.

Und dann gilt es, Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert umzusetzen. Was bedeutet das? Das bedeutet erstens das sehen wir jetzt auch an der schwierigen Situation, in der sich der Euro befindet: Wir müssen darauf achten, dass wir nicht dauernd über unsere Verhältnisse leben. Deutschland hat das leider nicht erst seit wenigen Jahren, sondern seit vielen Jahrzehnten getan. Wir haben jedes Jahr mehr ausgegeben, als wir eingenommen haben. Als dann die große Wirtschaftskrise kam, haben wir uns im Deutschen Bundestag zusammengeschlossen, Teile der Opposition und die Regierung, und haben gesagt: Unsere Lehre aus dieser Wirtschaftskrise zu Hause heißt: Wir führen im Grundgesetz, in unserer Verfassung, eine Schuldenbremse ein; wir erlegen uns auf, dass wir im Bund ab 2016 und die Bundesländer ab 2020 fast keine neuen Schulden mehr machen dürfen. Jetzt müssen wir diese Aufgabe auch umsetzen.

Deshalb wissen wir, dass wir in den nächsten Wochen darüber sprechen müssen, wo wir sparen können. Bei dieser Frage wird sich der Zusammenhalt der Gesellschaft wieder einmal zeigen müssen, weil natürlich viele mit Recht sagen: Hier ist eine Aufgabe, die wir erledigen müssen; dort ist eine Aufgabe, die wir erledigen müssen. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir verstehen: Wir können uns nur dann mehr leisten, auch an Solidarität in den sozialen Sicherungssystemen, wenn wir die stärken, die für Steuereinnahmen sorgen, die dafür sorgen, dass Geld verdient wird, dass Menschen Arbeit haben, also Arbeitsplätze schaffen, ein Unternehmen gründen, Arbeitgeber sind, ein mittelständisches Unternehmen verantwortlich führen, wenn wir Familienunternehmen und große Unternehmen haben all das ist die Voraussetzung dafür, dass wir später überhaupt Geld haben, um anderen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen.

Wenn der Staat dann etwas eingenommen hat, steht er vor der Frage, wie er es verteilen soll. Dabei muss man einmal daran denken, dass wir denen helfen, die aus eigener Kraft kein Leben führen können, das mit unserem Verständnis von lebenswertem Leben vereinbar ist. Auf der anderen Seite müssen wir politisch darauf achten, dass wir für die Zukunft vorsorgen. Deshalb sage ich: Themen wie Forschung, Bildung ebenso die Betreuung von Kindern in Kindergärten sind für mich Zukunftsthemen. Bei ihnen müssen wir klare Akzente setzen, damit wir die Zukunft nicht verschlafen, sondern unseren Kindern und Enkeln ein gutes Paket mit auf den Weg geben, mit dem sie ihre eigene Zukunft gestalten können.

Gleichzeitig müssen wir in die Zukunft unserer Wirtschaft investieren, zum Beispiel in erneuerbare Energien, damit wir auch anderen helfen, die Ressourcen unserer Welt besser zu nutzen. Und wir müssen natürlich für diejenigen Sorge tragen, die sich heute alleine nicht helfen können, für die Älteren, für die Kranken und für jene, die behindert sind, und auch für jene, die keinen Arbeitsplatz haben.

Nun, meine Damen und Herren, kommt es also darauf an, Regeln zu finden, mit denen eines vollkommen klar ist: In unserer Gesellschaft wird denen geholfen, die Hilfe brauchen; aber diese Gesellschaft kann nur dann funktionieren, wenn diejenigen, die sich selber helfen können, auch dazu gebracht werden, sich selber zu helfen. Ohne eigenen Antrieb kann eine Gesellschaft nicht funktionieren. Deshalb sagen wir: Fordern und fördern.

