Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 23.08.2010

Untertitel: Staatsminister Bernd Neumann unterstrich in seiner Rede die Bedeutung der Gedenkstätte Marienborn, die aufgrund ihrer authentischen Substanzein besonderer Ort des Erinnerns und des Trauerns, aber auch der Begegnung, der Forschung und der historisch-politischen Bildung ist, und widersprach einer Äußerung von Ministerpräsident a.D. Lothar de Maizière zur DDR.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2010/08/2010-08-23-neumann-marienborn,layoutVariant=Druckansicht.html


jedes Kapitel der Geschichte war einmal Gegenwart und damit noch gestaltbar, wandelbar, veränderbar. Wenn wir am heutigen Tag, im 20. Jahr nach der Wiedervereinigung zurückschauen, dann stellt sich mir immer wieder die Frage: Wo wäre Deutschland heute, hätte es die friedliche Revolution nicht gegeben? Eins ist klar: Ohne die Friedliche Revolution und ohne die Wiedervereinigung würde ich heute nicht an dieser Stelle als Redner stehen, sondern wenn überhaupt in einer Autoschlange hier am ehemaligen Kontrollpunkt und die demütigende Grenzabfertigung durch die DDR über mich ergehen lassen, so wie ich das bis 1990 häufig erlebt habe.

Hier, am ehemaligen alliierten Kontrollpunkt Marienborn, an der Demarkationslinie zwischen der sowjetischen und der britischen Besatzungszone befand sich die bedeutendste Grenzübergangsstelle der DDR. Hier, an diesem scheinbar unüberwindlichen Bollwerk des Grenzregimes, waren nicht nur Deutsche von Deutschen getrennt, sondern an dieser Stelle war Europa, die ganze Welt, in zwei Teile geteilt. Auf der einen Seite Europas die freiheitlichen Demokratien und auf der anderen Seite die menschenverachtenden Diktaturen. Um die Teilung zu überwinden, musste die Diktatur überwunden werden.

Den Mut und den Willen, Freiheit und Demokratie einzufordern, brachten die Bürgerinnen und Bürger der DDR auf. Im Jahr 1989 wurden aus vereinzeltem Widerstand massenhafte, wochenlange und friedliche Proteste. Wir alle kennen noch die Bilder auf dem Höhepunkt der Montagsdemonstrationen in Leipzig. Aber überall auf den Straßen der Städte und Gemeinden in der DDR herrschte Unruhe und Aufbruchsstimmung, Hoffnung und auch Angst.

Zehntausende Bürgerinnen und Bürger nutzen diese Zeit und stimmten, wie man sagt, mit den Füßen ab über die West-Deutschen Botschaften ertrotzen sie ihre Ausreise. Das zeigte Wirkung: Am 9. November 1989 öffnete sich nach Jahrzehnten der Teilung Deutschlands die innerdeutsche Grenze und fiel die Mauer. Ein halbes Jahr vorher im Sommer 1989 bei einer Reise nach Rostock / Warnemünde hätte ich es selbst im Traum nicht für möglich gehalten, diesen Höhepunkt der deutschen Geschichte je miterleben zu dürfen. Wer heute auf der Bundesautobahn A 2 unterwegs ist, kann ungehindert fahren. Vor 21 Jahren war das unvorstellbar. Wer von West nach Ost oder in umgekehrte Richtung wollte, musste eine Zwangspause am Grenzübergang Marienborn einplanen, einem streng bewachten Nadelöhr im "Eisernen Vorhang".

Hier am Grenzübergang Helmstedt-Marienborn sind die Bürde der Teilung und der Druck des Grenzregimes der DDR für die einreisenden Bundesbürger besonders spürbar gewesen. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Ängste,

die man zwischen Helmstedt und Marienborn auf dem Weg in das geteilte Berlin oder zu Besuchen in der DDR ausgestanden hat: Die Ungewissheit, ob die Grenzsoldaten die Einreise erlauben, die Abgabe der Pässe, das lange Warten, das Durchsuchen von Koffern und Klappen, die unzähligen Fragen nach dem Grund der Einreise. All dies gehört zu meinen plastischen Erinnerungen an diesen Ort. Hinzu kommt noch das äußerst beklemmende Gefühl, welches der äußere Anschein Marienborns auslöste: Der Eindruck eines riesigen Lagers, den der Grenzübergang aufgrund seiner vielen Baracken, Häuser und Garagen vermittelte. Auch die nachts taghelle Ausleuchtung des gesamten Geländes: "blend- und schattenfrei", wie es hieß, waren nicht gerade hilfreich,

um das Passieren des Grenzüberganges auch nur einigermaßen erträglich zu gestalten. Und viele Grenzer taten das Ihrige dazu. Wir alle wissen: Ohne sie, die Grenzer, wäre das Bollwerk Grenze nicht zu halten gewesen. Nur weil Menschen bereit waren, mit Brutalität und Menschenverachtung mitzumachen, wurde die Grenze und auch Marienborn zu einem Ort des Schreckens. Das dürfen wir nicht vergessen.

Am heutigen Tag eröffnen wir an diesem ehemals so bedrückenden Ort die Wanderausstellung "SED, wenn Du nicht gehst, dann gehen wir. Friedliche Revolution, Grenzöffnung und Deutsche Einheit 1989/1990". Marienborn steht nicht mehr als Symbol für die deutsche Teilung, sondern auch für die überwundene Trennung.

Es ist ein einzigartiges Denkmal seiner Art, welches in seinem Originalzustand noch existiert. Die "Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn" ist heute ein Ort des Erinnerns, des Trauerns, ein Ort der Begegnung sowie ein Ort der Forschung und historisch-politischen Bildung. An dieser Entwicklung war und ist der Bund maßgeblich beteiligt. BKM förderte unter anderem von 2001 bis 2004 die denkmalgerechte Sanierung und Rekonstruktion dieses einmaligen historisch-authentischen Ortes in Höhe von 381.000 Euro. Darüber hinaus habe ich 2008 entschieden, die Gedenkstätte ab 2009 in die institutionelle Förderung des BKM aufzunehmen, um ein Signal für die Verstärkung der Aufarbeitung der SED-Diktatur zu setzen. Das bedeutet eine auf Kontinuität angelegte Förderung und damit Planungs- und Entwicklungssicherheit für die Gedenkstätte.

Mahatma Gandhi ( 02. 10. 1869 - 30. 01. 1948 ) formulierte einst: "Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt." Diese pessimistische Sichtweise teile ich nicht. Klar ist aber auch, dass wir uns unserer Geschichte bewusst sein müssen. Immer wieder müssen wir uns und den nachfolgenden Generationen verdeutlichen, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Die DDR war ein undemokratischer Staat, der seine Bürger hinter Mauern und Stacheldraht einsperrte.

In diesem Zusammenhang halte ich die aktuelle Aussage des ehemaligen Ministerpräsidenten Lothar de Maizière in der "Passauer Neuen Presse" für abwegig und nicht nachvollziehbar, nach der die DDR kein Unrechtsstaat, sondern kein vollkommener Rechtsstaat gewesen sei. Im Gegenteil: Die DDR war ein Unrechtsstaat durch und durch. Sie verwehrte ihren Bürgern fundamentale Rechte wie Reise- , Meinungs- , Presse- und Versammlungsfreiheit. Die DDR verfügte über keine unabhängige Justiz, die staatliche Maßnahmen hätte überprüfen und Bürger vor staatlicher Willkür und Unrecht hätte schützen können. Es war im Grunde ungeheuerlich, sich als "demokratische Republik" zu bezeichnen. Die Wesensmerkmale der Demokratie wie Gewaltenteilung, Herrschaft auf Zeit, freie Wahlen usw. waren alle ausgeschaltet.

Die Erinnerung an die deutsche Teilung und das begangene Unrecht des SED-Regimes, dessen Aufarbeitung und das Gedenken an die vielen Opfer der deutschen Teilung sind ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung.