Dabei will ich nicht verhehlen, dass das manchmal schwierig ist. Wenn Sie zum Beispiel sagen "Wir kürzen HartzIV, das ArbeitslosengeldII, wenn jemand ein Arbeitsangebot, das ihm gemacht wurde, nicht annimmt", dann haben Sie vielleicht in 80 oder 90 von hundert Fällen Recht, aber die restlichen Fälle, bei denen es wirklich schwierig ist, werden manchmal den ganzen Tag in den Mittelpunkt gestellt, wobei jeder sagt: Das kann die Politik doch nicht machen. Aber insgeheim weiß jeder, dass er mindestens drei oder vier Menschen kennt, die vielleicht ein bisschen von ArbeitslosengeldII leben, ein bisschen Schwarzarbeit machen und über die sich jeder ärgert, wenn er morgens um sechs Uhr zur Arbeit geht und sich überlegt, dass sich andere vielleicht das Leben doch leichter machen.

Jetzt komme ich zu einem Punkt, der auch mein Abschluss ist: Wenn wir das alles wissen, dann müssen wir, wenn unsere Gesellschaft zusammenhalten soll, miteinander einige Grundwerte, einige Vorstellungen darüber haben. Diese kann die Politik nicht verlangen, sie kann sie nicht verordnen. Das sind Vorstellungen vom Leben, die man zum Beispiel in der Familie mitbekommen hat, von der Art, wie Kinder von ihren Eltern erzogen werden und wie Eltern zeigen, wie sie ihr Leben gestalten. Diese Wertevorstellungen erfährt man durch die Liebe der Eltern, durch die Geborgenheit, durch die große Familie, in der man zueinander steht, wenn einer schwächer ist, und in der man zueinander steht, wenn andere stärker sind. Das erfährt man an Stellen, wo man sozusagen Liebe und Geborgenheit hat, ohne dass ein Staat das verlangen kann, ohne dass dafür eine Regel gemacht werden kann. Liebe können Sie nicht verordnen. Liebe empfängt man und gibt man. Und wenn man ein glücklicher Mensch ist, dann tut man das oftmals am Tag und in seinem Leben.

Deshalb haben kluge Menschen vor uns gesagt: Unsere Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selber gar nicht schaffen kann. Eine dieser ganz wichtigen Voraussetzungen in unserer Gesellschaft ist zweifelsohne das Christentum. Das Christentum hat unser Land geprägt. Das Christentum hat unsere Gesellschaft, den gesamten europäischen Kontinent geprägt. Daraus ergibt sich unser Bild vom Menschen. Daraus ergibt sich der Artikel1 des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" nicht nur die Würde des Menschen in Deutschland, sondern die Würde jedes Menschen auf der Welt. Das ist unsere Überzeugung.

Aber diese Überzeugung hätten wir so nie gewonnen, sie wäre so nie ins Grundgesetz eingeflossen, wenn nicht das christliche Bild vom Menschen dabei Pate gestanden hätte. Ich sage nicht, dass man nicht auch anders darauf kommen kann. Aber bei uns in Deutschland ist man ganz klar durch das Christentum zu dieser Wertvorstellung gekommen. Das heißt, man weiß: Freiheit bedeutet nicht Freiheit von etwas, sondern Freiheit bedeutet, die Freiheit von Gott gegeben zu bekommen, sich durch seine Schöpfung für eine Sache, für jemand anderen einzusetzen. Das ist vielleicht die wichtigste Quelle des Zusammenhalts.

Politik schafft den Ordnungsrahmen und Gerichte kontrollieren. Das ist wichtig. Aber die Quelle für den Zusammenhalt ist letztlich unsere gemeinsame Vorstellung vom Menschen, der froh ist, das Leben gestalten zu können, vom Menschen, der solidarisch sein möchte, vom Menschen, der erwartet, dass er Hilfe empfängt, wenn es ihm schlechtgeht. Für dieses Fundament des Zusammenhalts müssen wir gemeinsam immer wieder arbeiten. Dessen müssen wir uns von Generation zu Generation vergewissern. Dafür ist die Bibel eine gute Quelle. Dafür sind Lesen, Erfahren, Diskutieren, gemeinsames Singen eine gute Quelle. Und natürlich sind auch Diskussionen wie die, die wir jetzt führen, eine wunderbare Quelle, um hinterher weiter darüber zusprechen.

Danke dafür, dass ich heute dabei sein darf und dass ich Ihnen das zu Beginn sagen durfte.