Wo wären Erinnerung und Gedenken besser angesiedelt als an authentischen Orten, die die Geschichte hautnah erfassbar machen? Aus diesem Grund haben wir in der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, der der Deutsche Bundestag mit überwältigender Mehrheit am 13. November 2008 zugestimmt hat, besonderen Wert auf die Erhaltung dieser Orte gelegt. Diese authentischen Orte schaffen die überzeugendste Möglichkeit, die heutige Jugend, die die deutsche Teilung und deren Folgen eben nicht mehr aus dem unmittelbaren Erleben kennt, für dieses Thema zu sensibilisieren.

Wie notwendig es ist, auch mehr als 20 Jahre nach dem Mauerfall die Aufarbeitung der DDR-Diktatur und des SED-Regimes weiter voranzutreiben, zeigt eine Studie des "Forschungsverbundes SED-Staat" der Freien Universität Berlin von Professor Klaus Schröder. Diese aktuelle Studie macht erschreckende Defizite im Wissen unserer Schülerinnen und Schüler aller Altersgruppen in Ost und West um den Charakter der DDR und die dortige Lebenswirklichkeit deutlich. Zum Beispiel war 62 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Brandenburg und den östlichen Stadtbezirken Berlins nicht bekannt, dass die DDR-Regierung nicht durch demokratische Wahlen legitimiert war. Etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler hielten den Staatssicherheitsdienst für einen normalen Geheimdienst eines Landes.

Bei diesen doch erschreckenden Feststellungen geht es nicht nur um die Frage von Wissensvermittlung, wichtiger ist dabei die Frage der Wertschätzung von Freiheit und Demokratie. Wer den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie nicht kennt, die Vorzüge einer freiheitlichen Gesellschaft nicht zu benennen weiß, wie soll derjenige extremistischen Ansichten oder Bestrebungen wirksam und überzeugend entgegentreten? Aktuelle Umfragen machen immer wieder deutlich, dass Unwissenheit und Verklärung der SED-Diktatur in der Bevölkerung weiter zugenommen haben. Während der Anspruch sozialer Gleichheit auf dem Vormarsch ist, haben Freiheit und Demokratie in der Werteskala deutlich an Bedeutung verloren.

Freiheit und Demokratie waren die wichtigsten Forderungen der Bürgerinnen und Bürger, die 1989 auf den Straßen und in den Kirchen für Veränderungen eintraten. Man kann mit Stolz sagen: Dass Ost-Deutsche die einzige erfolgreiche Revolution in Deutschland vollbracht haben. Das auch noch auf friedliche Art und Weise. Ein Regime wurde gestürzt und das Recht auf Freiheit und Demokratie durchgesetzt. In der Ausstellung, die am heutigen Tage hier an diesem besonderen authentischen Ort eröffnet wird, werden die Erinnerungen an diese bewegende Zeit 1989/1990 wieder wachgerufen, die friedliche Revolution, die überraschende Grenzöffnung und der Mauerfall, die Wiedervereinigung.

Diese Ereignisse sind Meilensteine in der deutschen und europäischen Geschichte, derer es sich zu erinnern gilt. Sie sind Anlass zur Dankbarkeit gegenüber den mutigen Bürgern der DDR, aber auch den Staatsmännern wie George Bush, Michail Gorbatschow, aber insbesondere Helmut Kohl, die mit politischer Weitsicht und Klugheit die Wiedervereinigung ermöglicht haben.

Die Bundesregierung hat die Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihre Überwindung deutlich verstärkt. Orte wie die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn leisten hierfür einen wichtigen Beitrag. Ihre Ausstellungen und Veranstaltungen mit Zeitzeugen, aber auch durch die Möglichkeit, den authentischen Ort selbst wirken zu lassen, schaffen gerade für die jüngere Generation Erlebnisse, die geeignet sind, sich in den Erfahrungshorizont der älteren Generation hineinzuversetzen.

Lassen Sie uns also entgegen der Aussage Mahatma Gandhis aus der Geschichte lernen.

Ich wünsche der Gedenkstätte, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weiterhin Erfolg bei ihrer Arbeit und möglichst viele Besucher der Wanderausstellung, die wir heute eröffnen.